In letzter Zeit ist oft zu hören, dass die Ukraine gegen die Mehrsprachigkeit im Lande vorgeht und dass die Sprachen der nationalen Minderheiten bedroht sind. Stimmt das? Was sind die Besonderheiten der Sprachen-Situation in der Ukraine? Antworten vom Ukraine Crisis Media Center.
Am 28. Februar 2018 hat das Verfassungsgericht der Ukraine das Sprachengesetz für verfassungswidrig und damit für ungültig erklärt. Verabschiedet wurde es im Jahr 2012. Das Gesetz war in der Ukraine als “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz” bekannt – benannt nach seinen Autoren, die Abgeordnete der “Partei der Regionen” waren. Gemäß diesem Gesetz erhielt die russische Sprache in der Ukraine den Status einer “Regionalsprache”.
Gleich nach der Flucht des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch hatte das ukrainische Parlament am 23. Februar 2014 dieses Gesetz aufgehoben. Russland bewertete dies als Angriff auf die “russischsprachige Bevölkerung” in der Ukraine, was unter anderem als Begründung für die Annexion der Krim und den Beginn der Kampfhandlungen im Donbass diente.
Auch ausländische Experten waren 2014 teilweise der Meinung, die Aufhebung des Gesetzes sei angesichts der schwierigen post-revolutionären Lage unangemessen. Doch die meisten internationalen Beobachter vergessen, dass weder der damalige amtierende Präsident Oleksandr Turtschynow noch Präsident Petro Poroschenko die Aufhebung des “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetzes” unterzeichnet oder ein Veto dagegen eingelegt hat. Das Gesetz blieb faktisch noch bis Februar 2018 in Kraft.
Welches Ziel verfolgte das “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz”? Das Gesetz legte fest, dass Ukrainisch Staatssprache ist. Zugleich weitete es die Verwendung von Regionalsprachen erheblich aus, wenn die Träger dieser Sprachen mindestens zehn Prozent der Bevölkerung einer bestimmten Region stellen. Unter den “Trägern” verstand das Gesetz die Menschen, die bei der Volkszählung im Jahr 2001 eine entsprechende Regionalsprache als “Muttersprache” bezeichnet haben. Das Gesetz erfasste insgesamt 18 Sprachen. Aber das politische Ziel des Gesetzes war, die russische Sprache zu stärken, da die meisten anderen Sprachen in den betreffenden Regionen nicht über jene zehn Prozent kommen.
Auf welche Regionen zielte das Gesetz ab? Das “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz” machte Russisch in 13 von 27 Gebieten der Ukraine zur “Regionalsprache”: in der Region und in der Hauptstadt Kiew, auf der Krim, in den Regionen Donezk und Luhansk, aber auch in den Regionen Dnipropetrowsk, Saporischschja, Odessa, Cherson, Mykolajiw, Charkiw, Sumy und Tschernihiw.
Wie waren 2012 die Reaktionen auf das Gesetz? Die Reaktionen fielen sehr heftig aus. Sowohl die politische Opposition als auch die meisten Experten und Bürger waren gegen das Gesetz. Ihre Hauptargumente waren:
- Ein Sprachengesetz müsse auf dem Willen der Bürger beruhen. Es sollte nicht gemäß dem Anteil der “Muttersprachler” laut Volkszählung 2001 von oben einfach aufoktroyiert werden.
- Einen “besonderen” Status für eine bestimmte Sprache könne man nur dann in Betracht ziehen, wenn mehr als 50 Prozent der Bevölkerung einer Region dafür eintreten – und nicht zehn Prozent, wie im Gesetz vorgesehen.
Eine Diktatur der Minderheit? Laut der Volkszählung von 2001 nannten auf der Krim 77 Prozent der Menschen Russisch als Muttersprache und in der Region Tschernihiw nur 10,9 Prozent. Dennoch fielen beide Gebiete unter das “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz”. Neben der Krim gibt es nur zwei weitere Regionen, wo mehr als 50 Prozent der Bürger Russisch als ihre Muttersprache betrachten: Donezk (74,9 Prozent) und Luhansk (68,8 Prozent). Die Regionen Odessa (41,9 Prozent), Charkiw (44,3 Prozent) und Saporischschja (48,2 Prozent) kommen nah an die 50-Prozent-Hürde heran.
Welcher Meinung waren Wissenschaftler? Das “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz” wurde bereits als Entwurf vom Institut für Linguistik, dem Institut für Literatur sowie dem Institut für Staat und Recht der Nationalen Akademie der Wissenschaften, aber auch von vielen anderen wissenschaftlichen Einrichtungen abgelehnt.
Wie stand das Finanzministerium dazu? Das Finanzministerium erklärte 2012, dass sich die Ausgaben für die Umsetzung des Gesetzes auf 12 bis 17 Milliarden Hrywnja pro Jahr belaufen würden. Da die Autoren des Gesetzes keine Kostenpläne für die Umsetzung des Gesetzes geliefert hatten, war auch das Finanzministerium gegen die Verabschiedung des “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetzes”. Es waren weder Finanzmittel noch Mechanismen zur Umsetzung vorgesehen. Daher erschien das Gesetz vielen nur als politisches Mittel, um die ukrainische Gesellschaft zu spalten.
Kritik seitens internationaler Institutionen: Die Venedig-Kommission des Europarates kam zum Ergebnis, dass das “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz” nicht für ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Entwicklung und Anwendung der Staatssprache Ukrainisch als verbindendem Faktor im Leben der Gesellschaft auf der einen Seite und der Entwicklung und dem Schutz von Minderheitensprachen auf der anderen Seite sorgen könne. Und die internationale NGO Freedom House befand, dass die Ukraine zwischen 2008 und 2012 zu den Ländern gehörte, in denen der größte Rückgang demokratischer Indikatoren zu verzeichnen war. Einer der Gründe dafür war nach Ansicht von Freedom House die Verabschiedung des Sprachengesetzes.
Warum wurde das “Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz” erst 2018 für ungültig erklärt? Am 17. November 2016 sollte das Verfassungsgericht der Ukraine auf Antrag von 57 Abgeordneten prüfen, ob das Gesetz der Verfassung des Landes entspricht. Doch das Gericht vertagte das Verfahren. Erst am 28. Februar 2018 erklärte das Gericht das Sprachengesetz für ungültig – aufgrund von Verfahrensverstößen bei dessen Verabschiedung. Unter anderem habe es keine zweite Lesung gegeben und die Abgeordneten hätten keine Änderungen einbringen können. Einige Abgeordnete seien bei der Verabschiedung des Gesetzes nicht im Plenarsaal anwesend gewesen und hätten gar nicht persönlich abstimmen können.
Was kommt als nächstes? Jetzt muss das Parlament ein neues Sprachengesetz verabschieden. Die Fristen für die Prüfung und Abstimmung sind noch nicht bekannt. Derzeit wird von der Öffentlichkeit und den Politikern der Entwurf 5670-D am meisten favorisiert. Er wurde von 76 Abgeordneten erarbeitet. Die Autoren weisen darauf hin, man müsse auf wichtige Unterschiede in soziologischen Erhebungen achten. Während 68 Prozent der Bürger Ukrainisch als ihre Muttersprache betrachten, sprechen nur 50 Prozent Ukrainisch zu Hause und nur 39 Prozent nutzen Ukrainisch bei der Arbeit. Das Problem liegt daher hauptsächlich darin, dass in der Öffentlichkeit der ukrainischen Sprache wenig Platz einräumt wird.
Welche Sprache dominiert in der Ukraine? Zwischen 2016 und 2017 wurden in der Ukraine mehrere Gesetzesänderungen angenommen, mit denen die ukrainische Sprache gefördert werden soll, wie zum Beispiel das Gesetz über Quoten in den Medien. Das aktuelle Gesetz schreibt vor, dass 75 Prozent der TV-Sendungen in ukrainischer Sprache sein müssen. Doch aufgrund der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes liegt der tatsächliche Anteil nur bei 39 Prozent. Der Rest ist rein oder hauptsächlich russischsprachiger Inhalt.
Die Nachfrage nach Ukrainisch übersteigt das Angebot. Laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) aus dem Jahr 2017 ziehen 28 Prozent der Menschen die ukrainische Übersetzung von Büchern vor. 19 Prozent bevorzugen eine russische. 28 Prozent ziehen Zeitungen in ukrainischer Sprache vor, 11 Prozent in russischer. Doch im Handel übersteigt das Angebot von Büchern in russischer Sprache das von Büchern in ukrainischer Sprache um das Dreifache. Und das Angebot von russischsprachigen Zeitungen ist doppelt so groß wie das der Zeitungen in ukrainischer Sprache.
Mobilisiert die “Sprachenfrage” anti-ukrainische Wähler? Umfragen des KIIS, der Soziologischen Gruppe “Rating” und von GfK Ukraine aus den Jahren 2016 und 2017 zeigen, dass nur ein Prozent der Befragten sich Sorgen über den Status der russischen Sprache in der Ukraine machen. Einer Erhebung des KIIS vom Mai 2017 zufolge kommt dieser Anteil selbst in den östlichen Regionen des Landes nicht über drei Prozent.
Braucht die ukrainische Sprache mehr Unterstützung? Gleichzeitig ist die überwiegende Mehrheit der Bürger (64 Prozent) der Meinung, dass der Staat zuallererst die ukrainische Sprache fördern sollte. Nach Angaben des KIIS vom Mai 2017 überwiegt diese Ansicht im Verhältnis zu anderen Sprachen auch in den östlichen und südlichen Regionen – 35 bzw. 38 Prozent wünschen sich dort die Unterstützung der ukrainischen Sprache.
Die englische Fassung dieses Artikels ist erschienen bei Atlantic Council.
Eine Analyse zum neuen Entwurf des Sprachengesetzes wird das UCMC in nächster Zeit vorlegen.