Auf Initiative der ukrainischen NGO “Euro-atlantischer Kurs” wurde in Kiew ein Runder Tisch zum Thema “Nord Stream 2: Reality Check. Gibt es ein Leben nach dem Tod?” organisiert. Laut der Vorsitzenden des Parlamentsausschusses für EU-Integration der Ukraine, Iwanna Klympusch-Zinzadse, die die Diskussion moderierte, laufen die Bemühungen um neue Varianten im Dialog mit Russland, einschließlich der Ostseepipeline Nord Stream 2, teilweise vor dem Hintergrund einer Verwässerung der ukrainischen Position. Diese sei nicht mehr klar und wertebasiert. “Wir haben den moralischen Vorteil verloren, den wir seit 2014 hatten”, sagte sie.
Klympusch-Zinzadse ist überzeugt, dass die Ukraine im Hinblick auf eine mögliche Fertigstellung und Inbetriebnahme von Nord Stream 2 eine echte Strategie braucht, die die wichtigste Komponente, nämlich Sicherheit, aber auch wirtschaftliche und technische Komponenten einschließen wird. “Noch fehlt eine solche Schritt-für-Schritt-Strategie. Die Ukraine sollte keinen wirtschaftlichen Kompensationen zustimmen. Dies ist eine Frage unseres Überlebens. Wenn wir über etwas sprechen, dann nur über etwas ganz Konkretes, über greifbare Dinge im Bereich der Sicherheit”, sagte Klympusch-Zinzadse. Ihr zufolge werden die ukrainischen Argumente besser gehört, wenn die Ukraine echte Reformen fortsetzt.
Dieser Meinung ist auch Matthew Bryza, ehemaliger US-Botschafter und Senior Fellow am Global Energy, Eurasia and Turkey Center des Atlantic Council. Er sagte: “Ohne Reformen im Energiebereich wird es für die Ukraine schwierig sein, die USA und Deutschland zu überzeugen.” Seiner Meinung nach sollte die Ukraine sich bemühen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Meinungsführer in Washington zu stehen, denn es sei inakzeptabel, Nord Stream 2 in einer Zeit zu bauen, wo der russische Präsident Wladimir Putin die ukrainische Halbinsel Krim und den Donbass besetzt hält. “Das ist ein schreckliches politisches Signal”, so Bryza.
Die Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2 gefährdet am stärksten die Sicherheit. Davon ist der ehemalige ukrainische Botschafter in den USA, Walerij Tschalyj, überzeugt. “Wir müssen auf diesem Punkt bestehen. Es ist unangemessen, über wirtschaftliche und finanzielle Kompensationen zu sprechen. Wir müssen eine einheitliche Position entwickeln, die nicht mit dem Wort ‘Kompensationen’ beginnen darf. Die Schlüsselposition ist die Sicherheit, nicht die Wirtschaft”, sagte er. Um das Sicherheitsdefizit an der Ostflanke der NATO zu beheben, müssten sehr schnelle Entscheidungen getroffen werden, wie etwa Hilfen für die Ukraine, einschließlich der Bereitstellung tödlicher Waffen, so Tschalyj.
Andrij Kobolew, ehemaliger Chef von Naftogaz Ukrainy, warnte davor, von einer Auslastung des ukrainischen Gas-Transportsystems mit Transit-Lieferungen aus Zentralasien zu sprechen. “Heute kann man noch Druck auf Russland ausüben, aber Putin kann alles sehr schnell stoppen. In Russland gibt es keine unabhängigen Unternehmen. Alles wird vom Kreml kontrolliert”, so Kobolew. Deshalb müsse man dafür kämpfen, dass Nord Stream 2 nicht fertiggestellt und auch nicht in Betrieb genommen wird. “Gewisse Kompensationen sollte man nur vom Westen verlangen. Russische Garantien sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen”, betonte Kobolew.
Auch der ehemalige ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin findet, die Ukraine müsse sich zur Aufgabe machen, keine Zusicherungen, sondern konkrete Garantien zu erhalten. “Wenn Nord Stream 2 fertiggestellt wird, was noch keine endgültige Tatsache ist, dann wird dies eine Etappe in Putins Strategie sein, den gesamten mitteleuropäischen Raum zu umgehen. Dies eröffnet Russland die Möglichkeit eines ‘Resets’ in einem Raum, der einst als ‘postsowjetisch’ bezeichnet wurde. Laut innerrussischen Informationen sollen 15 bis 20 Jahre lang Einnahmen aus Kohlenwasserstoffen in den russischen Haushalt fließen. Dies ist der zeitliche Korridor, in dem Russland mittelfristig ein ‘Reset’ der Realität in seiner Umgebung unternehmen kann. Bei einem solchen ‘Reset’ ist unser Überleben zumindest innerhalb der derzeitigen Staatsgrenzen nicht garantiert”, warnte Klimkin.
Der Publizist Witalij Portnikow glaubt, dass Putin von Anfang an Umgehungs-Pipelines durch die Ostsee und das Schwarze Meer konzipiert hat, nur um das ukrainische Gas-Transportsystem zu zerstören. Und dies sei Teil eines Plans, die ukrainische Staatlichkeit zu beseitigen. “Es ist nicht mehr weit bis zu einem großen Krieg um die Wiederherstellung Russlands in seinen ehemaligen Grenzen. Das mag apokalyptisch klingen, aber auch 2014 glaubte niemand an eine russische Aggression. Glaubt es jetzt!”, betonte er. Zudem ist Portnikow überzeugt, dass Putin kurz davor steht, seinen Einfluss in der Ukraine wiederherzustellen. Schließlich bekomme Russland mit Nord Stream 2 zusätzliche Hebel zur Erpressung in die Hand, und das unter Bedingungen, wo die Ukraine aufgrund zusätzlicher Ausgaben für das Gas-Transportsystem mit ernsthaften wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert sein wird. Vor diesem Hintergrund, so der Journalist, könnten die Zustimmungswerte für politische Kräfte steigen, die eine Einigung mit Russland fordern.
Der Parlamentsabgeordnete der regierenden Partei “Diener des Volkes” und Leiter der Ständigen Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung der NATO, Jegor Tschernew, erinnerte seinerseits daran, dass die Russische Föderation unter dem Vorwand des Schutzes von Gaspipelines die Lage im Schwarzmeerraum destabilisiert. Er ist überzeugt, dass dasselbe in der Ostsee passieren wird.
“Euro-atlantischer Kurs” ist eine Nichtregierungsorganisation, die informieren und anregen will sowie Ideen erarbeitet und testet. Sie will bestehende Strategien und Praktiken verändern, Entwicklungen beschleunigen und die Ukraine auf ihrem euro-atlantischen Weg unterstützen.