Preis für Waffenruhe: Moskau will die prorussischen Rebellen im Donbass legitimieren

Am 9. September haben sich die Mitglieder der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk auf eine gemeinsame Inspektion nahe der Ortschaft Schumy unter Beteiligung eines Koordinators der OSZE verständigt. Der Vereinbarung waren Drohungen des Anführers der prorussischen Rebellen im Gebiet Donezk, Denis Puschilin, vorausgegangen, der Kiew beschuldigte, angeblich gegen die Waffenruhe bei Schumy verstoßen zu haben. Puschilin warnte, trotz der seit Juli geltenden Waffenruhe ukrainische Stellungen zu beschießen. Die Meldungen über die bevorstehende “Inspektion” ukrainischer Stellungen durch die prorussischen Rebellen löste in der ukrainischen Öffentlichkeit, bei Politikern und dem Militär heftige Kritik aus. Später wurde bekannt, dass die Inspektion abgesagt wurde. Danach begannen die von Russland unterstützten bewaffneten Verbände am 10. September um 14.15 Uhr auf ukrainische Stellungen in der Nähe von Schumy zu schießen, wo an eine gemeinsame Inspektion hätte stattfinden sollen. Was passiert an der Trennlinie und warum sind solche Inspektionen für die Ukraine gefährlich? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Vorwürfe der prorussischen Rebellen. In der vergangenen Woche hat der Anführer der sogenannten “Volksrepublik Donezk”, Denis Puschilin, wiederholt damit gedroht, auf ukrainische Stellungen in der Nähe von Schumy bei Horliwka zu schießen. Er behauptete, das ukrainische Militär habe dort angeblich neue Stellungen eingerichtet und damit die Waffenruhe verletzt. In ihrem regulären Bericht widerlegte die OSZE-Beobachtungsmission jedoch, dass das ukrainische Militär neue Positionen eingenommen habe. Offenbar hat Puschilin einfach gelogen.

Entscheidung der Trilateralen Kontaktgruppe. Als Reaktion auf die Vorwürfe erklärte sich die ukrainische Seite am 9. September bei einem Treffen der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk bereit, den prorussischen Rebellen in Anwesenheit der OSZE eine “Inspektion” der ukrainischen Stellungen zu ermöglichen – der Einhaltung der Waffenruhe willen. 

Dazu sagte der Leiter der ukrainischen Delegation in Minsk, der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk: “Der heutige Tag gibt uns Hoffnung, dass die Waffenruhe weiterhin von allen Seiten eingehalten wird. Zu diesem Zweck wird die ukrainische Seite alle Mechanismen sowohl innerhalb der Trilateralen Kontaktgruppe als auch innerhalb des Normandie-Formats nutzen, um das Leben ukrainischer Soldaten und Zivilisten zu bewahren. Wir bleiben dem Friedensprozess und der Umsetzung der erzielten Vereinbarungen voll und ganz verpflichtet.”

Position des ukrainischen Präsidenten. Das Büro von Wolodymyr Selenskyj trat in seinen Erklärungen ebenfalls für eine “Inspektion” ein. Eine “äußerst begrenzte Anwesenheit” der prorussischen Rebellen würde ein weiteres Argument dafür liefern, dass “die Ukraine im Recht ist”, hieß es aus dem Präsidialamt. Dem Inspektionsteam sollten Vertreter der ukrainischen Seite des Gemeinsamen Kontroll- und Koordinierungszentrums zur Überwachung der Waffenruhe, Vertreter der OSZE und ein “General” der “Volksrepublik Donezk” und, wie die prorussischen Rebellen selbst erklärten, auch ihr Vertreter im Gemeinsamen Kontroll- und Koordinierungszentrum angehören.

Das Büro des Präsidenten der Ukraine behauptete, dass eine solche Inspektion nichts Neues sei und führte als Beispiel das Gemeinsame Kontroll- und Koordinierungszentrum an. “Wenn jemand der OSZE nicht traut, dann soll er die Wahrheit mit eigenen Augen sehen. Wenn jemand den möglichen Mechanismus einer solchen Inspektion nicht versteht, empfehlen wir, sich an die Geschichte des Gemeinsamen Kontroll- und Koordinierungszentrums zu erinnern”, so das Präsidialamt.

Das Problem mit der Inspektion. Problematisch war, dass nur ukrainische Stellungen inspiziert werden sollten. Niemand lud ukrainische Militärs zu den Stellungen der prorussischen Rebellen ein. “Wenn eine solche Inspektion bilateral gewesen wäre und unsere Vertreter auch die Stellungen des Feindes hätten inspizieren können, dann bräuchten wir uns keine Sorgen zu machen. Aber es geht nur darum, Lärm zu machen. Und das ist seltsam, denn seitens unseres Kommandos hieß es auch, dass die Rebellen neue Befestigungen und Unterstände bauen. Es wäre logisch, wenn unsere Vertreter diese Stellungen auch zusammen mit der OSZE inspizieren würden”, sagte der aus Donezk stammende Blogger Denys Kasanskyj, der ebenfalls im Namen der Ukraine an den Gesprächen in Minsk teilnimmt.

Das Gemeinsame Kontroll- und Koordinierungszentrum bestand von Herbst 2014 bis Ende 2017. Es wurde auf Initiative Russlands gegründet und umfasste sowohl ukrainische als auch russische Offiziere. Ende 2017 verließen die Russen das Zentrum und de jure gab es kein “Gemeinsames Kontroll- und Koordinierungszentrum der Volksrepublik Donezk oder Luhansk”.

“Inspektion” ein gefährlicher Präzedenzfall im Interesse Russlands. Abgesehen davon, dass nur eine Seite inspiziert werden sollte, nämlich die ukrainische, war die geplante Aktion genau das, was Russland seit Beginn des russisch-ukrainischen Krieges erreichen wollte. Moskau will, dass Kiew direkt mit den prorussischen Rebellen verhandelt, und Russland – angeblich keine Konfliktpartei, die den Krieg ausgelöst hat – nur Vermittler ist. Russland versucht, die Rolle eines Schiedsrichters in Minsk einzunehmen, damit die prorussischen Rebellen der sogenannten “Volksrepubliken” in den Vordergrund treten, die in Minsk nie Stimmrecht hatten und nur stille Beobachter waren.

Legitimierung der prorussischen Rebellen. “Das ist ein sehr negatives und riskantes Signal. Ist dies die Antwort auf die Frage, in welchem ​​Format das Gemeinsame Kontroll- und Koordinierungszentrum  funktionieren sollte? Denn anstatt das russische Militär dorthin zurückzubringen, wollen sie ‘Vertreter der Volksrepubliken Donezk und Luhansk’ dort hineindrängen, die von niemandem überwacht werden”, meint Maria Solkina von der ukrainischen Stiftung “Demokratische Initiativen”.

Sollte eine Inspektion stattfinden, würde die Ukraine die prorussischen Rebellen legitimieren, so Solkina. Die Expertin warnt davor, dass die prorussischen Rebellen dann auch auf anderen Plattformen eine Legitimation erfahren könnten. “Diese Formel wird sich dann auf alle Sicherheitsfragen auswirken. Es soll eine Rahmenvereinbarung zur Minenräumung geben. Zwischen welchen Seiten? Wer wird die Sicherheit während der Minenräumung gewährleisten? Alle diese Sicherheits-Entscheidungen werden auf eine Legitimierung der Rebellen hinauslaufen. Und das war Russlands Taktik”, so Solkina.

Proteste in Kiew. Die geplante “Inspektion” sorgte für Empörung in der ukrainischen Gesellschaft. Dagegen protestierten sofort die Parteien “Stimme” und “Europäische Solidarität”. Sie forderten eine Absage der Inspektion ukrainischer Stellungen durch prorussische Rebellen. Darüber hinaus führten Aktivisten am 10. September eine Protestaktion vor dem Präsidialamt und in der Nähe der Residenz von Wolodymyr Selenskyj in Kontscha Saspa bei Kiew durch.

Oleksandr Pohrebyskyj, bekannter Veteran der Anti-Terror-Operation, und Myroslaw Haj, Koordinator der “Bewegung gegen Kapitulation” erklärten, die Menschen hätten sich vor dem Büro des Präsidenten zu einer Kundgebung versammelt, weil die Staatsmacht Vertreter der “Volksrepublik Donezk” und Militärs der Russischen Föderation Inspektionen von Stellungen der ukrainische Streitkräfte erlauben wollte. “Das hat die Menschen sehr empört”, so die Aktivisten. Sie betonten, Ziel ihrer Kundgebungen sei, Inspektionen an den Stellungen der ukrainischen Armee zu verhindern: “Wir möchten, dass das Büro des Präsidenten weiß, dass die Zivilgesellschaft und die Patrioten ein wirksamer Schutz vor einer Kapitulation sind. Wir werden nicht erlauben, mit dem Kreml und Putins Handlangern zu spielen, und Russlands Wünschen nachzugeben.”

Absage der Inspektion. Am 10. September gab das Büro des ukrainischen Präsidenten eine Erklärung ab, wonach die Inspektion abgesagt worden sei, weil die prorussischen Rebellen eine Reihe von Forderungen gestellt hätten, die “einander widersprechen, die Vereinbarung über die Waffenruhe verzerren und die OSZE als maßgeblichen und objektiven Vermittler demütigen”. “Wenn man in Donezk den Ort Schumy in der Region Donezk nicht auf der Europakarte finden kann, zu dem wir oft Beschwerden gehört haben, und jetzt zufällig neue Orte für eine Inspektion gesucht werden, dann können wir nur Mitleid haben”, so die Erklärung.