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Warum Ukrainer und Russen nicht ein Volk und die Russen kein indigenes Volk der Ukraine sind

In letzter Zeit äußert der russische Präsident Wladimir Putin immer öfter die These, Ukrainer und Russen seien ein Volk. Zudem empört er sich darüber, dass die Russen laut einem neuen ukrainischen Gesetz kein “indigenes Volk” der Ukraine sind. Das Gesetz wurde vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ins Parlament eingebracht. Er, aber auch das Außenministerium in Kiew, haben auf Putins Äußerungen scharf reagiert.

Was hat Putin gesagt? Im russischen Fernsehen sagte er jüngst wieder, Ukrainer und Russen seien ein Volk. Putin fügte hinzu, er betrachte die Ukraine nicht als unfreundliches Land. Ihm zufolge haben sich Ukrainer und Russen unter dem Einfluss äußerer Faktoren getrennt. Zudem kündigte er einen eigenen analytischen Artikel zur Geschichte der Ukraine und Russlands an.

Putin meint, in der Ukraine wie auch in Russland gebe es genug “Kleingeister”, die “das Land zerstören”, insbesondere indem sie die Opposition unterdrücken würden. So sagte er, dass der prorussische Politiker, Viktor Medwedtschuk, in der Ukraine “ungerechtfertigt” verfolgt werde. Putin bezeichnete Medwedtschuk, dessen Tochter Putins Patenkind ist, sogar als “ukrainischen Nationalisten”.

Selenskyjs Antwort auf Putins “Ein-Volk-These”. Der ukrainische Präsident wies Putins Äußerung, wonach Ukrainer und Russen “ein Volk” seien, zurück. Er betonte: “Wir sind definitiv nicht ein Volk. Ja, wir haben viel gemein. Wir haben zum Teil eine gemeinsame Geschichte, Erinnerung, Nachbarschaft und Verwandtschaft, den gemeinsamen Sieg über den Faschismus und allgemeine Tragödien… Aber ich wiederhole: Wir sind nicht ein Volk. Wenn wir ein Volk wären, würde in Moskau wahrscheinlich die Hrywnja im Umlauf sein und über der Staatsduma eine blau-gelbe Flagge wehen. Also, wir sind definitiv nicht ein Volk. Jeder von uns hat seinen eigenen Weg.”

Selenskyj zufolge sollten Ukrainer und Russen aber ein gemeinsames Ziel haben: Der Krieg im Donbass müsste beendet und die von Russland besetzten Gebiete an die Ukraine zurückgeben werden. “Man kann doch nicht von ‘einem Volk’ sprechen und dabei unser Territorium unverhohlen besetzen und das Blutvergießen im Donbass fortsetzen”, betonte er.

Der ukrainische Präsident sagte auch, Putins These über die “externe Steuerung” sei ein “reines Propaganda-Mantra”, das auf den einheimischen Verbraucher in Russland abziele. “Denn in der realen Welt werden alle Fragen rund um die Ukraine allein in der Ukraine und vom ukrainischen Staat gelöst, und schon gar nicht in einem Nachbarland und schon gar nicht durch ‘Vermittler im Verborgenen'”, so der Präsident.

Ihm zufolge hat der jüngste Gipfel zwischen den USA und Russland gezeigt, dass die Probleme der Ukraine “nicht einmal im Format einer direkten Kommunikation” zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten gelöst werden können. “In unserem Land ist übrigens der Grundsatz ‘Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine’ sehr beliebt. Genau so funktioniert unser Staat jetzt. Die Ereignisse auf dem globalen politischen Markt belegen dies nur. Außerdem findet am 12. Juli mein persönliches Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel statt. Und Ende Juli wird es direkte Gespräche mit US-Präsident Joe Biden geben”, so Selenskyj.

Reaktion des Außenministeriums der Ukraine. Für das Scheitern zwischen Ukrainern und Russen sei der russische Präsident Wladimir Putin verantwortlich, sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zu Putins Äußerungen über “ein Volk”. “Ukrainer und Russen sind zwei verschiedene Völker. Wir hätten im Geiste guter Nachbarschaft leben können, aber 2014 griff Russland die Ukraine an, tötete Tausende von Menschen und riss einen Teil des Territoriums an sich. Wladimir Putin, der die Aggression entfesselt hat, ist voll verantwortlich für das Scheitern zwischen Ukrainern und Russen”, schrieb der Minister auf Twitter.

Ukrainisches Gesetz über indigene Völker: Warum es Putin ärgert

Am 18. Mai, dem Tag des Gedenkens an die Opfer der Deportation der Krimtataren im Jahr 1944, hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem Parlament der Ukraine ein Gesetz über die indigenen Völker in der Ukraine vorgelegt, in dem die Russen nicht erwähnt werden.

Das vom Parlament gebilligte Gesetz definiert die Krimtataren, Karäer und Krimtschaken als indigene Völker der Ukraine. Sie sind Bevölkerungsgruppen, die dem Gesetz zufolge eine auf dem Territorium der Ukraine gebildete autochthone ethnische Gemeinschaft darstellen und Träger einer eigenständigen Sprache und Kultur sind, zudem traditionelle, soziale, kulturelle oder repräsentative Körperschaften besitzen und sich selbst als indigene Völker der Ukraine begreifen sowie kein Staatswesen außerhalb der Ukraine bilden. Das Gesetz besagt außerdem, dass die Festigung und Entwicklung der ukrainischen Nation, aber auch die Entwicklung der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität aller indigenen Völker der Ukraine gefördert werden soll.

Putin: “Das ist ein Schlag gegen das russische Volk.” Die Reaktion des russischen Staatschefs auf das Gesetz war unerwartet heftig. Wladimir Putin sagte Anfang Juni, der Gesetzentwurf über indigene Völker in der Ukraine sei “ein schwerer, schwerer Schlag gegen das gesamte russische Volk”. Er betonte, dass es “nicht nur falsch, sondern lächerlich und sinnlos ist, von den Russen als einem nicht-indigenen Volk zu sprechen, weil dies historischen Tatsachen widerspricht”. Putin sagte auch, dass “an sich die Einteilung in indigene, erstklassige Kategorien von Menschen, zweiter Klasse usw.” an die “Theorie und Praxis von Nazi-Deutschland” erinnere.

Außenministerium der Ukraine: Russen sind nationale Minderheit, kein indigenes Volk. Als Reaktion auf die Vorwürfe des russischen Präsidenten sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba, dass der Gesetzentwurf “vollständig der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker und den einschlägigen Bestimmungen der Verfassung der Ukraine entspricht und nichts mit willkürlichen Auslegungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu tun hat.”

“Der Begriff ‘indigene Völker’ hat sich im Völkerrecht und in der Gesetzgebung vieler Länder etabliert. Insbesondere ist er in der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker von 2007 verankert. Der vom ukrainischen Präsidenten vorgelegte Gesetzentwurf setzt diese Normen des Völkerrechts tatsächlich in die nationale Gesetzgebung um”, sagte Dmytro Kuleba gegenüber “Interfax-Ukraine”. Kuleba wies auch darauf hin, dass die Verfassung der Ukraine die Gleichheit aller Bürger in der Ukraine unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft garantiert und die Verpflichtung des Staates zum Schutz indigener Völker und nationaler Minderheiten gesondert festlegt.

Für das ukrainische Außenministerium sind die Russen eine nationale Minderheit. “Daher entsprechen Äußerungen, wonach es durch das vorgeschlagene Gesetz über indigene Völker zu irgendeiner Unterdrückung kommt, nicht der Wirklichkeit. Die Ukraine hat nie die Rechte der russischen nationalen Minderheit eingeschränkt. Der Schutz und die Förderung des Gebrauchs des Ukrainischen als Staatssprache ist eine normale Entwicklung. Der Schutz des Menschenrechts, in der Ukraine auf Ukrainisch zu sprechen, kann per Definition keine Bedrohung für den Gebrauch anderer Sprachen darstellen”, betonte Kuleba.

Medschlis: Gesetz über indigene Völker wichtig für De-Okkupation der Krim. Im Gespräch mit “Radio Liberty” sagte der Vorsitzende des Medschlis der Krimtataren, Refat Tschubarow, Putin manipuliere bewusst mit den Begriffen, um das seit langem bekannte und wiederholt widerlegte russische propagandistische Narrativ über eine angebliche “Verfolgung” von Russen und Russischsprachiger zu verbreiten. Der Kreml will laut Tschubarow zudem mit dem Vorwurf, in der Ukraine würden auch Polen, Ungarn, Juden und andere Ethnien nicht als indigene Völker anerkannt, nur Zwietracht in der ukrainischen Gesellschaft säen.

Tschubarow meint, die Russen seien wegen des im August bevorstehenden Gipfeltreffens der Krim-Plattform nervös. Er erinnerte daran, dass Präsident Selenskyj in seiner Ansprache zum Gedenktag für die Opfer des Völkermords an den Krimtataren feststellte, dass die im März gebilligte “Strategie zur De-Okkupation und Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete Krim und Sewastopol” die Wiederherstellung und den Schutz der Rechte der Krimtataren als Priorität festlegt.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Rechte indigener Völker werde die Ukraine künftig bei der Verteidigung ihres Rechts auf Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität auch das Völkerrecht über indigene Völker auf der Krim hinzuziehen können, so Tschubarow.