Was verbirgt sich hinter der Eskalation in Awdijiwka?

REUTERS/Gleb Garanich

Am 29. Januar sind die Kampfhandlungen in Awdijiwka, einer Stadt in der Ostukraine innerhalb des von der ukrainischen Regierung kontrollierten Territoriums, deutlich eskaliert. Die Kämpfe begannen sechs Kilometer nördlich von Donezk in unmittelbarer Nähe zur Kontaktlinie (siehe Karte) und dauerten bis zum 3. Februar an. Nach offiziellen Berichten wurden seit der Verschärfung der Kampfhandlungen 13 ukrainische Soldaten getötet und 93 weitere verletzt. Drei Zivilisten kamen ums Lebens und ein weiterer wurde verwundet. Außerdem wurde ein britischer Journalist verletzt, sodass er anschließend in einem Krankenhaus der Stadt Dnipro operiert werden musste. Von dem heftigen Beschuss aus den von den Separatisten kontrollierten Gebieten waren auch die umliegenden Wohngebiete betroffen. Awdijiwka wurde somit von der Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung abgeschnitten. Aufgrund der anhaltenden Kampfhandlungen war es unmöglich, trotz der bitteren Kälte, mit Reparaturen zu beginnen.

Inzwischen verbessert sich die Lage in Awdijiwka. Die Versorgung mit Wasser, Wärme und Strom wurde am 6. Februar wiederhergestellt. Die Antwort der ukrainischen Regierungstruppen auf den Granatbeschuss zielte auf Donezk und seine Vororte ab, sodass auch dort die Wasser-, Strom-, und Wärmeversorgung unterbrochen war, die allerdings ebenfalls am 6. Februar wiederhergestellt wurde.

Die Feindseligkeiten eskalierten auch nahe der Städte Mariupol, Mariinka, Opytne, Pisky, Popasna und weiterer Ortschaften. Die Sonderbeobachtermission der OSZE in der Ukraine berichtet, dass die Anzahl der Verstöße gegen den Waffenstillstand innerhalb des Dreiecks zwischen Awdijiwka, Jasynuwata und dem Donezker Flughafen seit dem 29. Januar in einem bislang beispiellosen Ausmaß zugenommen haben.

Das sind die wichtigsten Faktoren, sowohl auf globaler als auch lokaler Ebene, die dabei helfen könnten, die derzeitige Eskalation zu erklären:

Globale Aspekte

Russlands Kriegsspiel:

Der Krieg in der Ostukraine wurde ursprünglich von pro-russischen sowie russischen Militäreinheiten im Frühjahr 2014 als Reaktion auf die Euromaidan-Proteste in der Ukraine entfacht. Seitdem hält Russland sein beachtliches militärisches Engagement im Donbass aufrecht. Obwohl der Pressesprecher von Präsident Putin, Dmitrij Peskow, die russische Einmischung bestreitet und behauptet, dass der Krieg im Donbass ein “inner-ukrainischer Konflikt” sei, zeigt eine überwältigende Beweislast, dass Russland militärisch und politisch im Donbass aktiv ist. Selbst eine so behutsame Institution wie der Internationale Strafgerichtshof spricht von der “Existenz eines internationalen bewaffneten Konfliktes”.

Derzeit nutzt der Kreml zunehmend die Spannungen im Donbass aus, um die ukrainische Innenpolitik zu beeinflussen, indem er versucht, ein Gefühl von Kriegsmüdigkeit zu verstärken, die öffentliche Meinung zu polarisieren sowie die jetzige pro-westliche ukrainische Regierung zu schwächen.

Minsker Vereinbarungen in Frage gestellt:

Die derzeitige Eskalation kommt zu einem Zeitpunkt, wo sich die Minsker Vereinbarungen an einem Tiefpunkt befinden. Obwohl die Minsker Vereinbarungen in der ukrainischen Bevölkerung unbeliebt sind, verfolgt die Regierung offiziell eine Politik der vollständigen Umsetzung der Vereinbarungen, wobei sie darauf besteht, dass die Sicherheitskomponente noch vor der politischen Komponente implementiert wird. Für Russland bedeutet der Stillstand beim Minsk-Prozess, dass die Aufhebung der Sanktionen in weite Ferne rückt. Dementsprechend wird Russland einen besseren Deal herbeiführen wollen. Russland und seine Stellvertreter in der Ostukraine ließen die Kampfhandlungen sowohl im Jahr 2014 als auch 2015 unmittelbar vor den Verhandlungen über die Minsker Vereinbarungen eskalieren, um eine Abmachung zu Russlands Bedingungen zu erreichen. Solch eine Strategie – “durch Gewalt zum Frieden” – könnte auch jetzt wieder Anwendung finden.

Gespräch zwischen Trump und Putin:

Ein Telefongespräch zwischen dem US-Präsidenten Trump und Putin am 28. Januar führte nicht zur Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Die Eskalation, die schon am darauffolgenden Tag herbeigeführt wurde, könnte ein Warnsignal an Trump sein, um deutlich zu machen, dass die Sicherheit in der Ostukraine in Putins Hand liege und dass er die Situation verschlechtern könne, sollten die Sanktionen nicht aufgehoben werden.

Lokale Aspekte

Artillerie-Krieg

Die Minsker Vereinbarungen verlangen, dass schweres Kriegsgerät bis auf 30 Kilometer hinter die Frontlinie zurückgezogen wird, was allerdings nicht gänzlich umgesetzt wurde. Die jüngste Entwicklung um Awdijiwka ist eine deutliche Eskalation, da schwere Waffen in diesem Ausmaß seit Monaten nicht mehr eingesetzt wurden. Ein tragischer Aspekt dieser Eskalation ist der Umstand, dass der Krieg in dicht besiedelten Gebieten stattfindet und dass Militäreinheiten in Städten und insbesondere in Wohngebieten stationiert sind. So wurde beispielsweise Awdijiwka aus Wohngebieten in Donezk heraus beschossen. Der Gegenangriff traf dementsprechend die Wohngebiete in Donezk. Hinzu kommt, dass der Angriff auf Awdijiwka auf die kommunale Infrastruktur (Wasser, Wärme und Strom) abzielte, was mitten im Winter besonders gravierend ist.

Hybrider Waffenstillstand:

Trotz der Minsker Vereinbarungen hat es im Donbass nie einen Waffenstillstand gegeben. Die “hybride Kriegsführung” führt folglich zu einem “hybriden Waffenstillstand”. Vereinzelte Zusammenstöße wurden nahezu täglich berichtet. Awdijiwka ist nicht der erste Fall einer umfangreichen Verletzung der Vereinbarungen, die zahlreiche Menschenleben forderte: Ende Dezember eskalierte die Lage um Switlodarsk und zurzeit ist der Krieg wieder an vielen Orten entlang der Frontlinie entfacht.

Russische Munition:

Pro-russische und russische Einheiten verwenden Waffen, die über die ukrainisch-russische Grenze geliefert werden. Die Grenze wird nicht von der Ukraine kontrolliert und Russland erlaubt der OSZE, entgegen der Minsker Vereinbarungen, nur zwei Checkpoints zu überwachen. Die Fähigkeit der Separatisten, den Konflikt mit Hilfe schwerer Waffen und hochentwickelter Technologie aufrechtzuerhalten, kann nur auf kontinuierliche Lieferungen aus Russland zurückgeführt werden.

Ukrainische Manöver:

Christopher Miller, Korrespondent von RFE/RL, berichtet, dass seit Mitte Dezember die ukrainischen Streitkräfte weiter in Teile der Grauzone vorgedrungen seien, sodass sich die Distanz zwischen ihnen und den Separatisten verringert habe. Die ukrainische Seite macht allerdings deutlich, dass die ukrainischen Truppen die Minsker Vereinbarungen nicht verletzt hätten, da sie die Kontaktlinie nicht überschritten und dementsprechend innerhalb des von der Regierung kontrollierten Territoriums geblieben seien. Außerdem fanden seit den Minsker Vereinbarungen auf beiden Seiten kontinuierlich Manöver statt, die in Zusammenstößen mit leichten Waffen endeten. Was diese Zusammenstöße von jenen in Awdijiwka unterscheidet, ist, dass die pro-russischen Separatisten schwere Artillerie und Raketensysteme vom Typ BM-21 “GRAD” einsetzten, die nicht nur militärische, sondern auch zivile Objekte als Ziel hatten.

Die strategisch wichtige Straße Donezk-Horliwka

Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Transport. Awdijiwka ist eine strategisch wichtige Stadt, die womöglich die schwächste Stelle in der Verteidigung der Truppen der “Donezker Volksrepublik” ist. Einige Militärexperten meinen, dass die Kontrolle über die Straße Donezk-Horliwka, die durch die Vororte von Awdijiwka verläuft, für die Stärkung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit essentiell ist. Die neuen Stellungen, die von den ukrainischen Regierungstruppen eingenommen wurden, liegen im Territorium, das mit den Minsker Vereinbarungen der Ukraine zugesprochen wurde. Diese Stellungen stellen allerdings eine enorme strategische Herausforderung für die Separatisten dar. Dies erklärt, warum die Separatisten versucht haben, die ukrainischen Stellungen anzugreifen und letzten Endes zum Einsatz von schwerer Artillerie griffen, um die ukrainische Armee zurückzuschlagen.

Die Rolle von Achmetow:

Rinat Achmetow, einer der einflussreichsten Oligarchen in der Ukraine, der auch “Herrscher über den Donbass” genannt wurde, hat immer noch wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Achmetow besitzt Kohleminen in den von den Separatisten besetzten Gebieten sowie Stahl- und Elektrizitätswerke in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten. Er besitzt eine Koksfabrik in Awdijiwka, die eine Schlüsselrolle in der ukrainischen Stahlerzeugung einnimmt. Des Weiteren besteht die Verwaltung der selbsternannten “Volksrepublik Donezk” immer noch aus Personen, die mit Achmetow verbunden sind, wie beispielsweise Dmitrij Trapesnikow, Alexej Granowskij, und Maksim Leschtschenko. Achmetow könnte eine Rolle bei der Vermittlung von Geschäften über die Frontlinie hinweg spielen, gleichzeitig könnte er aber auch für diejenigen zum Ziel werden, die in ihm ein Hindernis sehen.

All diese Faktoren zeigen, dass die Beilegung des Konflikts in der Ostukraine noch ein weit entferntes Ziel ist. Es gibt zahlreiche Faktoren, sowohl international als auch lokal, die zur Eskalation beitragen. Obwohl Moskau sein militärisches Eingreifen in den Konflikt weiterhin leugnet, ist es Russland, das den Krieg im Frühjahr 2014 entfachte, ihn bis heute aufrechterhält und immer noch den Schlüssel zur seiner Beilegung in der Hand hat.

Verfasst von WOLODYMYR JERMOLENKO und TETJANA OGARKOWA.

Wolodymyr Jermolenko ist Experte bei Internews Ukraine und UkraineWorld Group, einer Netzwerk-Initiative, die sich auf die Ukraine konzentriert und gegen Desinformation vorgeht. Tetjana Ogarkowa leitet die Abteilung für ausländische Zielgruppen beim Ukraine Crisis Media Center. Die Autoren danken Alja Schandra, Oleksandr Suschko, Jewhen Bystryzkyi, Dmytro Schulga, Daria Hajdaj, Roman Wybranowskyj und anderen Mitgliedern der UkraineWorld Group für ihre Mithilfe. Um der UkraineWorld Group beizutreten, kontaktieren Sie bitte [email protected].