Am 10. September 2019, drei Tage nach ihrer Freilassung, haben Oleksandr Koltschenko und Oleh Senzow in Kiew eine erste Pressekonferenz gegeben. Beide waren über fünf Jahre in Russland im Gefängnis, nachdem sie nach fabrizierten Fällen zu zehn beziehungsweise 20 Jahren Haft verurteilt worden waren. Am 7. September kehrten sie im Rahmen eines Gefangegenaustausches zwischen der Ukraine und Russland zusammen mit 33 weiteren Ukrainern nach Hause zurück. Bei ihrer Pressekonferenz sprachen Senzow und Koltschenko über die Annexion der Krim und die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine, ihre Verhaftung, den Austausch, die Medien sowie über die politische Lage in der Ukraine und in Russland. Einzelheiten vom UCMC:
Wie kamen sie hinter Gitter?
Sowohl die ukrainische Öffentlichkeit als auch die internationalen Partner der Ukraine sind davon überzeugt, dass Senzow und Koltschenko unschuldig sind und dass die Verfahren gegen sie fabriziert waren. Auf die Frage, warum gerade er und Senzow hinter Gitter kamen, sagte Koltschenko: “Ich betrachte dies als einen Unfall. Jeder hätte an meiner Stelle sein können, der zu dieser Zeit Protestaktionen unternahm und sich dem Angriff auf die Freiheiten der Bürger widersetzte. Hinzu kommt, dass ich Sicherheitsregeln missachtet habe.”
“Oleksandr wurde festgenommen, als er am FSB-Gebäude vorbeiging und Bier trank. Für einen professionellen Revolutionär ist das ein Fehler”, sagte Senzow lachend. Auch er ist überzeugt, dass er selbst nicht gezielt ausgesucht wurde und dass auch seine Festnahme Zufall war.
Der ukrainische Filmregisseur Oleh Senzow und der ukrainische Aktivist Oleksandr Koltschenko wurden am 10. Mai 2014 auf der Krim von den russischen Besatzungsbehörden festgenommen. Sie wurden beschuldigt, Terroranschläge geplant zu haben. Senzow hatte zuvor öffentlich die Revolution der Würde in der Ukraine unterstützt und die Annexion der Krim durch Russland verurteilt. Trotz des eindeutig politischen Charakters des Falles, trotz fehlender Beweise und internationaler Proteste, verurteilte ein russisches Gericht Senzow und Koltschenko im August 2015 zu langjährigen Haftstrafen.
Über Russland und die politischen Gefangenen
Zu Beginn der Pressekonferenz dankte Senzow ausnahmslos allen Menschen in vielen Ländern für deren Unterstützung. Er erinnerte daran, dass es immer noch viele ukrainische Gefangene hinter russischen Gittern gibt und versprach, alles für ihre Freilassung zu tun.
“Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit die ukrainischen politischen Gefangenen freikommen. Neben unseren Gefangenen gibt es in Russland auch Russen, die für sich selbst kämpfen, für ein freies Russland, aber auch für unsere Ukraine. Sie sind unsere wahren Brüder. Es ist ja bekannt, was dort alles los ist – die jüngsten Festnahmen und schnellen Gerichtsverfahren. Auch sie sind Gefangene des Kremls”, betonte Senzow.
Über eine Rückkehr auf die Krim
Da beide ehemaligen politischen Gefangenen von der Krim stammen, fragten die Journalisten, ob sie nach ihrer Freilassung auf die Halbinsel zurückkehren würden.
“Solange Putin an der Macht ist, werde ich nicht auf die Krim zurückkehren”, sagte Koltschenko. Senzow fügte von sich hinzu: “Man kann nur auf Panzern dorthin zurückzukehren. Aber nimmt dies nicht wörtlich.”
Wird Senzow in die Politik gehen?
Auf die Frage, ob er vorhabe, in die Politik zu gehen, sagte Senzow, er sei dankbar, dass sich in den letzten fünf Jahren keine Politiker mit ihm in Verbindung gesetzt hätten. “Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich bin keine öffentliche Person, aber das Leben hat mich bekannt gemacht und ich spüre eine Verantwortung. Ich werde für mein Land tun, was ich kann”, sagte er.
Über den Gefangenenaustausch und Frieden mit Russland
Auf die Frage von Journalisten, warum die in Russland illegal verurteilten Gefangenen nicht früher ausgetauscht worden seien, stellte Senzow fest, dass auf allen Ebenen permanent an einer Lösung gearbeitet worden sei. Doch die Russische Föderation sei kein System, das einen Schritt zurück gehen könne. “Putin interessiert sich nicht für Menschen, er interessiert sich nur für seine eigenen Ambitionen”, sagte Senzow und fügte hinzu, er sei froh, dass die frühere ukrainische Führung Putin nicht nachgegeben habe. “Es ist schwer mit Putin zu verhandeln”, unterstrich Senzow.
Gleichzeitig lobte er die Erfolge der jetzigen neuen Führung in Kiew. Russland habe nun die Chance zu einem Neustart in den ukrainisch-russischen Beziehungen. “Präsident Selenskyj kommt auch einen Schritt entgegen. Ich sehe, dass er diesen Konflikt wirklich zum Wohle des Landes lösen will, ohne dass eigene Interessen dabei verloren gehen, und das ist richtig. Ich habe bereits gesagt, dass hundert Jahre Verhandlungen besser sind als ein Tag Krieg”, sagte Senzow.
Doch er betonte, er glaube nicht, dass Russland wirklich Frieden wolle. “Egal wie sehr sich der Wolf im Schafsfell kleidet, seine Zähne sind immer noch in Stellung”, sagte Senzow und fügte hinzu: “Es ist einfacher für Putin, den Kreml abzugeben, als die Krim.”
Über das russische Fernsehen
Senzow berichtete, dass er an den Wochenenden im Gefängnis die Propaganda-Sendungen von Dmitrij Kisseljow im staatlichen russischen Fernsehen gesehen habe, das viele Fakes über die Ukraine verbreite. “Im Gefängnis gibt es wenig Unterhaltung, keinen Zirkus, kein Theater. Und in den Sendungen hat man alles zusammen. Das ist alles sehr witzig. Klar ist, dass man da kein Wort glauben kann”, so Senzow.
Über die Pläne für einen weiteren Hungerstreik
Senzow und Koltschenko sprachen auch über ihren Hungerstreik in Haft. Koltschenko hungerte zehn Tage und Senzow sogar 145. Beide brachen ihren Hungerstreik ab, nachdem ihnen mit Zwangsernährung gedroht wurde.
Senzow sagte, er habe während dieser dramatischen Erfahrung ein Tagebuch geschrieben. “Es wird früher oder später veröffentlicht”, sagte er und betonte, dass es ihm gelungen sei, das Ziel seines Hungerstreiks zu erreichen. Er habe damit auf die politischen Gefangenen in der Russischen Föderation aufmerksam gemacht. “Das war mein Beitrag zu einer gemeinsamen Sache. Ich habe nicht nur auf meine Lage aufmerksam gemacht, sondern auch auf die aller Gefangenen”, so Senzow. Darüber hinaus sagte der Regisseur, dass er im Mai 2019 einen zweiten Hungerstreik beginnen wollte.
Über die Briefe an politische Gefangene
Senzow sagte auch, dass er aus dem Gefängnis 22 Kilogramm Papier in die Ukraine mitgebracht habe – Briefe, Bücher und 15 vollgeschriebene Hefte. “Ich habe keinen einzigen Brief weggeschmissen, ich habe alle mitgebracht, weil sie mir viel bedeuten, ich bewahre sie auf.”
Außerdem sagte Senzow, dass für alle Inhaftierten Briefe das Wichtigste sind. “Alle warten auf Briefe. Also, schreibt, irgendwas. Das hilft sehr”, berichtete Senzow und fügte hinzu, er habe versucht, auf alle Briefe zu antworten. Jedoch habe es ihm missfallen, dass mancher persönlicher Schriftwechsel im Internet gelandet sei.
Über Wladimir Zemach
Senzow sagte ferner, er habe den Namen Zemach zum ersten Mal gehört, als er im Flugzeug von Moskau nach Kiew saß. Wladimir Zemach gilt als wichtiger Zeuge im Fall des Abschusses der malaysischen Boeing mit der Flugnummer MH17 im Juli 2014 über dem Donbass. Zemach wurde im Rahmen des Gefangenenaustausch von der Ukraine an Russland übergeben.
“Ein Berater des Präsidenten kam zu mir und fragte, ob ich gegen diesen Austausch sei. Ich sagte, dass ich zum ersten Mal davon höre… Dann las ich die Nachrichten darüber. Es fällt mir schwer, mich zu dieser Situation zu äußern. Ich mag es nicht, das Vorgehen anderer zu kommentieren. Es gibt einen Präsidenten, dem die Ukraine große Befugnisse und großes Vertrauen verliehen hat. Er hat mehr Informationen als wir. Er hat diese Entscheidung getroffen, also war sie nötig”, so Senzow.
Über die politische Lage in der Ukraine
Auf die Frage, wie er den politischen Wandel im Land einschätzt, sagte Senzow, er möge keine voreiligen Schlüsse. “Aber angesichts der Briefe von Menschen, denen ich vertraue, gibt es Schwierigkeiten, nicht alles ist gut, vieles ist nicht gemacht oder schlecht gemacht worden. Aber im Allgemeinen bewegt sich das Land in die richtige Richtung”, betonte Senzow.
Er sagte weiter: “Ich gehöre nicht zum Selenskyj-Lager oder zu einem anderen. Ich bin ich selbst”, so der Regisseur.
Über die Pläne für die Zukunft
Auf die Frage von Journalisten, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, sagte Koltschenko, er würde gerne sein Studium an der Nationalen Taurischen Universität in Simferopol fortsetzen, wo er vor seiner Festnahme studiert habe. “Ich habe dort per Fernstudium zwei Kurse absolviert”, berichtete er.
Und Senzow sagte: “Ich werde die zwei wundervollsten Dinge auf dieser Erde tun: Filme drehen und leben.”