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Attacke auf Poroschenko: Begründeter Verdacht oder politische Verfolgung?

Letztes Jahr wurde der frühere ukrainische Präsident Petro Poroschenko mehrmals vom Staatlichen Ermittlungsbüro vorgeladen. Er kommt in 21 völlig unterschiedlichen Verfahren vor, die im vergangenen Jahr eröffnet wurden. Diese Woche spitzte sich die Situation zu. Die Generalstaatsanwaltschaft und das Ermittlungsbüro erklärten, Poroschenko – heute Abgeordneter und Vorsitzender der Partei “Europäische Solidarität” – gelte in einem dieser Fälle als Verdächtiger und ihm drohe eine Festnahme. Poroschenkos Anwälte bestreiten dies. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Vom Zeugen zum Verdächtigen. Am 10. Juni kamen Petro Poroschenko und seine Anwälte zum Staatlichen Ermittlungsbüro, wo er um 11 Uhr zur Vernehmung erscheinen musste. Gleichzeitig ging aus verschiedenen Meldungen der Ermittler hervor, Poroschenko solle als Zeuge an ein und demselben Tag und zur selben Uhrzeit gleich in zwei völlig unterschiedlichen Verfahren vernommen werden.

Am 3. Juni hatte das Ermittlungsbüro erklärt, Poroschenko sei zum 10. Juni um 11.00 Uhr zur Vernehmung als Zeuge in einem Verfahren vorgeladen, bei dem es um die Untersuchung der sogenannten “Derkatsch-Aufnahmen” geht.

Am 19. Mai hatte der fraktionslose Parlamentsabgeordnete Andrij Derkatsch Mitschnitte von einem Gespräch zwischen Präsident Petro Poroschenko und dem damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden, der im Herbst bei den Präsidentschaftswahlen gegen Donald Trump antritt, sowie mit dem damaligen US-Außenminister John Kerry veröffentlicht. Unter anderem wird darin über eine Absetzung des damaligen ukrainischen Generalstaatsanwalts Viktor Schokin gesprochen, der damals gegen die Firma Burisma in der Ukraine ermittelte, für die Bidens Sohn Hunter tätig war. In einem anderen Mitschnitt sagt ein Mann mit einer ähnlichen Stimme wie Biden, Bedingung für Kreditgarantien in Höhe von einer Milliarde US-Dollar für die Ukraine sei eine Absetzung des Generalstaatsanwalts und der Regierung.

Am 4. Juni meldete das Ermittlungsbüro, das Kiewer Petschersk-Bezirksgericht habe entschieden, Poroschenko unter Zwang zu einer Vernehmung – ebenfalls am 10. Juni um 11 Uhr – als Zeugen in einem Verfahren zu bringen, mit dem geklärt werden solle, ob Poroschenko bei der Einfuhr von Kulturschätzen (darunter 43 Gemälde weltberühmter Künstler) den ukrainischen Zoll umgangen habe. 

Doch am 10. Juni fand nach Angaben von Poroschenkos Anwälten zum festgesetzten Termin keine Vernehmung statt: Wie sein Anwalt Ilja Nowikow sagte, sei der wahre Grund für den Termin der Versuch gewesen, Poroschenko mitzuteilen, dass er in einem ganz anderen Verfahren, nicht in den für den Termin genannten, als Verdächtiger geführt werde.

Wofür wird Poroschenko verdächtigt? Nach Angaben der Ermittler und der Generalstaatsanwaltschaft wird Poroschenko des Amtsmissbrauchs verdächtigt. Er soll als Präsident im Jahr 2018 mit einer eindeutig illegalen Anordnung den Leiter der ukrainischen Auslandsaufklärung, Jehor Boschok, dazu angehalten haben, seine Befugnisse zu überschreiten. Nowikow zufolge geht es bei dem Verdacht gegen Poroschenko darum, dass er vom Leiter der Auslandsaufklärung verlangt habe, Serhij Semotschko zu seinem Stellvertreter zu machen. “Diese Sache ist so formuliert, dass Poroschenko ihn angeblich in Umgehung aller Verfahren in diese Position berufen hat, um Geld zu stehlen, das heißt Semotschkos Gehalt. Das ist absurd. Der frühere Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka hat bereits gesagt, dass dies juristisch Trash ist. So ist es tatsächlich”, sagte der Anwalt.

Warum gibt es so viele Verfahren gegen Poroschenko? Die ukrainische Gesetzgebung bietet viele Möglichkeiten für Strafverfahren auf Antrag von Bürgern. Laut Gesetz beginnt ein Strafverfahren damit, dass der Ermittler oder Staatsanwalt Angaben in das Register der vorgerichtlichen Untersuchungen einträgt und nach Artikel 214 des Strafgesetzbuches unverzügliche Ermittlungen einleitet. Unterlässt ein Beamter dies, kann der Antragsteller ihn per Gerichtsbeschluss zwingen, die Angaben in das Register einzutragen.

Wer ist gegen Poroschenko? Medienberichten zufolge wurden die meisten der rund ein Dutzend Klagen gegen Poroschenko auf Grundlage von Aussagen nur einer Person eröffnet: Andrij Portnow, ehemaliger stellvertretender Chef der Präsidenten-Administration unter Viktor Janukowytsch. Portnow hielt sich während der Präsidentschaft von Poroschenko im Ausland auf, kehrte aber nach dem Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj in die Ukraine zurück.

Zudem werden die Verfahren gegen Poroschenko auf den jetzigen Präsidenten Selenskyj zurückgeführt, der wiederholt öffentlich die Hoffnung geäußert hatte, dass sein Amtsvorgänger wegen mutmaßlichen Amtsmissbrauchs ins Gefängnis kommt. Dabei geht es um die sogenannten “Derkatsch-Aufnahmen”.

Vor kurzem sagte Selenskyj in einem Interview für die Zeitung “Ukrajinska Prawda”: “Poroschenko wollte sich mit mir schon zu Beginn meiner Präsidentschaft treffen. Darin habe ich aber keinen Sinn gesehen, weil alles, was Poroschenko vorher gesagt hat, unwahr ist.” So habe Poroschenko ihn als Drogenabhängigen bezeichnet und seine Familie beleidigt. “Ich habe einen langen Weg mit dieser Lüge hinter mich gelegt. Nun ziehe ich Schlüsse daraus, was er als Präsident getan hat. Ich traue ihm nicht, ich glaube ihm nicht, er ist nicht mein Präsident”, betonte er. Gleichzeitig sagte er auf die Frage über eine politische Verfolgung: “Bin ich etwa das Gericht für ihn? Eine Person muss sitzen, wenn es Grund dafür gibt. Und ob es ihn gibt, stellen die Strafverfolgungsbehörden fest. Das Urteil spricht dann ein Gericht.”

Was ist los mit der Generalstaatsanwaltschaft? Am 9. Juni erklärte die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa, dass sie bereit sei, eine Verdachtsmitteilung an Poroschenko in den gegen ihn eröffneten Strafverfahren zu unterzeichnen, “wenn ausreichende Gründe und Beweise vorliegen”. In einem Interview für die Nachrichtenagentur “Ukrajinski Nowyny” sagte sie, gegen Poroschenko seien bereits 21 Verfahren eingeleitet – 17 vom früheren Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka und vier von ihr.

Auf die Frage, ob mit dem Stand vom 9. Juni genügend Gründe vorliegen würden, sagte Wenediktowa, es seien Untersuchungen im Gange, aber die Zeit werde kommen, “gesetzmäßige Verfahrens-Entscheidungen zu treffen, und sie werden unterschiedlich ausfallen”.

Ruslan Rjaboschapka, der über ein Dutzend Verfahren gegen Poroschenko eröffnet hatte, lehnte es jedoch ab, auch nur eine Verdachtsmitteilung an den früheren Präsidenten zu unterzeichnen. Er sagte, sie würden “keiner Kritik standhalten”. Nach Ansicht von Beobachtern war die Weigerung, an der Verfolgung von Poroschenko teilzunehmen, Grund dafür, warum Selenskyj veranlasste, Rjaboschapka durch Wenediktowa zu ersetzen.