Die Steinmeier-Formel: Was riskiert die Ukraine?

Die Zustimmung Kiews zur sogenannten Steinmeier-Formel hat diese Woche in der Ukraine für Aufsehen gesorgt. Mit der Formel wird der Beginn einer Lösung des Donbass-Konflikts verbunden. Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) hatte bereits in einem Beitrag über sie ausführlich berichtet. Am 1. Oktober teilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz mit, die Ukraine habe die Steinmeier-Formel unterschrieben. Doch viele Fragen bleiben offen. Die Interpretationen reichen von einer gefährlichen Destabilisierung des Landes bis hin zur Kapitulation der Ukraine. Noch am selben Abend demonstrierten Menschen auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Die Protestkundgebung wurden am folgenden Tag, dem 2. Oktober, fortgesetzt. Darauf reagierte Selenskyj mit einer Videobotschaft, in der er den Ukrainern versicherte, die Interessen des Staates nicht zu verraten. Für den 6. Oktober sind erneut Proteste auf der Maidan geplant. Das UCMC fasst die Risiken und möglichen Szenarien der weiteren Entwicklung zusammen.

Die ukrainische Öffentlichkeit schaut derzeit gespannt auf die Steinmeier-Formel und ein künftiges Treffen im Normandie-Format (Ukraine, Deutschland, Frankreich, Russland). Gleichzeitig fehlt den Menschen aber ein umfassendes Bild der Pläne der neuen ukrainischen Führung, geschweige denn von ihrer Strategie, was die Beziehungen zu Russland angeht. Klar ist nur, dass die Ukraine und Russland unterschiedliche Sichtweisen vertreten.

Strategische Ziele: Die Ukraine, Russland und die “Volksrepubliken”.Seit Beginn des militärischen Konflikts im Jahr 2014 war die ukrainische Position bezüglich einer Regelung vom Wunsch bestimmt, die besetzten Gebiete in den Staat wieder einzugliedern, dort die eigene staatliche Souveränität und Vorkriegssituation wiederherzustellen.

Moskau strategisches Ziel ist hingegen, die Ukraine in den russischen Einflussbereich zu bekommen und Kiew maximale Ausgaben aufzubürden. Taktisch geht es Russland dabei um die Aufhebung der Sanktionen, zumindest jener, die wegen des Kriegs im Donbass verhängt wurden, aber auch um die Legitimierung der “Behörden der Volksrepubliken Luhansk und Donezk”. Gerade dies würde Russland Hebel zum Einfluss auf die ganze Ukraine verleihen. Zudem will der Kreml die Last, die der Donbass für Russland darstellt, loswerden. Doch ihm geht es auch darum, ständige Konflikte in der Ukraine auszulösen und sie in eine endlose innere Konfrontationen zu stürzen. Das ist die Formel des russischen Modells eines kontrollierten Chaos im Nachbarland.

Und die neuen “Eliten der Volksrepubliken Donezk und Luhansk” streben vor allem ihre Legitimierung an. Dazu gehört die Garantie der persönlichen Sicherheit für Vertreter der prorussischen Separatisten und der sogenannten “Behörden” der selbsternannten Republiken sowie deren Beteiligung am “Wiederaufbau des Donbass”.

Was hat sich geändert und ist ein Kompromiss möglich?Laut Soziologen hat sich in der ukrainischen Gesellschaft eine relativ stabile Meinung zum Konflikt mit Russland gebildet. Die Menschen wollen Frieden, aber nicht um jeden Preis. Sie wollen die besetzten Gebiete als Teil der Ukraine sehen, aber größtenteils zu den Bedingungen, die vor dem Krieg herrschten – also ohne einen “Sonderstatus”. Je näher die Menschen an der Trennlinie leben, desto größer ist ihre Kompromissbereitschaft. Aber überall, auch in den Gebieten direkt an der Front, wollen die Menschen keine Wahlen zu russischen Bedingungen. Sie lehnen auch eine vollständige Amnestie der von Russland unterstützten Separatisten ab und wollen nicht, dass die Rechtsschutzorgane in den sogenannten “Volksrepubliken” ausschließlich mit dortigen Bewohnern besetzt werden. Der ukrainische Präsident Selenskyj wird all dies berücksichtigen müssen. Er wird aber auch erläutern müssen, mit welchen Zugeständnissen gegenüber Russland er das ukrainische Szenario einer Wiedereingliederung des Donbass umsetzen will. Schließlich gibt es keine Hinweise auf eine Kompromissbereitschaft Russlands.

Wahlen nicht als Ziel, sondern als Mittel.Mit seiner Videobotschaft wollte Selenskyj die Ukrainer beruhigen. Er nannte alle wichtigen Punkte, die die ukrainische Gesellschaft hören möchte: den Abzug der russischen Truppen aus dem Donbass vor möglichen Lokalwahlen, die Wiederherstellung der Kontrolle über die Staatsgrenze zu Russland im Donbass sowie die Kontrolle über die Wahlen, die europäischen und ukrainischen Standards entsprechen müssen. Doch der Präsident erklärte nicht, wie er dies umsetzen will und welche Methoden und Mechanismen zur Anwendung kommen sollen. Es ist diese Unsicherheit, die Zweifel weckt und Protestpotential nährt.

Die Diskussion über die eigenen Verpflichtungen bezüglich der Wahlen, während die militärischen Handlungen faktisch weitergehen, bedeutet dazu beizutragen, dass Russland aus dem Konflikt ausgeklammert wird, was der Kreml auch anstrebt. Ein Waffenstillstand und Wahlen sind nur ein Mittel, nicht das eigentliche Ziel Russlands. Die ukrainische Gesellschaft ist sich dessen bewusst, dass eine Normalisierung der Lage unter für die Ukraine ungünstigen Bedingungen dazu führen wird, dass die Ziele des Kremls und nicht die der Ukraine erreicht werden. Daher stellen sich im Zusammenhang mit Selenskyjs Aussagen einige konkrete Fragen.

Wie wird das neue Gesetz über den Sonderstatus des Donbass aussehen?Das im September 2014 verabschiedete Gesetz über die Besonderheiten der lokale Selbstverwaltung läuft am 31. Dezember 2019 aus. Die ukrainische Führung hat zwei Möglichkeiten: das Gesetz entweder zu verlängern, was schon einmal geschehen ist, oder ein neues zu verabschieden.

Am 1. Oktober kündigte Selenskyj zum ersten Mal ein neues Gesetz an. Inwiefern wird es sich von dem jetzigen unterscheiden? Wer wird den Inhalt bestimmen? Die Hauptgefahr besteht darin, dass der Inhalt der Gesetzesvorlage, die noch gar nicht existiert, von den Verhandlungen im Normandie-Format abhängen wird. Welchen “Weg zum Frieden”man dort vereinbart, so ein Gesetz wird man später dem Parlament vorlegen. Andernfalls müsste die ukrainische Führung noch vor einem Treffen im Normandie-Format die Hauptpunkte eines Gesetzes darlegen. Daher könnte sich herausstellen, dass die Steinmeier-Formel, der die Ukraine zugestimmt hat, einen noch unbekannten Plan in Gang setzen soll.

Wahlen in den besetzten Gebieten: Nach welchem Gesetz?In dem unterschriebenen Brief, mit dem die Ukraine dem Wortlaut der Steinmeier-Formel zugestimmt hat, geht es um ein Sondergesetz über vorgezogene Wahlen in den derzeit besetzten Gebieten. Doch weiß überhaupt jemand, was in dem Gesetz stehen wird? Kann jemand garantieren, dass dieses Gesetz keine Sonderbedingungen für die Durchführung von Wahlen in den besetzten Gebieten enthalten wird?

In einem solchen Sondergesetz könnte festgeschrieben werden, dass die Wahlen nicht von der ukrainischen Zentralen Wahlkommission (wie es sein sollte), oder nicht von ihr allein organisiert werden, und dass die Sicherheit nicht allein von der ukrainischen Nationalen Polizei (wie es sein sollte) garantiert wird, sondern von hybriden Einheiten, bestehend aus Vertretern der ukrainischen Polizei und örtlichen “freiwilligen Ordnungskräften”. Hier bestehen äußerst viele Unsicherheiten.

Instrumente und Garantien.Präsident Selenskyj versichert allen: Unter Besatzungstruppen und ohne eine ukrainische Kontrolle über die Staatsgrenze im Donbass werde es keine Wahlen geben. Es müsse eine allgemeinen Entwaffnung, Entmilitarisierung und ein Abzugs der russischen Truppen stattfinden. Aber wie soll dies erreicht werden? Mit welchen Instrumenten? Wer soll das machen?

In den vergangenen Jahren wurde die Idee eines internationalen Kontingents stark propagiert: Nach diesem Szenario bekäme die Ukraine nicht sofort Zugang zu jenen Gebieten und in einer Übergangszeit würde Kiews Rolle von einer internationalen Mission wahrgenommen werden. Die neue ukrainische Führung hat diese Idee aufgegeben. Aber wer kann die Funktionen einer Mission ersetzen? Kann sich die Ukraine auf ein “Ehrenwort” Russlands verlassen, auf die Zusage, dass es sich aus jenen Gebieten vollständig zurückzieht? Oder auf die Zusage der “Volksrepubliken”, dass sie ihre angeblich drei Schützenpanzer und 100 Maschinengewehre abgeben und damit die Entwaffnung abgeschlossen sein wird? All diese Fragen bedürfen genauen Antworten.