Das ukrainische Parlament löst die Zentrale Wahlkommission auf. Was bedeutet das?

Am 13. September hat das ukrainische Parlament die gesamte Zentrale Wahlkommission entlassen, die unter anderem die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühjahr und Sommer 2019 sichergestellt hatte. Diese Wahlen wurden von den internationalen Partnern der Ukraine als frei und fair gelobt. Dennoch hat nun das Parlament der Wahlkommission das Mandat vorzeitig entzogen. Die jetzigen Mitglieder waren nur ein Jahr im Amt, statt sieben. Deren Entlassung geht auf Präsident Wolodymyr Selenskyj zurück, der dem zuständigen Parlamentsausschuss einen entsprechenden Antrag vorgelegt hatte. Experten erläutern, was dies zu bedeuten hat. Einzelheiten vom UCMC:

Was ist passiert? Am 10. September leitete der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, die Entlassung aller Mitglieder der Zentralen Wahlkommission ein. Am 12. September 2019 wurde der Vorschlag des Präsidenten vom zuständigen Parlamentsausschuss geprüft, und am 13. September stimmten 341 Abgeordnete für die Entscheidung.

Was ist die Zentrale Wahlkommission?Sie ist ein ständiges kollegiales Staatsorgan, das befugt ist, Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen zu organisieren und durchzuführen. Sie ist ein Gremium, das nach seinem Status unabhängig, unparteiisch und von keiner der politischen Kräfte sowie von keinem höheren Staatsorgan kontrolliert wird. Sie ist ein Organ, das weder dem Parlament noch dem Präsidenten unterstellt ist. Daher wirft jede politische Aktion in Bezug auf die Wahlkommission natürlich Fragen in der Gesellschaft und unter Experten auf.

Warum ist der Präsident mit der Zentralen Wahlkommission unzufrieden? Präsident Selenskyj wirft der Wahlkommission vor, befangen und nicht ausgewogen genug zu sein. Insbesondere heißt es in dem Antrag des Präsidenten, dass die Zentrale Wahlkommission wiederholt unzureichende Ausgewogenheit oder sogar politische Voreingenommenheit an den Tag gelegt habe. Beweis dafür sei die Tatsache, dass die Wahlkommission es abgelehnt habe, 28 Kandidaten für die Parlamentswahlen zu registrieren. Selenskyj erwähnt auch den Fall im Wahlkreis 169 in Charkiw, wo die Wahlkommission Oleksandr Kunyzkyj, einen Kandidaten der Präsidenten-Partei “Diener des Volkes”, zu den Wahlen zunächst nicht zulassen wollte. Später gewann Kunyzkyj gegen Oleksandr Hranowskyj.

Ein weiterer Grund für die Entlassung der Wahlkommission ist auch ihre Haltung zur Lage im Wahlbezirk 198, wo ein Gericht die Registrierung des Abgeordneten Serhij Rudyk annullierte, der allein bei den Wahlen angetreten war. Der Präsident bezeichnete das Vorgehen der Wahlkommission als “äußerst seltsam und inkonsequent”. Letztlich führt der Präsident als Argument die Probleme im Bezirk 198 in der Region Tscherkassy an, wo als Wahlsieger zunächst Serhij Rudyk anerkannt wurde, doch dann hob ein Gericht diese Entscheidung auf. Das geschah auf Antrag des Kandidaten der Partei “Diener des Volkes”. Als der Antrag auf Auflösung der Wahlkommission gestellt wurde, verschob sie die Nachzählung der Stimmen im Wahlkreis 198.

Politische Bewertungen. Nur zwei Fraktionen des Parlaments – die der Partei “Europäische Solidarität” und der Partei “Stimme” – erklärten von Anfang an, dass sie die Auflösung der Wahlkommission unter keinen Umständen unterstützen würden, da dies undemokratisch sei und zur Usurpation von Macht führe. Die Leitung der Zentralen Wahlkommission erklärte, dass die Auflösung der Kommission die Rechtmäßigkeit der Wahlen in Zweifel ziehe.

Einschätzungen von Experten.Die meisten unabhängigen Experten meinen, dass Selenskyjs Entscheidung legitim, aber unzureichend begründet sei. Olha Ajwasowsk von der gesellschaftlichen Organisation “Opora”, sagte: “Unserer Meinung nach ist diese Einreichung legitim, motiviert, aber unzureichend begründet. Aus der Sicht der vorgebrachten Argumente können wir nicht sagen, dass es vernünftige Gründe gibt, die gesamte Wahlkommission aufzulösen.”

Andrij Mahera, Rechtsanwalt und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission, würdigte die professionelle Arbeit der Kommission im Jahr 2019: “Die Präsidentschaftswahlen wurden meiner Meinung nach bestmöglich organisiert und durchgeführt. Es gibt überhaupt keine Beschwerden, was die Arbeit der Wahlkommission betrifft. Auch die Parlamentswahlen wurden wie die Präsidentschaftswahlen von internationalen Beobachtern gelobt, die die Situation sorgfältig untersucht haben.”

Auf dem Weg zur Usurpation der Macht? Einige Beobachter meinen, dass die neue Staatsmacht mit ihrer Entscheidung größere Kontrolle über die Wahlkommission erlangen wolle. “Das neue Team der Staatsmacht konzentriert die Macht so weit wie möglich in ihren Händen. Ihr passt nicht das Organ, das während des Wahlkampfs Professionalität und gleiche Distanz gegenüber allen politischen Kräften gezeigt hat, auch gegenüber den politischen Kräfte, die viele Mitglieder in die Wahlkommission entsandt hatten”, sagte Oleksandr Tschernenko dem ukrainischen Sender “Hromadske”. Tschernenko ist Experte für Wahlrecht und war im vergangenen Parlament Abgeordneter der Partei “Block Petro Poroschenko”.

Die Frage von Referenden.Der Wunsch, die Zusammensetzung der Wahlkommission zu erneuern, kann auch mit dem Wunsch der neuen Staatsmacht zusammenhängen, Volksabstimmungen durchzuführen. “Obwohl es noch kein Gesetz über Referenden gibt, ist klar, dass ein solches Gesetz kommen wird. Alle schwierigen Fragen, die zu Unzufriedenheit führen können, will die Staatsmacht mittels Referenden durchsetzen. Daher wird die neue Wahlkommission eine wichtige Rolle spielen – die Organisation von Referenden, die eher umstrittene Entscheidungen der neuen Regierung legitimieren würden”, vermutet Tschernenko.

Die Minsker Vereinbarungen. Es ist möglich, dass eine Neubesetzung der Wahlkommission auch mit dem Minsk-Prozess zusammenhängt, den Selenskyj aktivieren will. Denn die Minsker Vereinbarungen enthalten einen Punkt, in dem es um Wahlen in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten der sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” geht. “Wir werden auf eine sehr schnelleUmsetzung der Minsker Vereinbarungen vorbereitet, jedoch nicht in der Reihenfolge, wonach zuerst unsere Gebiete befreit und dann dort Wahlen organisiert werden, sondern höchstwahrscheinlich in der von Russland vorgegebenen Reihenfolge: Erst Wahlen und dann die Befreiung und dann der Rückzug der Truppen. Wenn jedoch Wahlen gemäß den OSZE-Standards durchgeführt werden sollen, dann können keine Wahlen abgehalten werden, solange es dort bewaffnete Verbände gibt und solange das Wählerregister nicht erneuert wird. Das wird jeder Experte sagen. Aber offenbar braucht die Staatsmacht eine Wahlkommission, die keine unnötigen Fragen stellen wird”, sagte Tschernenko.

Die weiteren Entwicklungen werden die konkreten Gründe für die Entscheidung des Präsidenten noch aufzeigen. Derzeit ist jedoch klar, dass der Versuch, eine Wahlkommission zu bilden, die der Staatsmacht gegenüber loyal ist, weder für die ukrainische Gesellschaft noch für die internationale Gemeinschaft ein positives Signal ist.