Halyna Hajewaja nach ihrer Rebellen-Gefangenschaft: “Keine Amnestie für diejenigen, die gekämpft und getötet haben”

Beim großen Gefangenenaustausch zwischen der ukrainischen Regierung und den sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” am 27. Dezember 2017 ist auch Halyna Hajewaja aus dem besetzten Teil des Donbass in das von Kiew kontrollierte Gebiet überstellt worden. Die Frau war seit 1980 als Krankenschwester in Dokutschajewsk tätig. Zwei Jahre musste sie unter der Herrschaft der sogenannten “Volksrepublik Donezk” (DNR) arbeiten. Ihre Familie – Kinder und Enkel – haben das von den prorussischen Rebellen besetzte Gebiet längst verlassen. Halyna Hajewaja musste bleiben, um ihre 80-jährige Mutter zu pflegen. Im Herbst 2016 wurde sie wegen “Spionage” für den Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) festgenommen und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Gefangen gehalten wurde sie im Kulturzentrum “Isolation”, das von den Rebellen 2014 besetzt wurde. Gegenüber der ukrainischen Zeitung “Glavred” berichtet sie über ihre Haft, die Präsenz russischer Militärs und das Leben in den besetzten Gebieten. Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) bringt eine verkürzte Übersetzung des Gesprächs.

Über die Zusammenarbeit mit dem SBU und die russische Präsenz im Donbass

Glavred: Haben Sie da daran gedacht, als die Ereignisse im Donbass begannen, die besetzten Gebiete zu verlassen?

Halyna Hajewaja: Meine Kinder sind natürlich gegangen. Aber ich konnte meine fast 80-jährige Mutter nicht verlassen. Und die Tante meines Mannes war allein, wir haben uns um sie gekümmert. Sie starb Ende 2015 und wir haben sie bestattet. Außerdem habe ich in einem Krankenhaus gearbeitet und ich verfügte über Informationen, die für die Ukraine nützlich waren.

Sie bestreiten also nicht, dass Sie den ukrainischen Behörden Informationen über die Lage in den besetzten Gebieten übermittelt haben?

Nein, natürlich nicht.

An wen genau auf ukrainischer Seite haben Sie Informationen weitergegeben?

An den SBU in der Stadt Wolnowacha, per Telefon und persönlich, als ich dorthin fuhr. Ich berichtete ihnen darüber, was sie interessierte. Ich hatte wirklich Zugang zu Informationen, die die Terroristen versteckt hielten. Bei uns wurden zum Beispiel Russen behandelt.

Russische Staatsbürger?

Ja. Das waren nicht einfache Staatsbürger. Das waren reguläre Militärs der russischen Armee. Ich erinnere mich sogar an einen Namen: Aleksandr Nabijew. Er kommt aus der Region Amur und ist Offizier. Der junge Mann hat ein Bein verloren. Er ging auf Erkundung und geriet in eine Sprengfalle. Die ganze Zeit machte er sich Sorgen, was er wohl seiner Mutter sagen würde, was er tun würde – er wollte doch in der Armee dienen. Er war 33 oder 34 Jahre alt, ein hübscher junger Mann. Man konnte gleich sehen, dass er nicht einer von diesen “DNR-Landstreichern” war, die in zerrissenen Socken, Gummilatschen oder Stiefeln umherlaufen. Er hatte eine Uniform, saubere Socken und ein schneeweißes Unterhemd… Was soll man da noch sagen.

Seine Mutter wusste nicht, wo ihr Sohn ist?

Sie wusste, dass er in der Armee dient, aber nicht, dass er im Donbass ist. Er war nicht der Einzige. Es gab dort reguläre Soldaten, aber ihnen wurden alle Dokumente weggenommen. Und wenn so ein Mann mit einer Verwundung zu uns kam, wurde ihm gesagt, dass er nicht mehr in der Armee dienen würde, da er seit gestern entlassen sei. Die Männer – ohne Bein oder Arm – schrien dann: “Wie? Ich bin nicht mehr in der Armee?” So war es dort üblich.

Sie haben in einer Entbindungsstation gearbeitet. Warum kamen Verwundete dorthin?

Wir waren nach wie vor eine Entbindungsstation. Aber abgesehen davon betrieben wir einen separaten Operationssaal, wo Anästhesisten tätig waren, die das gesamte Krankenhaus betreuten. Alles passierte vor unseren Augen. Während der aktiven Kampfphasen wurden fünf oder sechs Personen gleichzeitig hereingebracht. Alles schwere Fälle mit Amputationen. Sie wurden auch therapiert. Vor allem waren es Ortsansässige und Söldner, auch mit Alkohol- oder Drogenvergiftung. Unter ihnen waren Burjaten und Mordwinen.

Über den “Gerichtsprozess in der DNR” und die Haft

Wie wurden Sie “verhaftet”?

Ich wurde auf der Arbeit abgeholt. Es kamen zwei Männer angeblich vom “Ministerium für Staatssicherheit”. Früher waren sie einfach nichts. Sie haben nicht einmal eine Ausbildung, sie besuchen lediglich irgendeine “Polizeischule” vor Ort. Sie kamen am 14. Oktober 2016. Ich war ich ein Jahr und fast drei Monate in Gefangenschaft.

Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Spionage. Ich war “ein Spion eines feindlichen fremden Staates, der für die ukrainischen Streitkräfte in den vorübergehend von der ukrainischen Armee kontrollierten Städten Wolnowacha und Mariupol arbeitet”.

Wie lief der “Prozess” ab?

Ich war anwesend, auch diejenigen, die sich als Anwalt, Staatsanwalt und Richter bezeichneten. Es waren drei sogenannte Richter. Sie lasen selbst vor, was sie erfunden haben. Am Ende wurde ich gefragt: “Betrachten Sie sich als ukrainische Staatsbürgerin?”. Ich antwortete: “Natürlich”. Dann kam mehrfach die Frage: “Und gehört Donezk zur Ukraine?” Ich sagte immer: “Ja”. Auf die Nachfrage “Sicher?” sagte ich: “Ich bin mir sicher und bald werdet Ihr es auch sein.” Bei meinem Prozess waren Vertreter der UNO anwesend, das haben meine Kinder erreicht. Die Donezker Seite wollte gar nicht bestätigen, dass sie mich gefangen hält.

Können Sie etwas über die ehemalige Fabrik sagen, die erst zu einem Kulturzentrum und dann zu einem Gefängnis umfunktioniert wurde?

Es ist heute wie in einem richtigen Gefängnis. Die Räume sind wie Zellen ausgestattet. In Donezk gibt es mindestens fünf solcher Gefängnisse. Das sind kaputte ehemalige Fabriken, meist außerhalb der Stadt. In ihnen sitzen nicht nur Gefangene. In vielen Hangars steht auch viel Gerät. Aber es kam in den elf Monaten, in denen ich dort war, nicht zum Einsatz. Anfangs saßen dort etwa 20 Personen. Später mehr. Als ich wegfuhr, waren es 55. Von diesen waren 20 sozusagen unsere Ukrainer. Nur vier kamen in den Gefangenenaustausch: Ljoscha Holikow, Sascha Arbusow, Ljoscha Kuskow und ich.

UCMC: Das Zentrum für moderne Kultur “Isolation” wurde im Jahr 2010 in Donezk in einer ehemaligen Fabrik für Dämmstoffe eröffnet. Am 9. Juni 2014 wurde es von bewaffneten Vertretern der selbsternannten “Volksrepublik Donezk” besetzt. Daraufhin zog die Stiftung nach Kiew in eine Werft, wo sie ihre Kulturprojekte fortführt. Sie unterstützt sozial aktive Künstler und Agenten des Wandels in der Ukraine und arbeitet mit internationalen Kuratoren, Forschern und Kulturschaffenden zusammen.

Seit der Besetzung des Kulturzentrums in Donezk nutzt die sogenannte “DNR” die Räumlichkeiten als Gefängnis, aber auch als Ausbildungsort von Rebellen sowie als Waffen- und Munitionslager. Die sich dort befindlichen Kunstwerke wurden zerstört. Der Gründerin der Stiftung, Ljubow Mychajlowa, zufolge haben Gefangene berichtet, bei der Entladung von Munition und Waffen gefoltert worden zu sein.

War es in dem Fabrikgebäude im Winter kalt? 

Nein. Das Gebäude war an ein Büro angeschlossen. Es wurde beheizt und es gab sogar einen Boiler. Dennoch haben wir den Winter natürlich sehr schlecht überstanden. Wir hatten nur Matratzen, weder Bettwäsche noch Decken. Mein Mann konnte mir einen warmen Schlafrock übergeben, mit dem wir uns irgendwie bedecken konnten. Es gab auch keine Toiletten. Wir wurden nur am Morgen und am Abend rausgeholt. In der restliche Zeit musste man selbst zusehen… Im Frühjahr wurden alle Zellen renoviert und Toilettenschüsseln und Klimaanlagen eingebaut.

Über die Zukunft des Donbass

Wie kann die Ukraine die besetzten Gebiete zurückholen?

Zurzeit sehe ich keinen friedlichen Weg. Das geht nur mit Gewalt. Es gibt dort niemanden, mit dem man verhandeln kann. Sie alle sind es gewohnt, zu stehlen, einem alles zu nehmen und keinen ehrlichen Weg zu gehen. Niemand wird dort freiwillig etwas aufgeben.

Wahrscheinlich wartet man dort auf eine Amnestie…

Eine Amnestie darf es nicht für diejenigen geben, die gekämpft und getötet haben.
UCMC: Am 18. Januar 2018 hat das ukrainische Parlament mit 280 Stimmen das Gesetz zur Reintegration des Donbass verabschiedet. Darin wird Russland als Aggressor und Besatzer bezeichnet. Gemäß dem Gesetz müssen Personen, die an der bewaffneten Aggression oder an der Besatzungs-Verwaltung durch die Russische Föderation beteiligt gewesen waren, strafrechtlich verfolgt werden. Dies steht im Widerspruch zu Absatz 5 der Minsker Vereinbarungen, die eine Amnestie vorsehen. Dies hätte aber ein Gesetz erfordert, das verbietet, Personen im Zusammenhang mit den Ereignissen in Teilen der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk zu verfolgen und zu bestrafen.

Wie tief sitzt die “DNR” in den Köpfen der Menschen vor Ort? 

Der Teufel weiß es nur! Alle haben Angst. Alle leben in der Angst, “heute könnte ich und morgen die anderen dran sein” – wenn nicht seitens der “DNR”, dann seitens der Ukraine.