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Fünf Fragen vom Präsidenten. Was Selenskyj von den Ukrainern wissen will

Am 13. Oktober hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft die Ukrainer aufgerufen, an den am 25. Oktober stattfindenden Kommunalwahlen teilzunehmen. Gleichzeitig kündigte er für denselben Tag überraschend eine landesweite Befragung an. Er bat die Ukrainer, fünf Fragen zu beantworten, aber welche, sagte er nicht gleich. Die Fragen wurden in den letzten Tagen nach und nach veröffentlicht. Diese Initiative rief bei Selenskyjs Gegnern Kritik hervor und löste gemischte Reaktionen in der Gesellschaft und in Fachkreisen aus. Sie betreffen Verfahrensfragen und rechtliche Aspekte. Auch der Inhalt der Fragen sorgt für eine lebhafte Diskussion. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Welche Fragen stellt der Präsident? Nach Selenskyjs Videobotschaft erschien auf der Website des Präsidenten eine Erklärung. Demnach handelt es sich nicht um ein Referendum und die Befragung wird keine rechtlichen Konsequenzen haben. Die Abstimmung soll per “Stimmzettel” in der Nähe der Wahllokale durchgeführt werden und die Teilnahme ist freiwillig. Derzeit sind fünf folgende Fragen bekannt.

  1. Unterstützen Sie die Idee einer lebenslangen Haftstrafe wegen Korruption in besonders großem Ausmaß?
  2. Unterstützen Sie die Schaffung einer freien Wirtschaftszone in den Regionen Donezk und Luhansk?
  3. Unterstützen Sie die Reduzierung der Zahl der Abgeordneten auf 300?
  4. Unterstützen Sie die Legalisierung von Cannabis für medizinische Zwecke zur Linderung von Schmerzen bei schwerkranken Patienten?
  5. Soll die Ukraine die Frage einer Anwendung der im Budapester Memorandum festgelegten Sicherheitsgarantien auf internationaler Ebene zur Wiederherstellung ihrer staatlichen Souveränität und territorialen Integrität aufwerfen?

Ferner rief Selenskyj die Ukrainer auf, weitere Fragen, die sie interessieren, vorzuschlagen. “Dir gefallen nicht alle fünf Fragen? Okay. Finde dieses Video auf offiziellen Webseiten und schreibe in die Kommentare, was du als ukrainischer Staatsbürger möchtest”, so der Präsident in einer Videobotschaft. Dabei nannte er selbst einige mögliche Fragen wie die Legalisierung von Waffen, die Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft, die Schaffung einer parlamentarischen Republik und vieles mehr. “Schreib, welche Themen in die Befragung aufgenommen werden sollen”, betonte Selenskyj.

“Wahre Demokratie ohne rechtliche Konsequenzen.” Das Büro des Präsidenten gibt zu, dass die “Abstimmung” über die fünf Fragen keine direkten rechtlichen Konsequenzen haben wird. Sie unterscheide sich in ihrer direkten verfassungsrechtlichen Definition von einem Referendum.

“Die Notwendigkeit dieser Form der direkten Demokratie beruht auf der Tatsache, dass der Inhalt der Politik im Staat vom Volk bestimmt werden sollte, und nicht nur von denjenigen, die über genügend Einfluss auf Medien und Geld verfügen, um die öffentliche Meinung in ihrem persönlichen Interesse zu manipulieren”, heißt es in einer Mitteilung des Präsidialamts. Der Staat wolle “seine Bürger hören und die Grundbedürfnisse der Gesellschaft verstehen”. So funktioniere wahre Demokratie.

Laut Gesetzen ist dies kein Referendum. Das ukrainische Recht sieht entsprechende Befragungen unter Beteiligung von Regierungsvertretern nicht vor. Mehr noch, Artikel 19 der Verfassung der Ukraine verbietet ausdrücklich, staatliche Organe und lokale Regierungen zur Teilnahme an Aktivitäten zu zwingen, die nicht gesetzlich festgeschrieben sind. Laut Olha Ajwasowska, Leiterin des zivilgesellschaftlichen Netzwerks “Opora”, ist es sogar strengstens verboten, Umfragen in Wahllokalen zu organisieren und Vertreter der Wahlkommissionen dazu einzubeziehen.

Soziologen: “Das ist keine Umfrage.” Der Politikexperte der Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen”, Andrij Sucharyn, und der stellvertretende Direktor des Kiewer Rasumkow-Forschungszentrums, Mychajlo Mischtschenko, sind sich einig, dass die Initiative des Präsidenten eher eine Imagekampagne ist und weniger damit zu tun hat, etwas über die Meinung der Ukrainer zu bestimmten Fragen zu erfahren.

Dafür würde es genügen, stichprobenartig 2000 Ukrainer zu befragen, so Mischtschenko. Das wäre sogar viel kostengünstiger. “Hier geht es weder um Forschungszwecke noch um das Verständnis dessen, was die Gesellschaft will. Man will die öffentliche Meinung manipulieren und seine Wähler, also die der Partei ‘Diener des Volkes’, für die Wahlen gewinnen”, meint Sucharyn. Ihm zufolge muss eine landesweite Umfrage alle Bevölkerungsgruppen – die erwachsene Bevölkerung verschiedener Regionen, Geschlechter, Altersgruppen usw. – einbeziehen. Bei einer solchen Auswahl würden sich Soziologen eigentlich auf Daten des staatlichen Statistikamts stützen. 

Die Initiative des Präsidenten zur Befragung der Bevölkerung wird nach Ansicht der Soziologen nur die Meinung derer widerspiegeln, die am Wahltag zur Wahl erscheinen – also nur der aktivsten Bürger. Die Befragung könnte wie eine Nachwahlbefragung ablaufen, wo jeder 12. oder 15. Wähler in ausgewählten Wahllokalen befragt wird, oder als Befragung jedes Wählers in jedem Wahllokal.

Kritik am Inhalt der Fragen. Eine Befragung, die Kriterien einer Umfrage oder eines Referendums formal nicht erfüllt, ist auch in Bezug auf den Wortlaut der Fragen umstritten. Die erste Frage über eine lebenslange Haftstrafe für Korruption ist populistisch. Es ist klar, dass unter Bedingungen eines nicht reformierten Justizsystems, wo Strafen für Korruption unrealistisch sind, es Nonsens ist, überhaupt nach einer Erhöhung des Strafmaßes zu fragen.

Unklar sind auch die Gründe für die Frage, in der es um die Reduzierung der Zahl der Abgeordneten geht. Das ukrainische Parlament hat derzeit 450 Sitze. Die Gesetzesvorlage zur Reduzierung der Zahl auf 300 wurde von Selenskyj selbst initiiert. Der Entwurf wurde bereits in erster Lesung angenommen.

Was die Legalisierung von Cannabis für medizinische Zwecke angeht, so ist dies eine Entscheidung, die die Gesellschaft unbedingt braucht. Entsprechende Pläne hatte bereit im Oktober 2019 die ehemalige Gesundheitsministerin Sorjana Skalezka angedeutet. Von den Abgeordneten hieß es damals, die Gesellschaft unterstütze die Notwendigkeit, Marihuana zur Behandlung schwerkranker Patienten zu legalisieren. Der Abgeordnete der Partei “Diener des Volkes”, Nikita Poturajew, behauptete, auch die Mehrheit der Abgeordneten befürworte eine “Legalisierung”. Doch nach wie vor liegt keine entsprechende Gesetzesvorlage vor, und der Parlamentspräsident Dmytro Rasumkow erklärte unterdessen, die ukrainische Gesellschaft sei nicht bereit, Marihuana, insbesondere für medizinische Zwecke, zu legalisieren.

Die Frage zum Budapester Memorandum hat ebenfalls für Missverständnis gesorgt. Walerij Tschalyj, ehemaliger ukrainischer Botschafter in den Vereinigten Staaten, sagte dazu: “Es ist klar, dass das Ziel darin besteht, die Umsetzung dieses Abkommens durch ‘Unterstützung durch die Bevölkerung’ zu stärken. Aber die Frage nach einer Bestätigung des Rechts des Staates auf die Anwendung eines von der Ukraine selbst ordnungsgemäß abgeschlossenen internationalen Rechtsdokuments stärkt nicht unsere Position, sondern schwächt sie – schon jetzt, unabhängig davon, wie alles ausgeht. Außerdem: Was ist, wenn die Antwort plötzlich ‘Nein lautet? Oder wird eine solche Option a priori gar nicht erst in Betracht gezogen? Man kann den nötigen Mechanismus oder das bestehende Abkommen anwenden – man kann es einfach tun und sich nicht mit fragwürdigen Innovationen befassen. Ganz geschweige von der Notwendigkeit einer professionellen Prüfung des Textes, bevor man an die Öffentlichkeit geht.”

Mobilisierung junger Wähler. Angesichts der unklaren rechtlichen Aspekte der Befragung und ihres fraglichen soziologischen Werts, kommt die Vermutung auf, es könnte sich nur um Wahltaktik handeln, um junge Menschen für Wahlen zu gewinnen. Bekanntlich gehen junge Ukrainer nicht gerne zur Wahl. Eine Umfrage des Instituts “Rating” im Oktober hat gezeigt, dass die Bereitschaft zur Wahl zu gehen, mit dem Alter der Befragten zunimmt. Bei den 18- bis 29-Jährigen sind es rund 43% und bei den 60-Jährigen und älteren etwa 70%.

Da die Partei “Diener des Volkes” bei jungen Menschen beliebter ist als bei älteren, versucht sie so ihr Wahlergebnis zu verbessern. Schließlich könnte eine Mobilisierung junger Menschen die Wahlbeteiligung erhöhen und der Regierungspartei zusätzliche Stimmen bringen. Mehreren Gesprächspartnern der Internetzeitung “Ukrajinska Prawda” zufolge wurde im Team des Präsidenten zugegeben, dass es sich bei der Befragung um eine “reine Mobilisierung junger Wähler” handelt. In den kommenden Wochen solle so auf die anstehenden Wahlen aufmerksam gemacht werden.