Vor zwei Jahren wurde der Schauspieler Wolodymyr Selenskyj Präsident der Ukraine – ein Kandidat, der nichts mit Politik zu tun hatte. Experten bezeichneten die Präsidentschaftswahlen 2019 in Anspielung auf die früheren Maidan-Revolutionen in der Ukraine als einen “Wahl-Maidan”. Seitdem ist viel passiert. Obwohl Selenskyj nicht einmal die Hälfte seiner fünfjährigen Amtszeit hinter sich hat, hat er sich doch sehr verändert. Am 20. Mai 2021 gab Selenskyj seine jährliche Pressekonferenz, auf der diese Veränderungen deutlich wurden. Einzelheiten dazu vom Ukraine Crisis Media Center:
Von der “Friedenstaube” zum “Falken”
Frieden ist wohl das Wichtigste, was die Ukrainer vom neuen Präsidenten erwartet hatten. So mancher befürchtete jedoch, es könnte ein Frieden zu den Bedingungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin werden.
Gleich nach seinem Wahlsieg äußerte sich Selenskyj optimistisch über eine mögliche Einigung mit Putin und suchte ein persönliches Treffen mit dem russischen Staatschef. In den ersten Monaten der Präsidentschaft Selenskyjs versuchte die neue ukrainische Führung, Russland nicht als Aggressor zu bezeichnen, und sie drängte nicht besonders auf einen Beitritt der Ukraine zur NATO. Insgesamt zeigte sie Verhandlungsbereitschaft.
Die von Moskau geforderten Zugeständnisse waren jedoch für die Zivilgesellschaft in der Ukraine nicht akzeptabel. Und Russland selbst macht keine Zugeständnisse. Nach hunderten Stunden Verhandlungen in verschiedenen Formaten war das Ergebnis recht bescheiden: mehrere Gefangenenaustausche sowie eine Waffenruhe vom Sommer bis Winter 2020.
Als jedoch Russland im April 2021 beschloss, der Ukraine und der Welt mit einer groß angelegten Invasion zu drohen, änderte Selenskyj seine Haltung. Zwei Jahre nach dem Wahlsieg hält der ukrainische Präsident den Beitritt seines Landes zur NATO für den einzigen Weg, den Krieg Russland gegen die Ukraine zu beenden.
Die jetzige Staatsführung möchte noch vor Ende von Selenskyjs Amtszeit erreichen, dass die Ukraine den Membership Action Plan (MAP) von der NATO erhält. Ein Vertreter des ukrainischen Präsidenten beschrieb im Gespräch mit dem Sender “Hromadske” die Ziele so: “Den Krieg beenden, den Donbass und die Krim zurückholen, den MAP erhalten und einen normalen Dialog mit der EU führen.”
Auf seiner Pressekonferenz machte Selenskyj deutlich, der Schlüssel zur Lösung des Konflikts im Donbass liege im Kreml. “Wir sind in einem Schachspiel, in dem wir, obwohl wir weiß sind, von Anfang an nur halb so viele Figuren haben”, sagte er.
Gleichzeitig betonte Selenskyj, wie wichtig die geplante Krim-Plattform ist. “Russland fällt es sehr schwer, auf die Krim-Plattform zu reagieren und sie zu akzeptieren. Aber uns ist sehr wichtig, dass es nach sieben Jahren Krieg und illegaler Annexion der ukrainischen Halbinsel endlich Ergebnisse gibt. Ich bin froh, dass dies nicht irgendetwas ist, sondern wirklich die erste richtige Plattform für die De-Okkupation der Krim. Dies soll nicht nur ein Gipfel werden, auf dem wir deklarativ etwas unterzeichnen. Dort sollen die ersten Schritte für eine De-Okkupation erörtert werden. Zweitens werden wir ein ständiges Büro der Krim-Plattform eröffnen, mit Fachleuten wie Juristen und Ökonomen, die sich täglich mit den Problemen der besetzten Krim und den Problemen der Menschen befassen werden, die humanitäre Hilfe benötigen, darunter auch diejenigen, die in Gefängnissen sind, sowohl auf der Krim als auch in der Russischen Föderation.”
Von “Kolomojskyjs Marionette” zum “Kämpfer gegen Oligarchen”
Noch während des Wahlkampfs im Jahr 2019 wurde Selenskyj vorgeworfen, Verbindungen zum Oligarchen Ihor Kolomojskyj zu unterhalten, da dessen landesweiter TV-Sender “1+1” Selenskyjs Kandidatur medial unterstützte. Selenskyjs Wahlsieg verstärkte Kolomojskyjs Einfluss und er kehrte in die Ukraine zurück, nachdem er sie unter Präsident Petro Poroschenko verlassen hatte. Kolomojskyj begann mutige Interviews zu geben und deutete an, von nun an seien “Probleme” nur noch mit ihm zu lösen.
Doch ziemlich schnell trennten sich die Wege des neuen Präsidenten und des Oligarchen, vor allem als das sogenannte “Anti-Kolomojskyj-Gesetz” verabschiedet werden musste, ein Bankengesetz, das die Rückgabe verstaatlichter Banken an ihre ehemaligen Besitzer verhindert. Kolomojskyj war Besitzer der 2016 verstaatlichten PrivatBank. Das Gesetz galt auch als Bedingung für künftige IWF-Kredite. Selenskyj kam dazu persönlich ins Parlament und setzte sich für die erforderliche Stimmenzahl ein. Zudem gab es Kartellstrafen gegen Kolomojskyjs Unternehmen.
Auch die Sanktionen des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates gegen den Oligarchen Viktor Medwedtschuk und sein enges Umfeld kamen bei der Öffentlichkeit an. Selenskyj begann auf einer Welle der “De-Oligarchisierung” zu reiten.
Auf seiner Pressekonferenz teilte der ukrainische Präsident mit, es werde an einem speziellen Oligarchen-Gesetz gearbeitet: “Das Gesetz ist im Prinzip fertig geschrieben. Ich denke, es wird nächste Woche vorgestellt. Der Hauptinhalt und die Philosophie lautet, dass wir das große Business nicht erwürgen wollen. Aber wir wollen definitiv erwürgen, was man unter ‘oligarchischer Einflussnahme’ in unserem Land versteht. Es soll keinen Einfluss auf die Massenmedien geben, keinen Einfluss auf die Politik. Es darf keinen Einfluss auf Beamte geben.”
Sollte es aber eine solche Einflussnahme geben, dann würden diese Leute als “Oligarchen” eingestuft und in einem speziellen Register eingetragen, sagte Selenskyj und fügte hinzu: “Dann könnten dieses großen Unternehmen einen großen Teil ihres Vermögens im Ausland verlieren. Aber niemand will jemanden erwürgen. Alle wollen, dass die großen Unternehmen bleiben, auch als große Steuerzahler, dass sie ihre Geschäfte weiter ausbauen und Arbeitsplätze schaffen.”
Dem geplanten Gesetz zufolge sollen die betroffenen Unternehmer beziehungsweise Oligarchen nicht viel Zeit bekommen, ihre Einflussnahme zu beenden. Selenskyj zufolge sind die wichtigsten Kriterien, wann eine Person ins Oligarchen-Register geraten würde: “Einflussnahme auf die Medien in der einen oder anderen Form; Teilnahme am politischen Leben des Landes und Einflussnahme auf Abgeordnete, Beamte, Minister; die Summe des Vermögens.”
Von “neuen Gesichtern” zu “erfahrenen Managern”
Zu Beginn seiner Amtszeit stützte sich Selenskyj hauptsächlich auf “neue Gesichter” wie den ehemaligen Premierminister Oleksij Hontscharuk, mit dessen Arbeit der Präsident jedoch nicht zufrieden war. Hontscharuk war nur ein gutes halbes Jahr im Amt. Selenskyj klagte damals über “Personalmangel”.
Um diesen zu beheben, wurden Positionen in Ministerien und Behörden an “erfahrene Manager” vergeben. Doch die hatten nicht immer den besten Ruf. Bildungsminister Serhij Schkarlet verfolgte ein Plagiatskandal und der stellvertretende Leiter des Präsidialamts, Oleh Tatarow, war einst unter dem nach Russland geflohenen Präsidenten Viktor Janukowytsch stellvertretender Leiter der Ermittlungsabteilung im Innenministerium. Er soll sich damals gegen die Maidan-Demonstranten während der Revolution der Würde im Jahr 2013/14 gewandt haben. Doch Selenskyj bezeichnete Tatarow auf seiner Pressekonferenz als “professionellen Menschen” und betonte, es sei für ihn schwierig darauf zu reagieren, was Tatarow irgendwo gesagt habe. “Was ich gehört habe, sind Gerüchte, Beweise für diese Informationen liegen mir nicht vor. Bei uns arbeiten keine Personen, die der Ansicht sind, dass der Sturz von Janukowytsch ein Staatsstreich war. Ich habe noch nie solch prinzipielle Dinge von ihm gehört”, so Selenskyj über Tatarow.
Gleichzeitig gab Selenskyj auf der Pressekonferenz zu, dass es Fehler bei der Besetzung von Positionen gegeben habe: “Ich schäme mich wirklich für die Schritte einiger Leute, die in meiner Nähe sind oder waren. Ich denke, kleine Fehler muss man verzeihen und sie müssen korrigiert werden. Man muss Menschen eine zweite Chance geben und ich habe Menschen immer eine zweite Chance gegeben, manchmal sogar eine dritte. Ich habe das später auch schon bereut, das ist wahr. Das liegt in meiner Verantwortung.”
Selenskyj räumte auch ein, dass es nach wie vor Personalprobleme gibt. “Leider gibt es nicht viele starke Leute. Aber in der Partei ‘Diener des Volkes’ gibt es immer noch mehr davon als in jeder anderen Partei. Und ich bin froh, dass eine solche evolutionäre Säuberung des Parlaments stattfindet. Und das nächste Parlament wird noch sauberer sein.”
Von “nur für eine Amtszeit” zu “mit einer schaffen wir nicht alles”
Zu Beginn seiner politischen Karriere versicherte der derzeitige ukrainische Präsident, er strebe nur eine Amtszeit an. Später zeigte sich Selenskyj allerdings schon weniger kategorisch, weil eine Amtszeit einfach nicht reichen könnte. Die Versuchung, für eine weitere Amtszeit zu kandidieren, könnte sehr groß werden, da Selenskyjs Zustimmungswerte bei der Bevölkerung mit über 30% weiterhin hoch sind.
Auf seiner Pressekonferenz sagte er auf eine Frage zu einer möglichen zweiten Amtszeit: “Es scheint mir zu früh und unfair zu sein, darüber zu sprechen, weil nicht einmal die Hälfte der jetzigen Amtszeit vergangen ist. Ich glaube, wir werden noch viel schaffen. Es gibt viele Versprechen und ich möchte nicht, dass sie nur als Versprechen in die Geschichte eingehen.” Eine möglich Kandidatur für eine zweite Amtszeit werde von dem Wunsch der Öffentlichkeit abhängen, von dem, was versprochen und erreicht worden sei. “Es wird auch von meiner Familie abhängen. Sie nimmt neben der Ukraine in meinem Leben einen großen Platz ein”, so Selenskyj.