Treffen im Normandie-Format: Warum keine Einigung erzielt wurde (und warum das gut für die Ukraine ist)

Am 10. Februar 2022 hat in Berlin ein Treffen im Normandie-Format auf Ebene der politischen Berater stattgefunden, zu einer Zeit intensiver diplomatischer Aktivitäten. Letzte Woche war der französische Präsident Emmanuel Macron in Kyjiw und Moskau zu Besuch und Anfang kommender Woche reist der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ebenfalls in die Ukraine und nach Russland. Das jetzige Treffen in Berlin war – angesichts der Konzentration russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine und der zu erwartenden Eskalation – als Teil eines diplomatischen Weges hin zu einer Beilegung des Konflikts wichtig. Es war bereits das zweite Treffen von Vertretern Deutschlands, Frankreichs, der Ukraine und Russlands seit Anfang dieses Jahres. Das erste fand am 26. Januar in Paris statt.

Welche Ziele setzte sich die Ukraine? Vom Treffen in Berlin hatte sich die ukrainische Seite eine Wiederaufnahme der Arbeit der Trilateralen Kontaktgruppe zur Beilegung des Konflikts im Donbass erhofft. Die Ukraine wollte Möglichkeiten für eine bessere Überprüfung der Waffenruhe im Donbass vorschlagen und über die Eröffnung eines Kontrollpunkts und den Austauschs von Gefangenen sprechen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte am Vorabend des Treffens der politischen Berater, er hoffe, dass die Gespräche ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im Normandie-Format näher bringen würden.

Kein einziges Dokument vereinbart. Andrij Jermak, Leiter des Präsidialamtes und Vertreter der Ukraine bei dem Treffen in Berlin, sagte bei einem Briefing nach den Gesprächen: “Heute konnten wir uns auf kein gemeinsames Dokument einigen. Die Gespräche dauerten praktisch neun Stunden. Es wäre sehr gut gewesen, wenn wir uns nach langer Pause beim zweiten Treffen im Normandie-Format auf etwas hätten einigen können, der Wunsch danach besteht, aber heute ist es eben so gekommen wie es gekommen ist.” Ein Datum und einen Ort für ein neues Treffen nannte er nicht.

Jermak zufolge sprachen sich bei den Gesprächen alle Parteien für einen Waffenstillstand im Donbass aus. Nach Angaben des Pressedienstes des ukrainischen Präsidialamtes betonte er während der Gespräche, die Ukraine trete konsequent für eine politische und diplomatische Regelung des Konflikts ein. Daher werde die ukrainische Seite, so Jermak, weiterhin Maßnahmen ergreifen, um alle bestehenden Gesprächsformate zu intensivieren, um im Friedensprozess voranzukommen.

Jermak: “Ukraine braucht Sicherheitsgarantien.” Bei dem Briefing sagte Jermak ferner, man müsse jetzt darüber nachdenken, der Ukraine Sicherheitsgarantien zu verleihen. “Wir meinen, dass vorher alles unternommen werden muss, und nicht erst danach, wenn das passiert, was passieren kann. Wir meinen, dass schon heute über Sicherheitsgarantien für die Ukraine gesprochen werden muss. Man braucht auf nichts zu warten. Das haben wir heute klar und immer wieder gesagt. Wir können heute nicht von Sicherheit in Europa reden, solange der Krieg mitten in Europa nicht beendet ist und solange die Sicherheit der Ukraine nicht real und effektiv gewährleistet ist. Ich denke, dass alle unsere Partner und alle europäischen Partner ein Interesse daran haben”, erklärte Jermak.

Jermak: “Nord Stream ist Teil der Energiesicherheit.” Beim Briefing erwähnte Andrij Jermak auch das Pipelineprojekt Nord Stream und den bevorstehenden Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Ukraine. Dieser hatte vergangene Woche mit US-Präsident Joe Biden gesprochen. “Natürlich ist die Energiesicherheit der Ukraine heute Teil der gemeinsamen Sicherheit. Wir betrachten Nord Stream 2 als Teil dieser Energiesicherheit. Die Ukraine muss bestimmte Garantien erhalten. Wir glauben, dass unsere Partner ihre Verpflichtungen erfüllen werden und die Ukraine Garantien erhalten wird, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch für ihre allgemeine Sicherheit”, fügte er hinzu.

Welche Ziele setzte sich Russland? Der Vertreter Russlands bei den Gesprächen der politischen Berater im Normandie-Format, Dmitrij Kosak, sagte in Berlin, die Gespräche hätten, was den Status der heute von Kyjiw nicht kontrollierten Gebiete im Osten der Ukraine angeht, zu keinem Ergebnis geführt. “Leider wurden die fast neunstündigen Gespräche ohne in Dokumenten zum Ausdruck gebrachte sichtbare, greifbare Ergebnisse beendet. Streitpunkte wurden nicht überwunden. Mündlich waren wir uns mit Deutschland und Frankreich einig, wie wir im politischen Bereich vorankommen, aber die Haltung der Ukraine ist unnachgiebig. So wurde abgelehnt, in der vorgeschlagenen Erklärung sogar die Minsker Vereinbarungen zu zitieren, wonach die Frage des künftigen Status dieser Gebiete nach dem Konflikt in Konsultationen und Diskussionen mit Vertretern jener Bezirke gelöst werden sollten. Das ist ein entscheidender Streitpunkt, den die Ukraine sich weigert zu lösen”, so Kosak.

Ihm zufolge wollten die Seiten bei dem Treffen Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung der Minsker Vereinbarungen überwinden und Kompromisse für eine Schlusserklärung finden. “Die Formulierungen sollten Zitate enthalten und wir haben sogar angeboten, sie in unserer Abschlusserklärung in Anführungszeichen zu setzen, aber die Ukraine hat das kategorisch abgelehnt. Deshalb haben die Verhandlungen so lange gedauert”, sagte Kosak. Seiner Ansicht nach ist die Situation festgefahren und ungewiss. Alles hänge vom weiteren Vorgehen der Ukraine ab.

Kosak: “Kein Druck seitens Deutschlands und Frankreichs.” Kosak sagte auch, er sehe nicht, dass Deutschland und Frankreich “Druck auf Kyjiw ausüben” wollten. Stattdessen sehe er “Versuche, irgendeine günstige Nische zu finden, damit die Ukraine die Linie fortzusetzen kann, die sie in den letzten acht Jahren verfolgt hat”. 

Dem Kreml-Vertreter zufolge wurde mündlich vereinbart, dass Russland, Deutschland und Frankreich im Rahmen des Normandie-Formats bei einem ordentlichen oder außerordentlichen Treffen der Kontaktgruppe “das Verhalten der Ukraine beobachten” werden.

Äußerungen von Kosak zeigen, dass Moskau erneut versucht, Kyjiw zu Gesprächen mit den von Russland unterstützten Vertretern der sogenannten “Volksrepubliken” zu drängen. “Ich habe die Ukrainer aufgefordert, sollten sie irgendwelche Ideen und Ansichten bezüglich einer Umsetzung der Minsker Vereinbarungen haben, sofort eine außerordentliche Sitzung der Kontaktgruppe einzuberufen – denn die nächste findet erst in drei Wochen statt – und ihre Vorschläge bezüglich des künftigen Status des Donbass vorzulegen, oder auf Vorschläge aus dem Donbass zu reagieren”, sagte Kosak.

Warum mangelnder Fortschritt gar nicht so schlimm ist

Der bisherige Mangel an Fortschritten im Normandie-Format zeigt, dass die Ukraine weiterhin konsequent und unnachgiebig die Position vertritt, dass das Minsker Protokoll von seinen ersten Punkten an, also mit denen zu Sicherheitsfragen, umgesetzt werden muss. Die Ukraine weist alle Versuche Russlands zurück, die Beilegung des Konflikts mit dem politischen Teil zu beginnen – von den Bedingungen für Wahlen und den Überlegungen zur Zukunft der Region.

“Viele Jahre galten die Minsker Vereinbarungen als Rahmen für eine künftige Beilegung des Konflikts im Osten der Ukraine. Denn weder die Ukraine noch die Seiten, die im Normandie- und Minsk-Format vermittelt haben, verfügen über ein anderes Dokument, das ermöglichen würde, Russland zu den Verhandlungen über eine Beilegung einzubeziehen. Aber bedeutet dies, dass man Russland als Gegenleistung für seine bloße Anwesenheit im Verhandlungsprozess jegliche Verzerrung dieses Dokuments zugestehen kann? Nach so vielen Jahren vergeblicher Bemühungen, Russland zu zwingen, zumindest die ersten drei Punkte der Minsker Vereinbarungen umzusetzen, lautet die Antwort klar: Nein”, betont Maria Kutscherenko, Expertin des ukrainischen Zentrums für Studien zu Problemen der Zivilgesellschaft, in einer Kolumne für “Radio Liberty”.   

In den letzten acht Jahren wurde ihr zufolge kein umfassender Waffenstillstand erreicht. Die OSZE-Beobachtermission berichtet ständig über die Ausrüstung der von Russland kontrollierten illegalen bewaffneten Gruppen. Und das, obwohl die OSZE die Umsetzung der ersten Klauseln der Minsker Vereinbarungen nicht effektiv überwachen kann, da die Arbeit ihrer Mission stark behindert wird. Auch die Berichte der ukrainischen Armee enthalten jede Woche Informationen über den Einsatz von Waffen, die durch die Minsker Vereinbarungen verboten sind.

Ferner verteilt die Russische Föderation an die Bewohner der besetzten Gebiete Pässe. Bis zu 800.000 wurden bereits verteilt. Dies ändert die Situation im Vergleich zu 2015, als das Minsker Protokoll unterzeichnet wurde. Deshalb ist es angesichts der Nichterfüllung der ersten drei Punkte der Vereinbarungen unmöglich, zum vierten Punkt über die Maßnahmen zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, also zum Beginn des Dialogs über die Modalitäten von Kommunalwahlen und über die Zukunft dieser Bezirke überzugehen.

“Die Ukraine zu politischen Zugeständnissen zu zwingen, stellt keine Beilegung oder einen Dialog dar. Dies ist nur eine Imitation und beweist die Ohnmacht des in Russland so gerne bezeichneten ‘kollektiven Westens’, was die Gesetze der Gewalt angeht”, meint Maria Kutscherenko. Der Expertin zufolge wird Druck auf die Ukraine, den politischen Teil der Minsker Vereinbarungen in der russischen Lesart umzusetzen, nur zu einer politischen Krise führen.