Forderungen von IWF und Kolomojskyj: Die Ukraine am Scheideweg

Viele ukrainische Unternehmer und Ökonomen sind der Meinung, dass die ukrainische Wirtschaft während der Coronavirus-Krise nur noch mit Hilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu retten ist. Doch die Zusammenarbeit mit dem IWF “pausiert” derzeit. Grund dafür sind über 16.000 Änderungen zu einem Gesetzesentwurf, der verstaatlichte Banken betrifft. Sie wurden von Abgeordneten eingebracht, die zum Umfeld des Oligarchen Ihor Kolomojskyj gezählt werden.

Ende März verabschiedeten die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments in zweiter Lesung das Gesetz über den Handel mit Agrarland und in erster Lesung das Bankengesetz, das auch als “Anti-Kolomojskyj-Gesetz” bezeichnet wird. Danach erklärten Regierungsbeamte und Beobachter, die Ukraine könne schon bald – buchstäblich in einer Woche – nicht nur ein neues Programm mit dem IWF starten, sondern von ihm auch Hilfen zur Bekämpfung des Coronavirus erhalten. Auch andere Kreditprogramme internationaler Partner – der Weltbank und der EU – sind an die Zusammenarbeit mit dem IWF  gebunden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj deutete an, Kiew könnten bis zu zehn Milliarden Dollar gewährt werden.

Position des IWF. Nach der ersten Lesung begrüßte der IWF, dass das ukrainische Parlament einen Gesetzentwurf unterstütze, mit dem die Grundsätze der Umstrukturierung der Banken gestärkt würden. Der IWF erwarte nun eine endgültige Verabschiedung des Entwurfs. Ferner rechne der IWF mit der Annahme von Änderungen zum Staatshaushalt 2020, die den Behörden helfen würden, Antworten auf die Herausforderungen rund um die Krankheit COVID-19 zu finden, hieß es in einer Erklärung des Ständigen Vertreters des IWF in der Ukraine, Goesta Ljungman.

Mit anderen Worten, um Geld vom IWF und anderen Gläubigern zu erhalten, muss Kiew seinen Staatshaushalt ändern und das sogenannte “Anti-Kolomojskyj-Gesetz” verabschieden, das verhindern soll, dass verstaatlichte Banken an ihre früheren Eigentümer zurückgegeben werden können. Es richtet sich vor allem gegen den Milliardär Ihor Kolomojskyj, der es auf die im Jahr 2016 verstaatlichte PrivatBank abgesehen hat.

Die Regierung hatte bereits am 30. März dem Parlament vorgeschlagen, die notwendigen Änderungen zum Staatshaushalt zu verabschieden. Doch es fehlten drei Stimmen für eine erfolgreiche Abstimmung. Und die nächste, also zweite Lesung des Bankengesetzes soll auf einer weiteren außerordentlichen Sitzung, möglicherweise schon am am 13. April, erfolgen.

16.000 Änderungsanträge. Die zweite Lesung des Bankengesetz wird allerdings durch mehr als 16.000 Änderungsanträge von Abgeordneten blockiert. Sie wurden größtenteils von Abgeordneten der regierenden Partei “Diener des Volkes” eingebracht. Zum Vergleich: Die zweite Lesung des Gesetzes über den Handel mit Agrarland, zu dem es über 4000 Änderungsanträge gab, dauerte fast zwei Monate.

Jaroslaw Schelesnjak von der Partei “Stimme” bezeichnete die 16.000 Änderungsanträge als “absoluten Rekord”. Frühere umstrittene Gesetze – der Verfassungsentwurf, das Wahlgesetz und das Gesetz über den Handel mit Agrarland – hätten weniger als die Hälfte an Anträgen erreicht.

Der ukrainische Investmentbanker Sergij Fursa hat ausgerechnet, dass das Bankengesetz aus 16.000 Wörtern besteht. Er vermutet, dass Ihor Kolomojskyj für jeden der 16.000 Änderungsanträge zahlt. Letztlich habe sich eine absurde Situation ergeben, aus der nur ziemlich schwer ein Ausweg zu finden sei, so Fursa. Die Folgen können ihm zufolge katastrophal sein. “Ohne den IWF gibt es kein Geld, und ohne Geld gibt es eine Wirtschaftskatastrophe”, schrieb er auf Facebook.

Wer hat die Änderungsanträge eingereicht? Die meisten Änderungsanträge – über 6000 – wurden vom Abgeordneten Anton Poljakow eingereicht. Er war schon zuvor aus der Fraktion der Partei “Diener des Volkes” ausgeschlossen worden. Mehrere weitere Abgeordnete der Partei reichten jeweils über 1000 Änderungsanträge ein. Sie alle waren früher entweder mit der PrivatBank, mit politischen Organisationen oder Medien verbunden, die in einem Zusammenhang mit Ihor Kolomojskyj stehen. Darunter ist zum Beispiel die Abgeordnete Olha Wasylewska-Smahljuk, die früher für den landesweiten privaten TV-Sender “1+1” tätig war. Allein sie reichte 1500 Änderungsanträge zum Bankengesetz ein.

Auch Parlamentarier mit einem Direktmandat beteiligten sich an den Änderungsanträgen, darunter die Abgeordneten aus der Region Dnipropetrowsk Dmytro Tschornyj und Serhij Demtschenko. Beide werden mit Swjatoslaw Olijnyk, dem Vorsitzenden des Regionalparlamentes, in Verbindung gebracht. Olijnyk wiederum gilt als enger Gefährter von Ihor Kolomojskyj. Außerdem wurden fast 2000 Änderungsanträge von Viktor Bondar, dem Ko-Vorsitzenden der Abgeordnetengruppe “Für die Zukunft”, eingebracht.

Was sagt Kolomojskyj? Der Milliardär ist ehemaliger Miteigentümer der verstaatlichten PrivatBank. Er erklärte, er habe mit der rekordverdächtigen Anzahl von Änderungsanträgen zum Bankengesetz nichts zu tun. “Ich würde es nicht als Anti-Kolomojskyj-Gesetz bezeichnen, sondern als Anti-Ukraine-Gesetz. Das ist Handel mit der Souveränität und Verfassung für 30 Silberlinge, jedoch für sehr wertvolle”, sagte er gegenüber der ukrainischen Zeitung “NW”.

Zuvor hatte sich Kolomojskyj wiederholt dafür ausgesprochen, die Ukraine solle die Zahlungsunfähigkeit erklären und ablehnen, ihre äußeren Verpflichtungen zu bedienen. Dies könnte seiner Meinung nach Geld zur Lösung interner Probleme freisetzen. In dem Interview für die Zeitung “NW” stellte er klar, er trete nicht für einen Staatsbankrott ein, sondern für eine “Umschuldung”. Er betonte auch, er habe mit Präsident Selenskyj über dieses Gesetz nicht gesprochen. “Ich habe überhaupt nichts diskutiert. Die Leute haben ihren eigenen Weg gewählt, und der führt ins Nirgendwo – was die Erfahrung mit den Vorgängern Jazenjuk, Poroschenko, Hrojsman und Hontscharuk gezeigt haben”, sagte er.

Reaktionen der Geschäftswelt. Acht führende ukrainische Wirtschaftsverbände haben unterdessen die Dringlichkeit der IWF-Hilfe angemahnt. Sie wandten sich mit einer gemeinsamen Erklärung an die Abgeordneten des Parlaments, in der sie vor gefährlichen Folgen einer Verweigerung der Zusammenarbeit mit dem IWF warnen.

“Die Unterstützung des IWF und anderer internationaler Partner ist die einzige Überlebenschance für unser Land”, unterstrich Anna Derewjanko, Geschäftsführerin der European Business Association. Sie erklärte, mit einem IWF-Programm würde vorläufigen Schätzungen zufolge – sollten die Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus noch mehrere Monate andauern – die ukrainische Wirtschaft um neun Prozent schrumpfen und der Wechselkurs der Landeswährung 35 Hrywnja pro US-Dollar erreichen. Ohne Unterstützung des IWF und anderer Organisationen könnte die Abwertung der Hrywnja 45 bis 65 Prozent betragen und damit der Wechselkurs zwischen 50 bis 80 Hrywnja pro US-Dollar liegen.