Warum verschwinden Menschen auf der Krim? Neue Studie von CrimeaSOS

Am 1. Dezember 2020 wurde beim Ukraine Crisis Media Center (UCMC) eine Studie der gesellschaftlichen Organisation CrimeaSOS über das Verschwindenlassen von Menschen auf der Krim in den Jahren 2014 bis 2020, also seit der Besetzung der Halbinsel durch die Russischen Föderation, vorgestellt. Dies ist bereits die zweite derartige Studie des Teams von CrimeaSOS. Mit der ersten wurden alle Fälle zwischen 2014 und 2017 systematisiert – darunter die Angaben zu Opfern, die später tot aufgefunden, freigelassen oder verhaftet wurden. Das Schicksal mancher ist bis heute unbekannt. Was fordern die Aktivisten von den ukrainischen Behörden und der internationalen Gemeinschaft?

Nach Angaben von CrimeaSOS sind in den fast sieben Jahren russischer Besatzung der Krim 44 Menschen auf der Halbinsel unfreiwillig verschwunden. Das Schicksal und der Aufenthaltsort von 15 von ihnen ist weiterhin unbekannt. Es handelt sich dabei um Timur Shaimardanov, Seyran Zinedinov, Islam Dzhepparov, Dzhevdet Islamov, Eskender Apselyamov, Mukhtar Arislanov, Ruslan Ganiev, Arlen Terekhov, Ervin Ibragimov, Eskender Ibraimov, Valery Vashchuk, Ivan Bondarec, Wasyl Chernysh, Fedir Kostenko und Arsen Aliev. Sie alle sind pro-ukrainische und krimtatarische Aktivisten oder Familienangehörige einiger von ihnen. Die von der NGO CrimeaSOS vorgestellte Studie ist gerade diesen 15 Menschen gewidmet.

Geschichten, Reaktionen und Aktionen. Die Präsentation der Studie beim UCMC konzentrierte sich auf drei Hauptaspekte: die Geschichte der Menschen und Familien, die Reaktion der ukrainischen Behörden und die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, nach den Vermissten zu suchen und Straflosigkeit zu verhindern.

Zur Veranstaltung waren Angehörige vermisster Menschen auf der Krim zugeschaltet, darunter Abdureshit Dzhepparov (Vater von Islam Dzhepparov und Onkel von Dzhevdet Islamov) und Larisa Shaimardanova (Mutter von Timur Shaimardanov). Sie erzählten von den Umständen, unter denen ihre Verwandten verschwunden waren, wie die Suche nach ihnen und die Untersuchungen dieser Verbrechen verliefen.

Larisa Shaimardanova beklagte, sie vermisse Aufmerksamkeit seitens des ukrainischen Staates, wenigsten für ihren Enkel, den Sohn von Timur Shaimardanov, der inzwischen 14 Jahre alt sei. “Seine Stimme ist der unseres Sohnes sehr ähnlich. Es fällt mir schwer, mit ihm am Telefon zu sprechen”, sagt sie. Das Leben habe sich nach der Besetzung der Krim durch Russlands völlig verändert. “Davor hatten wir ein normales Familienleben. Jetzt haben unsere Kinder und Enkelkinder die Krim ohne Timur verlassen, sie leben in der Westukraine”, so Shaimardanova. Mit vielen Verwandten in Russland könne kein normaler Kontakt aufrechterhalten werden. Ganz Russland sei für diese Tragödie verantwortlich.

Während der Veranstaltung sagte Abdureshit Dzhepparov, Vater des vermissten Islam Dzhepparov, unter anderem, als er von russischen Ermittlern auf der Krim zur Vernehmung vorgeladen worden sei, habe ihm der Leiter der Untersuchungsbehörde gesagt, er solle sich daran gewöhnen. Im Kaukasus passiere dies fast jeden Tag. Deshalb sei das Verschwinden von Menschen eine gewöhnliche Sache.

Was sagt die ukrainische Regierung? Bei der Veranstaltung sagte Kyrylo Kopijka, Vertreter der Staatsanwaltschaft der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, die sich derzeit in Kiew befindet, dass Strafverfahren wegen des Verschwindenlassens von Menschen auf der besetzten Krim eingeleitet worden seien. In einigen Fällen seien Verdächtige identifiziert worden. Doch mangels Zugangs zum Territorium der Krim seien wirksame Ermittlungen und eine strafrechtliche Verfolgung von Tätern durch ukrainische Behörden schwierig.

Jewhen Jaroschenko von CrimeaSOS betonte gegenüber QirimInfo, die ukrainischen Behörden sollten mehr tun, um Opfer von Fällen von Verschwindenlassen auf der Krim zu finden und diese Verbrechen zu untersuchen. “Im Vergleich zu anderen schrecklichen Menschenrechtsverletzungen auf der besetzten Krim wird diesen Verbrechen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt”, so Jaroschenko.

Wie kann die internationale Gemeinschaft helfen? Ihm zufolge könnten sich personenbezogene Sanktionen seitens der internationalen Partner der Ukraine gegen diejenigen, die an Fällen von Verschwindenlassen beteiligt sind, positiv auf die Untersuchung solcher Fälle auswirken.

Zum Abschluss der Präsentation erinnerte Olha Kuryschko von CrimeaSOS, die die Veranstaltung moderierte, daran, dass ihre Organisation als eine der ersten der UN-Arbeitsgruppe über gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen Informationsmaterial vorgelegt habe, nämlich zum Fall Ervin Ibragimov. Sie sagte auch, dass CrimeaSOS und der ukrainische Helsinki-Verband für Menschenrechte im Jahr 2020 Ervin Ibragimovs Vater geholfen hätten, im Zusammenhang mit dem Verschwinden seines Sohnes beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage einzureichen.

“Wir werden weiterhin daran arbeiten und ständig an die Fälle von Verschwindenlassen von Menschen erinnern, auch daran, dass diese Taten nicht ungestraft bleiben dürfen. Wir hoffen, dass wir eines Tages herausfinden werden, was damals passiert ist, und dass alle, die an diesen Verbrechen beteiligt sind, zur Rechenschaft gezogen werden – sowohl die direkten Vollstrecker als auch die Russische Föderation selbst als Besatzungsmacht auf der Halbinsel Krim”, sagte Kuryschko.