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Warum die Ukraine immer noch nicht in der NATO ist: Wer ist schuld und was ist zu tun?

Der Kurs der Ukraine auf eine Vollmitgliedschaft in der NATO ist vor zwei Jahren in der Verfassung des Landes verankert worden. Und die Erlangung eines Aktionsplans zur Mitgliedschaft (MAP) ist ein Ziel, das in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Ukraine festgelegt ist. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte kürzlich in einem 15-minütigen Interview für die Sendung Axios des Senders HBO, die NATO-Mitgliedschaft sei die wichtigste Sicherheitsfrage der Ukraine. Selenskyj äußerte auch den Wunsch, dass die Ukraine und die Vereinigten Staaten “eine neue Etappe betreten und einen neuen Weg einschlagen”. Das ukrainische Staatsoberhaupt stellte folgende Frage an US-Präsident Joe Biden: “Warum sind wir immer noch nicht in der NATO?”

Im Zusammenhang mit dieser Erklärung hat das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) eine Diskussion zum Thema Ukraine-NATO veranstaltet. An ihr nahmen ukrainische Politiker und Experten sowie die kanadische Botschafterin in der Ukraine teil. Nachfolgend die wichtigsten Thesen der Diskussion:

In welcher Etappe befindet sich die Ukraine auf ihrem Weg zur NATO?

NATO-Mitgliedschaft strategisches Ziel der Ukraine. Walerij Tschalyj, Vorstandsvorsitzender des UCMC, betonte, das Ziel einer NATO-Mitgliedschaft sei heute faktisch die strategische geopolitische Ausrichtung der Ukraine. Die NATO sei als Schlüssel-Struktur zur Gewährleistung von Verteidigung und Sicherheit in Europa für die Ukraine Maßstab und nationale Aufgabe. “Die Verfassung definiert diese Strategie der Annäherung eindeutig und künftig, wenn die Ukraine bereit ist, auch die Mitgliedschaft in der NATO. Natürlich darf nicht vergessen werden, dass es auf diesem Weg viele Probleme gibt, die von der Ukraine als Hausaufgabe angegangen werden müssen”, sagte er.

Enhanced Opportunity Program (EOP) als letzter Schritt in Richtung MAP. Larisa Galazda, außerordentliche und bevollmächtigte Botschafterin Kanadas in der Ukraine, betonte, von der Aufnahme der Ukraine in das Enhanced Opportunities Program im Juni 2020 sei ein wichtiges Signal ausgegangen. Jetzt sei es sehr wichtig, dass die Ukraine diese Gelegenheit effektiv nutze. “Ich denke, die Ukraine muss zeigen, dass sie ihre ‘Hausaufgaben’ macht, dass sie Hindernisse für die NATO-Mitgliedschaft aus dem Weg räumt. […] Jetzt ist es an der Zeit zu sagen, was für eine enorme Arbeit geleistet wurde, um die NATO zu einem strategischen Ziel in der Verfassung der Ukraine zu verankern. Dies macht bewusst, wer die Ukraine ist und wohin sie will. Dies war ein riesiges Ereignis”, sagte sie.

Jegor Tschernjew, Abgeordneter im ukrainischen Parlament (Fraktion “Diener des Volkes”) und Mitglied des Interparlamentarischen Rates NATO-Ukraine, versicherte, dass die Regierung – was den Weg der Ukraine in Richtung NATO angeht – nicht auf der Stelle trete. “Kann man sich schneller bewegen? Ich denke, dass dies möglich wäre. Stehen wir auf der Stelle? Nein, überhaupt nicht. Die Aufnahme in das Enhanced Opportunities Program ist ein sehr gutes Zeichen dafür, dass wir nicht auf der Stelle treten, sondern uns mit den NATO-Mitgliedstaaten integrieren. Dies ist der letzte Schritt in Richtung MAP”, betonte er.

Welche Schritte muss die Ukraine unternehmen, um der Mitgliedschaft näher zu kommen?

Gesetzgebung und parlamentarische Zusammenarbeit. Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass die Gesetzgebungsarbeit und die parlamentarische Zusammenarbeit bei der Annäherung zur NATO-Mitgliedschaft besondere Aufmerksamkeit erfordern. Ruslan Stefantschuk, Abgeordneter im ukrainischen Parlament (Fraktion “Diener des Volkes”), erläuterte, diese Arbeit bestehe aus drei Hauptkomponenten: “Erstens die Zusammenarbeit zwischen dem Parlament der Ukraine und der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Zweitens der Gesetzgebungsprozess. Drittens die parlamentarische Kontrolle über die Arbeit der ukrainischen Exekutive was die Kriterien angeht, die das Bündnis gegenüber den NATO-Kandidaten aufstellt.”

“Weißbuch des ukrainischen Geheimdienstes”. Mariana Bezugla, Abgeordnete im ukrainischen Parlament (Fraktion “Diener des Volkes”) und Vorsitzende des Unterausschusses für die Umsetzung der Werte und Standards der NATO, internationale militärische Zusammenarbeit und Friedenssicherung, teilte mit, ihr Ausschusses habe sich zum Ziel gesetzt, einen ukrainischen Geheimdienst zu schaffen, der auf angemessenem Niveau in der Lage wäre, mit Partnern im euroatlantischen Raum zu interagieren und die ukrainische Staatlichkeit zu verteidigen. 

“Wissen und Informationen sind für das Land von entscheidender Bedeutung. Dies gilt insbesondere sowohl für die Kapazitäten der Geheimdienste als auch für die zivile demokratische Kontrolle. Eines der Elemente ist insbesondere das kürzlich vorgestellte Weißbuch des ukrainischen Geheimdienstes, ein Bericht an die Öffentlichkeit in einer Spannbreite, in der es natürlich nur möglich ist, ein solches spezifisches Thema offenzulegen. Trotzdem ist dies für den ukrainischen Staat beispiellos”, erklärte sie.

Nicht nur Verteidigung und Sicherheit. Ivanna Klympusch-Zinzadse, Abgeordnete der Partei “Europäische Solidarität” und ehemalige Ministerin für europäische und euroatlantische Integration der Ukraine, betonte ihrerseits, die euroatlantische Integration betreffe nicht nur Verteidigung und Sicherheit. Sie beinhaltet ihr zufolge auch demokratische Verfahren, Rechtsstaatlichkeit, eine wirksame Politik zur Korruptionsbekämpfung, den Schutz der Menschenrechte sowie von Gleichheit und Toleranz. “Die Pflichten eines Landes, das wirklich eine Mitgliedschaft in der Allianz anstrebt, sind viel breiter”, so Klympusch-Zinzadse.

Zusammenarbeit mit zögernden NATO-Mitgliedern. Andrij Sahorodnjuk, ehemaliger ukrainischer Verteidigungsminister (2019-2020), stellte fest, dass der MAP und die Erlangung der Mitgliedschaft politische Entscheidungen seien, die formal nicht an Standards gebunden seien. Die Ukraine müsse ihren Partnern jedoch nachweisen, dass sie Standards umgesetzt und dass die Behörden den Wunsch haben, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten Mitglied der NATO zu werden.

“Wir müssen mit den Ländern zusammenarbeiten, die noch nicht davon überzeugt sind, dass die Ukraine Mitglied der NATO werden sollte. Bei weitem nicht alle Länder, darunter Frankreich, unterstützen unser Bestreben nach einer Mitgliedschaft. Unsere Diplomaten müssen sich um sie kümmern und unsere Regierungsbeamten müssen an entsprechenden Entscheidungen arbeiten und sie durchsetzen. […] Es wäre auch gut, einen Botschafter bei der NATO zu haben. Wir haben dort schon eine ganze Weile keinen. Das ist ein Problem. […] Darüber hinaus ist die zivile Kontrolle wichtig. Solange wir keine zivile Kontrolle haben, bekommen wir keine NATO-Mitgliedschaft. Die Zivilgesellschaft, das Parlament und die Regierung müssen die Verteidigungskräfte kontrollieren”, erklärte er.

Die kanadische Botschafterin Larisa Galazda fügte hinzu, dass noch viel getan werden müsse. So müsse das Beschaffungswesens reformiert und Spielräume für Korruption beseitigt werden. Auch seien Elemente einer Privatisierung nötig. “Die Verbündeten beobachten diese Reform sehr genau. Es geht auch um demokratische Veränderungen. Dies betrifft das Verteidigungsministerium, die Institutionalisierung staatlicher Mechanismen, die ermöglichen würden, Transparenz und Rechenschaftspflicht in den Institution zu schaffen”, so Galazda.

Der Vorstandsvorsitzende des UCMC, Valery Chaly, ist der Ansicht, dass die Ukraine, um dem MAP näherzukommen, ihre westlichen Partner ständig daran erinnern sollte, dass sie an der Ostflanke der NATO bereits einen hohen Preis gezahlt habe und schon über 3000 Tote zu beklagen habe, die ihr Leben für die europäische Sicherheit gelassen hätten. “Wenn wir jetzt die Situation, die sich mit Russland ergeben hat, nicht ausnutzen, dann ist unklar, was in fünf Jahren passieren wird. Vielleicht werden wir dann auch nur darüber debattieren, was man einführen und umsetzen muss”, sagte er.

Wann bekommt die Ukraine den MAP und ist die Situation heute günstig dafür?

Ist 2021 ein realistisches Datum? Ende 2020 hatte der ukrainische Verteidigungsminister Andrij Taran erklärt, die Ukraine strebe an, den Aktionsplan zur NATO-Mitgliedschaft (MAP) beim nächsten Gipfel des Bündnisses im Jahr 2021 zu erhalten. Allerdings halten dies nicht alle Experten für realistisch.

“Ich denke, gerade jetzt gibt es ein gewisses Zeitfenster, um unseren Weg zur NATO zu beschleunigen. Die Welt ist in Bewegung, die geopolitische Situation entwickelt sich schnell, sowohl rund um die Ukraine als auch auf der anderen Seite des Atlantiks nach den Wahlen in den Vereinigten Staaten und nach der Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft. Ich denke, dass dieser Weg zur NATO heute entschiedenere Schritte erfordert”, sagte Walerij Tschalyj vom UCMC.

Aljona Hetmantschuk, Direktorin des ukrainischen Zentrums “Neues Europa”, meint hingegen, dass derzeit von einem besonderen Zeitfenster für die Ukraine keine Rede sein könne. “Letztes Jahr, nachdem wir ins Enhanced Opportunities Program aufgenommen wurden, schlug ich vor, uns, was die Erlangung des MAP angeht, am Jahr 2023 zu orientieren, um Zeit zu haben, diese Frage innerhalb der NATO in gewisser Weise zu entgiften, und um genug Zeit zu haben, mit unseren Partner zu sprechen. Leider ist das Thema MAP innerhalb der NATO nach wie vor toxisch”, sagte sie.

Ivanna Klympusch-Zinzadse merkte an, dass sich die Chancen der Ukraine erhöhen würden, wenn auf der Ebene der staatlichen Exekutive, vom Präsidenten der Ukraine bis hin zur Führung des Ministerkabinetts, klarer dargelegt würde, wohin sich der Staat bewegt, warum er gebraucht wird und was die Ukraine anzubieten hat. “Es gibt heute keine Informationskampagnen, die der Öffentlichkeit dies erläutern würden. Auch hier denke ich, dass dies eine gemeinsame Aufgabe für alle ist, die glauben, dass die Mitgliedschaft im Bündnis und die Mitgliedschaft in der EU der einzig akzeptable Weg für uns ist, uns weiterzuentwickeln. Dies ist eine Aufgabe sowohl für Parlamentarier als auch für die Zivilgesellschaft. Es sind aber auch gemeinsame Anstrengungen mit unseren Partnern nötig”, betonte sie.

Abschließend äußerte Walerij Tschalyj die Überzeugung, dass die Frage eines NATO-Beitritts und der Erlangung des MAP zu einem gemeinsamen Thema aller Zweige der ukrainischen Staatsmacht werden könnte, aber auch zu einer historischen Mission für den Präsidenten. Tschalyj glaubt, dass die Umstände für die Ukraine, was eine NATO-Mitgliedschaft angeht, sich in vier oder fünf Jahren schwieriger als heute erweisen könnten. Daher müsse man jetzt handeln.