Selenskyjs Antrittsrede, Auflösung des Parlaments, Kolomojskyj zurück in der Ukraine und weitere Themen

Die Lage im Kampfgebiet im Osten der Ukraine

Bewaffnete Verbände der Russischen Föderation haben letzte Woche weiterhin gegen die Waffenruhe verstoßen und dabei Mörser vom Kaliber 120 und 82 mm eingesetzt, die durch die Minsker Vereinbarungen verboten sind. Der Feind beschoss die ukrainischen Verteidigungskräfte mit Waffen von Infanterie-Kampffahrzeugen, Panzerabwehr-Raketensystemen, Granatwerfern verschiedener Systeme, mit großkalibrigen Maschinengewehren und Kleinwaffen.


Was hat Präsident Selenskyj in seiner Antrittsrede gesagt?

Am 20. Mai 2019 hat in Kiew die Amtseinführung des neugewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj stattgefunden. Vor dem Parlament des Landes hielt er seine Antrittsrede. Hier die wichtigsten Punkte:

Jeder von uns ist Präsident. “Nach den Wahlen sagte mein sechsjähriger Sohn zu mir: ‘Papa, ich habe im Fernsehen gesehen, da sagen sie, dass Selenskyj Präsident ist. Also bin auch ich Präsident.’ Das war ein Scherz eines Kindes, doch jetzt ist das Realität. Denn jeder von uns ist Präsident, nicht nur die 73 Prozent, die für mich gestimmt haben, sondern alle 100 Prozent der Ukrainer. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung.”

“Das ist nicht mein, es ist unser gemeinsamer Sieg, und unsere gemeinsame Chance, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen. Nicht nur ich habe gerade einen Eid geleistet. Jeder von uns hat seine Hand auf die Verfassung gelegt und jeder von uns hat der Ukraine Treue geschworen.”

“Stellen Sie sich diese aufsehenerregenden Schlagzeilen vor: ‘Der Präsident zahlt keine Steuern. Der Präsident war betrunken am Steuer. Der Präsident stiehlt heimlich. Das macht doch jeder.’ Sie stimmen mir zu, dass so etwas eine Schande ist. Das ist was ich meine, wenn ich sage, dass jeder von uns Präsident ist. Von nun an ist jeder von uns dafür verantwortlich, was er bei sich selbst tun kann.”

Ein europäisches Land beginnt bei einem selbst. “Ja, wir haben uns für den Weg nach Europa entschieden, aber Europa ist nicht irgendwo da, Europa ist hier, und wenn Europa hier ist (Selenskyj zeigt mit seinem Zeigefinger auf seinen Kopf), dann werden wir in der Ukraine Europa haben. Das ist unser gemeinsamer Traum. Aber wir haben auch einen gemeinsamen Schmerz. Denn wir alle sterben im Donbass, jeden Tag verlieren wir jemanden von uns. Und wir alle sind Übersiedler – diejenigen, die ihr eigenes Zuhause verloren haben und diejenigen, die die Tür ihres Hauses für sie geöffnet haben – alle teilen diesen Schmerz. Und jeder von uns ist Gastarbeiter. Diejenigen, die sich nicht zu Hause, sondern in der Fremde verwirklichen. Wir sind alle Ukrainer, von Uschgorod bis Luhansk, von Tschernihiw bis Simferopol… Wir sind alle Ukrainer und wir müssen einig sein. Heute appelliere ich an alle Ukrainer in der Welt. Wir sind 65 Millionen, die das ukrainische Land hervorgebracht hat – in Europa, Asien, Amerika. Wir brauchen Euch sehr. Allen, die bereit sind, eine neue starke und erfolgreiche Ukraine aufzubauen, verleihe ich gerne die Staatsbürgerschaft!”

Gastarbeiter sollen nach Hause zurückkehren. “Ihr sollt in die Ukraine nicht zu Besuch kommen, sondern nach Hause. Wir warten auf Euch. Souvenirs braucht Ihr nicht mitzubringen. Bringt Euer Wissen und Eure Erfahrung mit. Skeptiker werden sagen, dass dies unmöglich ist. Aber vielleicht ist es gerade unsere nationale Idee, sich zusammenzutun und das Unmögliche möglich machen. Denkt an die isländische Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft, als ein Zahnarzt das schaffte, was keiner geglaubt hatte. Das ist auch unsere Chance. Wir müssen wie die Isländer im Fußball werden, wie die Japaner in der Technologie, wie die Israelis bei der Fähigkeit, ihr Land trotz aller Unstimmigkeiten zu verteidigen. Unsere erste Aufgabe ist, das Feuer im Donbass zu beenden…”

Verlust an Popularität. “Ich bin bereit, Einbußen bei meiner Popularität und bei meinen Umfragewerten hinzunehmen. Ich bin bereit, mein Amt zu verlieren, nur damit wir Frieden bekommen.”

“Ich wurde oft gefragt, zu was ich bereit bin, damit die Waffen schweigen. Seltsame Frage. Was seid Ihr, Ukrainer, bereit, für das Lebens euch nahestehender Menschen zu tun? Ich kann versichern: Damit keine Helden von uns mehr sterben, bin ich zu allem bereit. Ich bin bereit, Umfragewerte, Popularität und mein Amt zu verlieren, nur um Frieden zu bekommen – aber ohne unser Territorium zu verlieren. Niemals! Die Geschichte ist ungerecht. Wir haben diesen Krieg nicht begonnen, aber wir müssen ihn beenden. Wir sind zu einem Dialog bereit, aber ich bin sicher, dass der erste Schritt zum Beginn dieses Dialogs die Rückkehr der ukrainischen Kriegsgefangenen sein wird.”

Rückkehr von Gebieten. “Unsere nächste Herausforderung ist die Rückkehr der verlorenen Gebiete. Ehrlich gesagt, denke ich, dass dies nicht ganz richtig formuliert ist, denn wir können ja nicht etwas zurückholen, was sowieso laut Recht uns gehört. Die Krim und der Donbass sind unser Land. Ich bin mir sicher, dass die Menschen dort uns hören, sie müssen wieder zu ihrem eigenen Bewusstsein zurückfinden. Wir sind alle Ukrainer. Ukrainer – das ist nicht im Pass. Ukrainer – das ist im Herzen. Das weiß ich genau. Ich bin bereit, die Ukraine, unsere Helden, zu verteidigen. Dort, wo die Armee nicht das Gefühl hat, dass die Staatsmacht sie achtet, gibt keine starke Armee. Das bedeutet eine würdige und stabile finanzielle Versorgung, Unterkunft und gesetzlichen Urlaub. Von NATO-Standards sollte man nicht nur reden, sondern diese Standards auch schaffen. Abgesehen vom Krieg gibt es natürlich noch viele Probleme, die die Ukrainer unglücklich machen: Tarife, Löhne und Renten sowie das Gesundheitswesen und die Straßen, die nur in jemandes Fantasie saniert werden.”

Zitat von Ronald Reagan. “Gestatten Sie mir jetzt, einen amerikanischen Schauspieler zu zitieren, der ein klasse amerikanischer Präsident war: ‘Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems. Sie ist das Problem.’ Dies ist nur ein Zitat. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht unsere Regierung, die nur mit den Achseln zuckt. Sie können ein Blatt und einen Stift nehmen und Ihre Posten für diejenigen räumen, die an die nächste Generation denken und nicht an die nächsten Wahlen. Meine Wahl hat gezeigt, dass die Bürger erfahrene System-Politiker satt haben. Wir werden ein Land mit anderen Möglichkeiten aufbauen, wo alle vor dem Gesetz gleich sind und in dem es ehrliche, transparente Spielregeln gibt. Deswegen müssen Menschen her, die dem Volk dienen.”

“Ich möchte wirklich, dass in Ihren Amtsstuben keine Porträts von mir hängen, denn der Präsident ist keine Ikone. Hängen Sie dort Bilder Ihrer Kinder auf und schauen Sie sich sie vor jeder Entscheidung an.”

Auflösung des Parlaments. “Ich kann viel sprechen, aber die Ukrainer wollen keine Worte, sondern Taten sehen. Sehr geehrte Abgeordnete, Sie haben meine Amtseinführung auf einen Montag, einen Werktag gelegt. Darin sehe ich einen Vorteil. Das bedeutet, dass es heute Abend keine Party geben wird und wir arbeiten müssen. Deshalb bitte ich Sie, das Gesetz über die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität, über die strafrechtliche Verantwortung für illegale Bereicherung und das leidvolle Wahlgesetz mit offenen Listen zu verabschieden. Ich bitte um die Entlassung des Chefs des Sicherheitsdienstes der Ukraine, des Generalstaatsanwalts und des Verteidigungsministers. Aber das ist bei weitem nicht alles, was Sie tun können. Sie haben dafür zwei Monate Zeit. Macht das und hängt Euch eine Medaille um. Das sind keine schlechten Punkte für vorgezogene Parlamentswahlen. Ich löse den Obersten Rat der 8. Legislaturperiode auf. Ehre der Ukraine!”

“Ich danke Ihnen. Zum Schluss ganz kurz. Verehrtes Volk! Im Laufe meines Lebens habe ich versucht, alles zu tun, damit die Ukrainer lachen. Das war nicht nur mein Job, es war meine Mission. In den nächsten fünf Jahren werde ich alles tun, damit Ihr nicht weint.”


Gibt es eine Grundlage für vorgezogene Parlamentswahlen?

Zerfall der Koalition. Am 17. Mai, dem letzten Sitzungstag des Parlaments vor der Amtseinführung von Wolodymyr Selenskyj, erklärten die Abgeordneten, die Koalition “Europäische Ukraine”, die 2014 nach den Parlamentswahlen gegründet worden war, seizerbrochen. Seit 2016 gehörten ihr nur noch zwei Fraktionen an, der “Block Petro Poroschenko” und die “Volksfront”, die nun dasBündnis verlassen hat. Somit gibt es derzeit im Parlament keine Mehrheit. Parlamentspräsident Andrij Parubij erklärte, die Koalition habe aufgehört zu existieren.

Laut Verfassung haben die Abgeordneten nun einen Monat Zeit, um sich zu einer neuen Mehrheit zusammenzuschließen. Diese Frist endet am 17. Juni. Laut Gesetz hat der Präsident das Recht, das Parlament aufzulösen, wenn innerhalb von 30 Tagen keine Koalition gebildet wird.

Frage des Datums. Laut Verfassung darf der Präsident das Parlament aber nur spätestens sechs Monate vor Beendigung der Legislaturperiode auflösen. Die nächsten Parlamentswahlen sind für den 27. Oktober dieses Jahres angesetzt. Doch Juristen sind uneins, wann genau die Befugnisse des jetzigen Parlaments enden. Manche meinen am 27. November, fünf Jahre nach dem Beginn der jetzigen Legislaturperiode. Andere nennen den 14. Dezember als Datum, das ist voraussichtlich der Tag, an dem das neugewählte Parlament der nächsten Legislaturperiode seine Arbeit aufnehmen wird. Selbst wenn man ab dem 14. Dezember sechs Monate abzieht, dann gilt bereits am 17. Juni für den Präsidenten das Verbot, das Parlament aufzulösen.

Verpasst Selenskyj das Parlament aufzulösen? In einer Erklärung von Selenskyj heißt es: “Eine Fraktion im Obersten Rat hat beschlossen, die ‘Koalition’ zu verlassen. Aber wie kann man etwas verlassen, was es nicht gibt?” Was meint Selenskyj damit? Eine Koalition muss mindestens 226 Abgeordnete haben. Aber schon im Jahr 2016 verließen mehrere Abgeordnete die Fraktion “Block Petro Poroschenko”. Danach kamen der “Block Petro Poroschenko” und die “Volksfront” zusammen nicht mehr auf226 Abgeordnete. Daher besteht Selenskyjs Team darauf, dass es schon seit drei Jahren keine Koalition mehr gibt. Der neue Präsident müsse daher nicht erst 30 Tage warten. Er habe das Recht, das Parlament unmittelbar nach seiner Amtseinführung aufzulösen.

Rechtsgrundlage hierfür ist Selenskyjs Team zufolge eine gerichtliche Entscheidung. Ein Kiewer Bezirksverwaltungsgericht hatte das Parlament aufgefordert, die Namen aller Abgeordneten zu nennen, die der Koalition mit dem Stand vom 28. Februar 2019 angehörten. Derzeit kommen die Fraktionen “Block Petro Poroschenko” und “Volksfront”auf 215 Abgeordnete. Auf dieser Grundlage kann das Gericht entscheiden, dass der Präsident das Parlament auflösen kann.

Warum ist eine Parlamentsauflösung für Selenskyj von Vorteil? Selenskyjs Partei “Diener des Volkes” hat derzeit von allen Parteien die höchsten Umfragewerte. Laut einer gemeinsamen Umfrage des Zentrums “Social Monitoring”, des “Jaremenko-Instituts für Sozialstudien” und der Gruppe “Rating” wollen fast 40 Prozent der Wähler für Selenskyjs Partei stimmen.

Wie geht es weiter? Es könnte zu einer politischen Krise kommen. Der Präsident würde dann von der Zentralen Wahlkommission verlangen, einen Termin für vorgezogene Wahlen zu bestimmen. Das jetzige Parlament würde auf seiner Legitimität bestehen. Die Frage ist nur, wie viele Abgeordnete bereit sein werden, sich gegen den Präsidenten zu stellen.


Rückkehr von Kolomojskyj: Was gehört dem Oligarchen in der Ukraine?

Am Abend des 16. Mai 2019 landete der Geschäftsmann und Oligarch Ihor Kolomojskyj in seiner Heimatstadt Dnipro. Noch am selben Abend flog er mit derselben Maschine nach Kiew weiter. Kolomojskyj hatte etwa sechs Monate in Israel verbracht, davor lebte er in der Schweiz. Auch von dort koordinierte er weiterhin seine Geschäfte. Sein Vermögen wurde im Jahr 2018 von Forbes auf mehr als eine Milliarde Dollar geschätzt.

Privat-Gruppe ohne PrivatBank.Laut der ukrainischen Vereinigung “YouControl” werden mit Kolomojskyjs Unternehmensgruppe “Privat” rund 975 Unternehmen und 37 Schlüsselpersonen in Verbindung gebracht. Obwohl die im Jahr 2016 verstaatlichte “PrivatBank” nicht mehr dazu gehört, trägt die Gruppe weiter diesen Namen. Offiziell ist sie gar nicht registriert, so dass de jure eine solche Gruppe nicht existiert. Aber de facto gibt es sie. Die Struktur umfasst auch eine Reihe von Vermögenswerten, die nicht auf Kolomojskyjs gemeldet sind.

Die wichtigsten Personen in der “Privat-Gruppe” sind Hennadij Boholjubow, Ihor Kolomojskyj und Oleksij Martynow. Boholjubow kehrte einige Tage vor Kolomojskyj in die Ukraine zurück.

Metall und Ferrolegierungen. Die Unternehmensgruppe Kolomojskyj-Boholjubow ist groß. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Hütten- und Eisenlegierungswerke, Erzaufbereitungsanlagen und Unternehmen des Brennstoff- und Energiekomplexes (Erdölförderung, Erdölraffination sowie Handelsnetze, die fertige Erdölprodukte verkaufen).

Energieversorger in den Regionen. Kolomojskyj und Boholjubowbesitzen auch große Minderheitenanteile an den regionalen Energieversorgern in den Gebieten Poltawa, Tschernihiw, Sumy und Chmelnyzkyj. Sie halten kleine Anteile an den Energieversorgern der Gebiet Dnipro und Saporischschja.

Hafen-Geschäft.Beträchtlich ist auch das Hafen-Geschäft der “Privat-Gruppe”. Sie kontrolliert das Getreide-Terminal “Borivage” und einen Umschlagplatz für Erdölprodukte in Odessa.

Landwirtschaft.Auch im Agrar- und Ernährungssektor verfügt die “Privat-Gruppe” über Vermögenswerte. Für diesen Bereich ist die “Privat-AgroHolding” zuständig, die über 100.000 Hektar Land verfügt. Das Unternehmen “Schedro” ist im Lebensmittel-Segment aktiv. Dazu gehören Hersteller von Pflanzenfett in den Gebieten Lwiw, Charkiw, Saporischschja sowie die Handelsmarke “Biola”, die Säfte, Tafelwasser und andere kohlensäurehaltige Getränke herstellt.

In der Leichtindustrie kontrolliert Kolomojskyj die Zellstoff- und Papierfabriken in Schydakiw und Ismail sowie das Unternehmen “Dniproplast”, das Halbfabrikate zur Herstellung von Kunststoffflaschen produziert.

Medienbereich.Kolomojskyj ist Eigentümer von “1+1 media”, einer großen TV-Holding, zu der die Sender “1+1”, “2+2”, “TET”, “PlusPlus” und “Ukraine Today” gehören. Zudem besitzt er das Frauenmagazin “Bigudi” und die Nachrichtenagentur “UNIAN”. Die Internetzeitung “The Babel” wird auch von Strukturen der “Privat-Gruppe” finanziert.

Vermögenswerte auf der Krim. Kolomojskyj und die “Privat-Gruppe” haben durch die Annexion der Krim erhebliche Verluste erlitten. Russland “verstaatlichte” 87 Objekte, darunter Hotels und Bauunternehmen sowie ein Tankstellennetz und ein Tanklager. Laut einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag muss Russland an Unternehmen der “Privat-Gruppe” eine Entschädigung in Höhe von 159 Millionen US-Dollar zahlen. Der Oligarch beziffert seine Verluste auf der Krim allerdings mit zwei Milliarden Dollar.

Tourismus.Im Westen der Ukraine, in den Karpaten, besitzt Kolomojskyj das wichtige Skigebiet “Bukovel”.