Seit dem angebotenen, aber nicht eingetretenen Rücktritt vom Premierminister Oleksij Hontscharuk ist klar, dass in der ukrainischen Regierung Veränderungen anstehen. Bei jenem Treffen am 17. Januar gab Präsident Wolodymyr Selenskyj dem Premier eine “zweite Chance”, aber auch den Auftrag, eine Umbildung des Kabinetts vorzubereiten. In diesen Tagen haben die ukrainischen Medien viel über mögliche Umbesetzungen geschrieben. Was ist aktuell bekannt? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Die ukrainische Internetzeitung “Ukrajinska Prawda” berichtete unter Berufung auf eigene Quellen, am 1. Februar habe es im Büro des Präsidenten mehrere Treffen hinter verschlossenen Türen gegeben – mit potenziellen Kandidaten für Ministerposten. Gesehen worden sein sollen Oleksij Resnikow, Vertreter der Ukraine in der “Minsk-Gruppe”, Halyna Tretjakow, Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für Sozialpolitik, sowie der Vizepremier für europäische Integration, Dmytro Kuleba.
Die Gespräche mit ihnen sollen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Premier Hontscharuk geführt haben, aber auch die Präsidentenberater Serhij Schefir und Andrij Jermak. Nicht daran teilgenommen haben soll Andrij Bohdan, Leiter des Büros des Präsidenten. Er war an der Bildung der gegenwärtigen Regierung im Sommer vergangenen Jahres maßgeblich beteiligt. Laut “Ukrajinska Prawda” hat sich Bohdan aufgrund eines Konflikts mit Jermak von der jetzigen Regierungsumbildung zurückgezogen.
Worin besteht der Konflikt zwischen Bohdan und Jermak?
Interessant ist, dass sich in den letzten Wochen Andrij Bogdan von Präsident Selenskyj zunehmend entfernt und der Einfluss von Andrij Jermak allmählich zunimmt.
Bohdan galt seit den Präsidentschaftswahlen in Selenskyjs Umfeld als “graue Eminenz”. Ihm hatte der Präsident zu verdanken, dass schnell ein Team und eine Regierung, aber auch eine Fraktion im Parlament gebildet werden konnten. In den ersten Monaten von Selenskyjs Präsidentschaft schien es zuweilen, dass nicht er, sondern Bohdan das Land regierte. Doch Bohdan hat ein Image-Problem, denn er fällt unter das Lustrationsgesetz, da er für die Regierung unter dem ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch tätig war. Zudem war er Anwalt des Oligarchen Ihor Kolomojskyj.
Unterdessen nimmt das Gewicht von Andrij Jermak innerhalb des Teams des Präsidenten zu. Jermak, von dem vorher kaum jemand etwas gehört hatte, war in den letzten Monaten aktiv in der Außenpolitik, darunter bei den Verhandlungen mit Russland. Nach dem erfolgreichen ukrainisch-russischen Gefangenenaustausch im September 2019, als der bekannte Regisseur Oleh Senzow vom Kreml freigelassen wurde, aber auch nach der Rückgabe der von Russland im Asowschen Meer festgesetzten ukrainischen Schiffe und dem “Normandie-Gipfel” im Dezember 2019 in Paris rückte Jermak immer stärker in die Öffentlichkeit – und auf Fotos immer näher an Selenskyj heran, auf denen er zunehmend Andrij Bohdan verdrängte.
Am 19. Januar, als die Staatsführung im Kiewer Flughafen Boryspil die Leichen der Ukrainer in Empfang nahm, die beim Abschuss der Passagiermaschine von Ukraine International Airlines im Iran getötet wurden, war der Leiter des Büros des Präsidenten, Andrij Bohdan, nicht anwesend. Grund dafür soll der “Ukrajinska Prawda” zufolge ein Streit zwischen Bohdan und Jermak über das Protokoll gewesen sein.
Was ist mit der Regierung?
Nach vorliegenden Informationen soll die Umbildung der Regierung von Oleksij Hontscharuk drei strategischen Aufgaben folgen:
Suche nach neuen Vizepremierministern.Es sollen neue Posten geschaffen werden, die für ganze Sektoren zuständig sind. Gleich mehrere entsprechende Vizepremiers sollen ernannt werden. Bereits am 4. Februar entließ das Parlament die Ministerin für Gemeinde- und Gebietsentwicklung, Aljona Babak, und ernannte stattdessen Denys Schmyhal, den ehemaligen Gouverneur des Gebiets Iwano-Frankiwsk und Direktor eines Kraftwerks der Energieholding des Oligarchen Rinat Achmetow. Geprüft wird die Schaffung eines Vizepremier-Postens, der für Wirtschaft, Investitionen und Industrie zuständig wäre.
Aufteilung von Ministerien.Als im Sommer 2019 die Regierung Hontscharuk gebildet wurde, wurden gleich mehrere Ministerien zusammengelegt. Die meisten von ihnen könnten nun wieder in separate Ministerien unterteilt werden. So soll das jetzige Ministerium, das für die besetzten Gebiete, Veteranen und Binnenflüchtlinge zuständig ist, geteilt werden. Um die Veteranen soll sich künftig die jetzige Ministerin Oksana Koljada kümmern, und um die besetzten Gebiete als Minister Oleksij Resnikow.
Auch das Wirtschaftsministerium und Ministerium für Landwirtschaft sollen wieder getrennt werden. Gesucht wird noch ein Kandidat für das Amt des Landwirtschaftsministers. Gleichzeitig soll Präsident Selenskyj fürchten, die Landreform könnte an der Trennung des jetzigen Ministeriums scheitern.
Das Kulturministerium und das Jugendministerium, die derzeit in einem Ministerium für humanitäre Fragen unter der Leitung von Wolodymyr Borodjanskyj zusammengefasst sind, sollen ebenfalls wieder getrennt werden. Wahrscheinlich wird der jetzige Minister den Bereich Sport abgeben, aber nicht an ein neues Ministerium, sondern an die staatliche Agentur für Sport, die dem Kulturminister zugeordnet sein wird. Die Leitung der Agentur soll eine aktive und medienwirksame Person übernehmen. Der “Ukrajinska Prawda” zufolge soll Oleksandr Schowkowskyj, Ex-Torhüter von “Dynamo Kiew” und der ukrainischen Nationalmannschaft, für diese Position im Gespräch sein.
Wechsel auf Ministerposten.Geplant sind mehrere Entlassungen in der Regierung, unter anderem der Ministerin für Sozialpolitik, Julia Sokolowska. Für ihren Posten ist Halyna Tretjakow, Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für Sozialpolitik, im Gespräch. Sie soll dem Präsidentenberater Andrij Jermak nahestehe.
Äußeres, Verteidigung und Inneres.Präsident Selenskyj schaut aufmerksam auch auf die Minister, die formal seine Quote in der Regierung darstellen. Offen ist, was mit Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk und Außenminister Wadym Prystajko geschehen wird.
“Es ist eine seltsame Situation mit Prystajko: Er ist ein guter Diplomat, aber als Minister hat er sich nicht bewährt. In den letzten Monaten hat er sich mit fast allen im Team zerstritten”, sagte der “Ukrajinska Prawda” ein Gesprächspartner im Büro des Präsidenten.
Der Minister selbst sagte, dass er keinen Grund für einen Rücktritt sehe und dass alles vom Präsidenten abhänge: “Was eine mögliche Entlassung angeht, ich bin Berufsdiplomat, habe in verschiedenen Ländern gearbeitet, Jobs gewechselt. Meine Abmachung mit Präsident Selenskyj war von Anfang an, dass wir zusammenarbeiten, solange ich von Nutzen sein kann. Ich finde, dass Diskussionen darüber, dass irgendjemand irgendetwas ändern will, heute keine Grundlage haben. Zumindest haben der Präsident und ich nicht darüber gesprochen.”
Der Gesprächspartner der “Ukrajinska Prawda” im Büro des Präsidenten sagte auch, dass sich Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk “im Amt nicht bewährt” habe.
Eine Ablösung des “ewigen” Innenministers Arsen Awakow, der im Sommer 2019 nur vorübergehend “auf persönliche Verantwortung” des Präsidenten auf seinem Posten belassen wurde, wird im Rahmen der aktuellen Debatte um eine Regierungsumbildung nicht erörtert. Der Präsident hatte das Schicksal des Innenministers von Erfolgen bei Ermittlungen in aufsehenerregenden Straftaten abhängig gemacht, darunter von einer Aufklärung des Mordes an dem Journalisten Pawel Scheremet.
Über die Gespräche im Büro des Präsidenten ist Journalisten und den Bürger noch wenig bekannt, aber auch den derzeitigen Ministern und den meisten Abgeordneten der allein regierenden Präsidenten-Partei “Diener des Volkes”, obwohl die Bildung einer Regierung formal eine Funktion des Parlaments ist.