30 Jahre Unabhängigkeit der Ukraine: Das Wichtigste aus der Festrede von Präsident Selenskyj

In allen Städten der Ukraine wurde am 24. August der 30. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes groß gefeiert. In Kiew marschierten in einer Militärparade 4000 Soldaten und militärische Ausrüstung fuhr durch das Zentrum der Hauptstadt. Flugzeuge, darunter die größte Transportmaschine der Welt, die “Mrija”, waren am Himmel zu sehen. Während der Feierlichkeiten überreichte Präsident Wolodymyr Selenskyj einer Reihe von Bürgern staatliche Auszeichnungen. Darüber hinaus kündigte er die Einführung eines neuen Feiertags an: des Tages der ukrainischen Staatlichkeit, der künftig am 28. Juli gefeiert wird. Besonders angenehm überrascht waren die Ukrainer von Selenskyjs Rede selbst. Hier die wichtigsten Botschaften und Zitate:

“Ein junges Land mit tausendjähriger Geschichte”

Wolodymyr Selenskyj begann seine Rede mit einem historischen Teil, in dem er betonte, dass der 30. Jahrestag der Unabhängigkeit in Wirklichkeit ein Jahrestag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit und damit der Wiederherstellung von Gerechtigkeit sei. 

Er sagte: “Schließlich ist unsere Geschichte und unser Staat einzigartig. Unsere Verfassung ist 25 Jahre alt. Aber wir haben eine Verfassung, die 311 Jahre alt ist, geschrieben von Pylyp Orlyk, und sie ist endlich zu Hause, jeder kann sie sich in der Sophienkathedrale anschauen, die vor mehr als 1000 Jahren erbaut wurde.”

Zum ersten Mal seit 311 Jahren wurde die lateinische Version der Verfassung von Pylyp Orlyk, ein Führer der Saporoscher Kosaken und engster Mitarbeiter des ukrainischen Kosaken-Hetmans Iwan Masepa, aus dem Schwedischen Nationalarchiv in Stockholm in die Ukraine gebracht. Bis Mitte November können die Ukrainer das Original in einer Ausstellung zum 30. Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit mit eigenen Augen sehen.

Weiter sprach Selenskyj über die ukrainische Landeswährung: “Unsere Hrywnja ist ein Vierteljahrhundert alt und auf ihr ist der Großfürst Wolodymyr zu sehen. Aber unsere Hrywnja ist eigentlich älter als ein Jahrtausend, denn sie existierte schon unter dem Großfürsten Wolodymyr.” 

Ferner sagte Selenskyj über das Staatswappen, dass der ukrainische Dreizack vor 25 Jahren in die Verfassung der Ukraine aufgenommen worden sei, doch der Dreizack sei schon vor 1025 Jahren in die Ziegel der Zehntenkirche in Kiew gehauen gewesen.

“In diesem Jahr feierten die Streitkräfte der Ukraine den 30. Jahrestag ihrer Gründung. Und 1616 feierten die Streitkräfte der Ukraine die Einnahme der Festung Kafa. All dies zeugt von einem: Wir sind ein junges Land mit einer tausendjährigen Geschichte. Wir errichten unser Haus auf Land, auf dem unsere Vorfahren lebten und bauten”, betonte Selenskyj und fügte hinzu, dass die Ukrainer eine junge Familie aus der ruhmreichen Dynastie der Kiewer Rus-Ukraine seien – von Gründern, Täufern, Mutigen, Weisen und Kosaken. “Wir sind die Nachkommen eines mächtigen Staates, der das Zentrum Europas war”, so der ukrainische Präsident. 

Doch dann sagte er: “Aber wir sollten uns nicht nur entsprechend fühlen. Wir müssen uns entsprechend verhalten.”

“Wir werden nicht zulassen, dass unsere Geschichte okkupiert wird”

Ein weiterer Schwerpunkt von Selenskyjs Rede war die Rückkehr der Ukraine zu ihrer Identität, insbesondere unter Bedingungen einer hybriden Konfrontation mit dem Aggressor Russland – ein Thema von höchster Relevanz für ein Land, das seit Jahrhunderten und noch bis heute für seine Identität, Geschichte und Sprache kämpft.

Selenskyj sagte: “Wir beginnen mit der Rückkehr bedeutender Ukrainer in ihre Heimat, die ihr Leben der Ukraine gewidmet und für sie gekämpft haben, aber nicht in der Ukraine begraben liegen. Das sind Hetmanen der Saporoscher Sitsch, Persönlichkeiten aus der Zeit der Ukrainischen Volksrepublik, Teilnehmer der Befreiungskämpfe, Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft und viele andere.” Selenskyj fügte hinzu, dass auch historische und kulturelle Wertgegenstände der Ukraine, die sich im Ausland befinden, zurückgeholt werden sollen. “Wir werden niemandem auch nur ein Steinchen unserer Geschichte überlassen, wir werden nicht zulassen, dass auch nur eine Seite unserer Geschichte okkupiert wird, dass unsere Schriftsteller, unsere Wissenschaftler, unsere Sportler, unsere Helden, die den Nazismus besiegt haben, annektiert werden”, so Selenskyj.

“Ein starkes Land”

Ein besonderer Schwerpunkt in der Rede des Präsidenten war das Bild eines “starken Landes”. Diese These wurde mit der diesjährigen Militärparade spektakulär untermauert, doch für Selenskyj hat offensichtlich das Bild eines “starken Landes” eine viel weitergehende Bedeutung, als nur die militärische Stärke eines Landes, das sich in einem Krieg befindet.

Er sagte: “Was ist ein starkes Land? Ein Land, das ehrgeizig träumt und entschlossen handelt. Ein Land, das das Wort ‘erstmals’ nicht scheut. Deshalb baut Antonow zum ersten Mal seit 30 Jahren drei Flugzeuge für den Staat, Helikopter mit ukrainischen Rotorblättern für die Armee und in diesem Jahr werden auch wieder neue Panzer gebaut. Ein starkes Land erneuert seine Marine, seine Marinestützpunkte und baut Korvetten. Ein starkes Land ist ein Land, das auf zehn Jahre ein Raketenprogramm beschließt, das Tausende von Kilometern Straßen baut, Hunderte von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern, und das als erstes Land der Welt einen digitalen Passport hat.”

Ein solches Land werde ein NATO-Partner mit erweiterten Möglichkeiten sein. Ein solches Land würden andere unterstützen, wenn es einen EU-Beitritt beantragen würde. Aber ein solches Land müsse dann nicht um eine Einladung bitten, sondern man werde es einladen, sagte Selenskyj und fügte hinzu, vieles werde nun zum ersten Mal getan, damit die Ukraine endgültig zu einem großartigen Land werde und die Krim und der Donbass nicht besetzt bleiben würden. “Und ein starkes Land erwartet nicht, dass ihm jemand seine Probleme löst”, unterstrich er.

“Ein Team aus verschiedenen Volksgruppen”

Selenskyj betonte in seiner Rede außerdem, in der Ukraine würden viele verschiedene Volksgruppen zuhause sein. Offenbar war dies eine Reaktion auf die russische Propaganda, die der Ukraine seit 2014 immer wieder “Faschismus” vorwirft.

“Heute möchte ich zum ersten Mal in der Geschichte diejenigen benennen, die in der Ukraine leben, damit wir endlich verstehen, dass das ukrainische Volk Ukrainer, Krimtataren, Karäer, Krimtschaken, Russen, Belarussen, Moldauer, Bulgaren, Ungarn, Rumänen, Polen, Juden, Armenier, Griechen, Roma, Georgier, Gagausen, Aserbaidschaner, Usbeken, Kasachen, Kirgisen, Turkmenen, Tadschiken, Litauer, Esten, Letten, Türken, Koreaner, Baschkiren, Lesginen, Awaren, Mari, Deutsche, Slowaken, Tschechen, Finnen, Komi, Albaner, Karelier, Tschetschenen, Osseten, Abchasen, Kabardiner, Tabasaren, Darginen, Araber und Lakten sind. Und wir sind alle Bürger der Ukraine. Die Nationalmannschaft der Ukraine. Ein Team”, sagte Selenskyj.

Er unterstrich, es sei ein starkes Team aus 25 Regionen mit 25 unverzichtbaren Spielern. “Und es ist unbesiegbar, wenn es erkennt, dass es unbesiegbar ist, dass jeder gebraucht wird.”

“Ohne die Hubschrauber aus Saporischschja und die Antonow-Flugzeuge hätte die Ukraine den Luftraum nicht erschlossen, ohne die Schiffe aus Mykolajiw nicht das Meer, ohne die Piwdenmasch-Werke in Dnipro und ohne Serhij Koroljow aus Schytomyr und Leonid Kadenjuk aus der Bukowina nicht den Weltraum. Und ohne die T-34-Panzer aus Charkiw hätte die Ukraine auf den Feldern des Zweiten Weltkriegs nicht gesiegt”, sagte der Präsident.

Wen hat Donezk für die Ukraine hervorgebracht?

Während seiner Rede scherzte Selenskyj auch ein wenig, was den zweiten, dritten und fünften Präsidenten der Ukraine, Leonid Kutschma, Viktor Juschtschenko und Petro Poroschenko, die der Feier beiwohnten, zum Lachen brachte.

Selenskyj sagte, jede Region habe dem Land wichtige Persönlichkeiten hervorgebracht. Zuerst dankte er der Region Riwne für den ersten Präsidenten der Ukraine Leonid Krawtschuk, dann dem Gebiet Tschernihiw für den zweiten Präsidenten Leonid Kutschma, dann dem Gebiet Sumy für den dritten Präsidenten Viktor Juschtschenko.

Und als die Region Donezk, die Heimat des ehemaligen vierten Präsidenten Viktor Janukowytsch, an die Reihe kam, hielt Selenskyj inne und dankte dem Osten der Ukraine für den talentierten Künstler Leonid Bykow und für den weltbekannten Sportler Serhij Bubka, der in Luhansk geboren wurde.

Weil das Publikum gedacht hatte, Selenskyj würde nach der Auflistung der bisherigen Präsidenten etwas über den flüchtigen Viktor Janukowytsch sagen, brach Gelächter aus. Doch auch den fünften Präsidenten des Landes, Petro Poroschenko, erwähnte Selenskyj nicht. 

Stattdessen fuhr er fort: “Die Region Kirowohrad hat uns Iwan Karpenko-Karyj und Marko Lukytsch Kropywnyzkyj mit ihren Theatern geben, das Gebiet Schytomyr Lesja Ukrainka und ihre Poesie, das Gebiet Poltawa Mykola Lysenko und seine Oper, die Region Ternopil Solomija Kruschelnyzka mit ihrer göttlichen Stimme, die Region Winnyzja Wasyl Stus mit seinem unbeugsamen Geist. Ohne die Festung Kamjanez-Podilskyj, die Liubartas-Burg in Wolhynien und die Ackerman-Festung in der Region Odessa wäre die Ukraine nicht so stark. Ohne die Lawra und St. Sophia, die St.-Nikolaus-Kirche und die St.-Georgs-Kathedrale, die Khan-Moschee in Bachtschissaraj und die Synagoge in der Stadt Dnipro wäre die Ukraine nicht so facettenreich.”

“Verschieden, gleichberechtigt, einheimisch – gemeinsam stark”

Im letzten Teil seiner Rede betonte Selenskyj die Einheit der Ukraine trotz aller regionalen Unterschiede: 

“Schaut auf sie, oder stellt Euch jetzt unsere Flagge vor. Stellt Euch vor, es gäbe kein Gelb darin. Stellt Euch nun vor, es gäbe auch kein Blau darin. Gebt zu, allein für sich genommen sind es nur Farben, keine grellen, nicht so interessante. Aber zusammen sind sie für uns die beste und stärkste Kombination. Das ist die Antwort darauf, warum wir gemeinsam stark sind. Wir sind unterschiedlich, aus Ost und West, Ukrainisch- und Russischsprachige, aber wir sind eine Familie, weil die Ukraine uns eint. Denn wir alle sagen ihr: ‘Du bist mein Ein und Alles!’ Wir alle verteidigen sie. Wir sind verschieden, gleichberechtigt, einheimisch, stark, frei, unabhängig! Ehre sei der Ukraine!”