In der russischen Stadt Jekaterinburg wurde der Videoblogger Ruslan Sokolowskij für zwei Monate in Untersuchungshaft genommen. Ihm wird Extremismus und die Verletzung religiöser Gefühle Gläubiger vorgeworfen. Anlass für die Einleitung des Verfahrens war ein Video, in dem Sokolowskij durch die Kirche geht und dabei Pokémon Go spielt. Ihm drohen nun bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug. Die in Lettland ansässige russischsprachige Internetzeitung „Medusa“ berichtet über das Strafverfahren, dessen Grund ein Kirchenbesuch mit einem Mobiltelefon ist.
Ruslan Sokolowskij ist Videoblogger. Er hat auf YouTube 270.000 Follower und ist Jurastudent am Ural-Institut für Geisteswissenschaften. In seinen Videos kritisiert er aktiv die Kirche: Er bezeichnet Pfarrer als Comic-Helden und empört sich darüber, dass in der Schule orthodoxe Religionslehre unterrichtet wird, während „die Evolutionstheorie in Gotteshäusern nicht gelehrt werden darf“. „Wir müssen nicht in einem Land leben, gefesselt an Händen und Füßen, nur wegen irgendwelcher Sektenanhänger“, sagt Sokolowskij in einem seiner Videos. Seit Anfang 2016 gibt Sokolowskij außerdem eine Zeitschrift heraus, die Religion verspottet. Als Vorbild habe er sich die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo genommen, sagt er.
Am 11. August veröffentliche Sokolowskij ein Video, in dem er in der “Kathedrale auf dem Blut” in Jekaterinburg Pokémon Go spielt. Pokémon Go ist ein neues und sehr beliebtes Spiel für Smartphones, in dem die virtuelle Spielwelt die Realität nachstellt. Dabei werden berühmte Gebäude und Objekte als „Trainingsarenas“ genutzt. In seinem Video geht Sokolowskij schweigend einige Minuten lang durch die Kirche und fängt Pokémons. Die Mitarbeiter der Kirche hindern ihn nicht daran.
Dem Videoblogger zufolge beschloss er, dieses Video zu drehen, nachdem der Fernsehsender Rossija24 Mitte Juli alle Pokémonfänger gewarnt hatte, zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden zu können.
Das Video stieß auf breite Resonanz. Die landesweiten Fernsehsender der Russischen Föderation drehten Beiträge über den Videoblogger. Rossija24 erzählte den Zuschauern, es läge ganz klar eine Beleidigung der Gefühle Gläubiger vor und stellte bei Sokolowskij unter Verweis auf einen Psychiater psychische Erkrankungen fest. Bei „Ren-TV“ lautete der Titel eines Beitrags: „Experte zum Vorfall in der Kathedrale auf dem Blut: Pokémons rufen Halluzinationen hervor“. Die russisch-orthodoxe Kirche reagierte auf das Geschehene genauso: „Die Gefühle Gläubiger wurden verletzt. Schockierend ist nicht die Tatsache, dass der junge Mann in die Kirche kam und auf irgendwelche Tasten auf seinem Mobiltelefon drückte, sondern dass er dort eine erniedrigende Reportage drehte, in der er sich herablassende Äußerungen gegen die Kirche erlaubt“, behauptet Bischof Ewgenij (Kulberg).
Eine Woche nach der Veröffentlichung des Videos begann die Polizei mit Untersuchungen. Am 19. August berichtete Valerij Gorelych, Pressesekretär der Verwaltung des russischen Innenministeriums im Gebiet Swerdlowsk, dass der Pressedienst „während eines Monitorings“ auf das Video gestoßen sei und dem Zentrum zur Extremismusbekämpfung vorgelegt habe. Gorelychs persönliche Einstellung gegenüber dem Spielen von Pokémon Go in Gotteshäusern ist wie folgt: „Nicht für drei Jahre, wie es das Gesetz vorsieht, sondern für mindestens fünf Jahre, wenn nicht sogar für mehr, sollte man solche „Pokemonisten“ auf Gefängnispritschen schicken, damit andere nicht denken, an heiligen Stätten Gotteslästerung begehen zu können.“
Schließlich wurde gegen Ruslan Sokolowskij ein Strafverfahren gemäß zwei Artikeln des russischen Strafgesetzbuches eingeleitet: Artikel 282 (Schüren von Hass) und Artikel 148 (Öffentliche Handlungen, die eine klare Respektlosigkeit gegenüber der Gesellschaft ausdrücken und begangen wurden, um die religiösen Gefühle Gläubiger zu beleidigen).
Ruslan Sokolowskij wurde am frühen Morgen des 2. September festgenommen: Die Polizisten beschafften sich beim Eigentümer die Schlüssel zur Wohnung, die der Videoblogger mietet. Sie kamen, als Sokolowskij schlief. Alle Videogeräte sowie einige Ausgaben seiner antiklerikalen Zeitschrift wurden konfisziert.
Am 3. September nahm ein Jekaterinburger Gericht Ruslan Sokolowskij für zwei Monate in Haft. Das Verfahren war nicht öffentlich: In den Saal wurden weder Journalisten noch Anhänger des Videobloggers gelassen. Etwa zwanzig Personen waren gekommen, um ihn zu unterstützen. Laut Sokolowskijs Anwalt weigerte sich der Richter, den Videoblogger gegen Kaution zu entlassen, obwohl sich Sokolowskij um seine pflegebedürftige Mutter kümmern muss. „Sehen Sie es so: Die Inquisition ist eröffnet“, sagte der Anwalt nach der Verkündung des Gerichtsurteils. Gemäß Artikel 282 drohen Sokolowskij bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug und wegen Beleidigung der Gefühle Gläubiger bis zu drei Jahre Haft oder eine Geldstrafe in Höhe von bis zu einer halben Million Rubel.
Dies ist nicht das erste Strafverfahren wegen Beleidigung der Gefühle Gläubiger, das in Russland eingeleitet wurde. 2013 wurden die Mitglieder der Gruppe Pussy Riot für ihre Show in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt. Im Februar 2016 wurde ein ehemaliger Hochschullehrer für den Aufsatz „Böser Christus“ in Orenburg zu einer Geldstrafe in Höhe von 35.000 Rubel verurteilt. Mitte April verurteilte ein Jekaterinburger Gericht (dasselbe, das auch die Entscheidung über die Verhaftung Sokolowskijs traf) Anton Simakow zu einer Zwangstherapie, weil dieser in seinem Büro ein Ritual mit einer Voodoopuppe durchgeführt hatte.