Am 1. Juli hat der Chef der ukrainischen Nationalbank, Jakiw Smolij, seinen Rücktritt erklärt. Als Grund wurde “systematischer politischer Druck” genannt. Smolij fasste seinen Beschluss nach einer Sitzung des Nationalen Rates für Reformen, der am 30. Juni unter dem Vorsitz von Micheil Saakaschwili stattfand. Auf der Sitzung war es zu einem Streitgespräch zwischen Smolij und Präsident Wolodymyr Selenskyj gekommen, der Smolijs Rücktrittsgesuch inzwischen unterschrieben hat. Was sind die Gründe für die Ereignisse und welche Folgen sind zu erwarten? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Wer ist Jakiw Smolij? 2014 wurde Smolij zum Stellvertreter der damaligen Nationalbank-Chefin Walerija Hontarewa ernannt. Er war zuständig für den IT-Bereich, für die Regulierung von Zahlungssystemen und des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Nach Hontarewas Rücktritt wurde Smolij im Jahr 2018 Chef der Nationalbank. Nun erklärte Smolij zu seinem Rücktritt, er wolle damit vor weiteren Versuchen warnen, die institutionellen Grundlagen der Zentralbank in der Ukraine zu untergraben. Seine Stellvertreter wollen jedoch im Amt bleiben. In einer gemeinsamen Erklärung der Führung der Nationalbank heißt es: “Wir teilen die Vorbehalte wegen des Drucks, sehen es jedoch als unsere Pflicht an, unsere Arbeit an der Wahrung der makro-finanziellen Stabilität fortzusetzen.”
Unterschiedliche Ansichten zur Wirtschaftsentwicklung. Offenbar hat Präsident Selenskyj eigene Ansichten, was die Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft angeht. Und sie unterscheiden sich stark von denen der jetzigen Führung der Nationalbank. Smolij vertrat bei der makro-finanziellen Stabilität eine harte Haltung. Doch aus Selenskyjs Sicht behindert damit die Nationalbank die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Der Präsident ist vor allem damit unzufrieden, dass das staatliche Programm für günstige Kredite für Unternehmer (sogenannte 5-, 7-, 9-Prozent-Kredite) nur schwache Ergebnisse liefert. Er macht Smolij dafür verantwortlich, dass die an dem Programm teilnehmenden Banken zu wenig Kredite vergeben.
Finanzielle Stabilität oder wirtschaftliche Entwicklung? Während Smolijs Amtszeit gab es eine gewisse makroökonomische Stabilisierung, da die Wirtschaftskrise, ausgelöst durch den Krieg im Osten der Ukraine, allmählich abgeflaut war. Das Bankensystem war bereinigt und die verstaatlichte PrivatBank begann, Gewinne abzuwerfen. Trotzdem wurde Smolij wegen einer zu harten Geldpolitik kritisiert, mit der die Nationalbank den Geldumlauf, das Preisniveau und die Zinssätze für Kredite und Einlagen beeinflusst. Kritisiert wurde, dass die Zentralbank 2019 den Abzinsungssatz zu langsam senkte, zu dem Refinanzierungskredite an Banken vergeben werden. Unter dem Satz sei es unrentabel, so die Kritiker, Kredite an Privatpersonen und Unternehmen zu vergeben.
Der hohe Abzinsungssatz half der Nationalbank jedoch, die Inflation in der Ukraine von 9,8 Prozent im Jahr 2018 auf 4,2 Prozent im Jahr 2019 zu senken. Und im Jahr 2020, mitten in der Corona-Krise, fiel die Inflation unter zwei Prozent. Der Preis dieser Politik war, dass Kredite an Unternehmen und Privatpersonen zu teuer waren, was die wirtschaftliche Entwicklung behinderte.
Auch die schlechten Einnahmen zum Staatshaushalt wurden der Nationalbank angelastet. Da der Wechselkurs der ukrainischen Hrywnja sich im Jahr 2019 unerwartet zu festigen begann, sanken bei den Finanzbehörden und beim Zoll die Steuereinnahmen bei Importen. Die Stärkung der Hrywnja führte zu einem Rückgang des Zollwertes der eingeführten Waren. Infolgedessen gingen auch die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer (20 Prozent des Zollwerts) zurück. Politiker begannen darauf zu drängen, dass die Nationalbank aktiver in die Wirtschaft eingreift und Geld druckt, um das Haushaltsloch von fast 300 Milliarden Hrywnja zu stopfen – ein Viertel aller für 2020 geplanten Ausgaben.
Was bedeutet das für die Wirtschaft? Viele Experten gehen davon aus, dass Smolijs Rücktritt einen starken Einfluss auf den Hrywnja-Wechselkurs und die Inflation haben wird. Hlib Wyschlinskyj vom ukrainischen Zentrum für Wirtschaftsstrategien meint: “Dies bedroht die finanzielle Stabilität des Landes inmitten der globalen Krise. Dementsprechend wird es eine Abwertung der Hrywnja und einen Preissprung geben, wenn die Idee einer politischen Kontrolle über die Geldemission der Nationalbank umgesetzt wird.”
Jewhen Dubohrys, Finanzanalyst und ehemaliger Leiter der Abteilung für Finanzstabilität bei der Nationalbank (2015-2019), geht aber nicht von einem sofortigen Zusammenbruch der Hrywnja oder einer heftigen Inflation aus. “Die Entscheidung über eine Hrywnja-Emission, die Höhe des Leitzinses und die Lockerung der Bankenaufsicht liegt nicht in der Zuständigkeit des Nationalbank-Chefs, sondern des Vorstands. Das ist heute ein kollegiales Gremium, das aus sechs Führungskräften besteht, die gemeinsam entscheiden. Wenn der neue Nationalbank-Chef Anhänger einer unkontrollierten Hrywnja-Emission sein wird, werden alle anderen Vorstandsmitglieder sich dem entgegenstellen können”, betonte er.
Allerdings, so Dubohrys, würde der Vorwurf, die Nationalbank werde politisch unter Druck gesetzt, negative Erwartungen wecken – insbesondere angesichts von Erklärungen des Präsidenten und von Vertretern der Regierungspartei “Diener des Volkes”, wonach die Wirtschaft eine “produktive Geldemission” brauche, also eine Inflation und Abschwächung der Hrywnja sowie eine Zunahme von Krediten für Unternehmen, auch für solche, die ihre Schulden nicht begleichen können. “In anderthalb Jahren können wir wieder eine Inflation von 15 bis 20 Prozent pro Jahr bekommen, aber auch eine Zunahme insolventer Banken, vor allem dann, wenn der neue Nationalbank-Chef den jetzigen Vorstand unter Druck setzen wird oder auf der Ernennung loyaler Stellvertreter bestehen wird, was in der Praxis immer passierte”, so Dubohrys.
Wie werden Anleger reagieren? Der Rücktritt des Nationalbank-Chefs – aufgrund politischen Drucks – wird die Haltung von Investoren (sowohl inländischer als auch ausländischer) sowie internationaler Partner (Finanzorganisationen, Banken usw.) gegenüber der Ukraine weiter stark verschlechtern. “Investoren sehen in der Nationalbank seit Jahren einen Gradmesser für Reformen, aber auch einen Garanten dafür, dass die Ukraine für Investitionen sicher ist. Der Rücktritt untergräbt dieses Vertrauen”, meint der ehemalige amtierende ukrainische Wirtschaftsminister Pawlo Kuchta, der heute Experte der Kiewer Wirtschaftsschule für politische Fragen ist.
Laut dem Investmentbanker Serhij Fursa schadet der Rücktritt des Nationalbank-Chefs der Zusammenarbeit mit dem IWF und mit Partnern wie der EU, der Weltbank und den Vereinigten Staaten. Erst Ende Mai hatte der Internationale Währungsfonds ein neues Kooperationsprogramm mit der Ukraine über fünf Milliarden US-Dollar genehmigt, über das seit August 2019 verhandelt wurde.
“Kredite werden sowohl für die Regierung als auch für ukrainische Unternehmen teurer werden. Das wird sich negativ auf den Staatshaushalt auswirken, das Defizit wird zunehmen. Daher wird es schwieriger werden, die notwendigen Ausgaben zu finanzieren, wie die Erhöhung des Mindestlohns und der Renten, aber auch die Erhöhung der Ausgaben für die Armee”, meint der Experte Jewhen Dubohrys.