Am 7. und 8. Oktober hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj London besucht. Die Visite war ukrainischen Beobachtern zufolge “historisch”, da die Ukraine und das Vereinigte Königreich zwei äußerst wichtige Dokumente unterzeichnet haben: Erstens ein Abkommen über politische Zusammenarbeit, Freihandel und strategische Partnerschaft, mit dem das Assoziierungsabkommen im Bereich Handel mit Großbritannien nach dem Brexit ersetzt wird, und zweitens ein Memorandum zur Umrüstung der ukrainische Seestreitkräfte. Was genau das Abkommen und das Memorandum enthalten, dieser Frage sind ukrainische Medien nachgegangen, insbesondere die Internetzeitung “Jewropejska Prawda” (Europäische Wahrheit). Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Was sieht das neue Abkommen zwischen Großbritannien und der Ukraine vor?
“Ein historischer Moment: Das Abkommen ist unterzeichnet. Wie der britische Premierminister Boris Johnson sagte, bedeutet dies mehr Handel, mehr Sicherheit und mehr Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und dem Vereinigten Königreich. Die beiden Flanken Europas – die westliche und östliche – sind einander jetzt noch näher”, schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter. Für die Ukraine unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj und Premierminister Boris Johnson für Großbritannien.
Neuer Handelsbeauftragter. Im Vereinigten Königreich wird es künftig einen Sonderbeauftragten des Premierministers für den Handel mit der Ukraine geben.
Alle Bereiche des Assoziierungsabkommen bleiben erhalten. Das neue Abkommen selbst basiert vollständig auf den Bestimmungen des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union. Gemäß dem Abkommen behält die Ukraine alle Bereiche der Zusammenarbeit mit Großbritannien bei, die im Rahmen des Assoziierungsabkommens bestanden. Die einzige Ausnahme ist die Anpassung der Rechtsvorschriften – denn dies ist ein einzigartiges Format der Zusammenarbeit, das nur in den Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU besteht.
Die Ukraine behält Freihandel mit Großbritannien bei. Unabhängig davon, wie die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU enden, bekommt die Ukraine laut dem neuen Abkommen garantiert einen bevorzugten Zugang zum britischen Markt.
Erhöhung der Quoten. 98% aller ukrainischen Waren bekommen einen freien Zugang zum britischen Markt. Da es sich um ein Continuity Agreement handelt, gilt auch hier die teilweise Liberalisierung für bestimmte Warengruppen fort. Das heißt, dass die Anzahl der Waren, für die Zollkontingente gelten, wird nicht geändert. Doch für die Ukraine ergibt sich faktisch eine Erhöhung dieser Zollkontingente, da sie ihre Waren sowohl in die EU (wo die gleichen Kontingente gelten) als auch in das Vereinigte Königreich exportieren kann. Daher ergibt sich für die Ukraine eine Erhöhung des Exports zwischen 13 und 20%. In absoluten Zahlen sind dies pro Jahr zusätzliche 136.200 Tonnen Weizen, 100.020 Tonnen Mais und 12.040 Tonnen Geflügelfleisch.
Zugangsbedingungen sollen sehr schnell erweitert werden. Das Abkommen sieht vor, dass es in zwei Jahren überarbeitet werden soll. Darüber hinaus wurde dem Abkommen eine Erklärung hinzugefügt, aus der hervorgeht, dass die Verhandlungen über die Verlängerung im zweiten Jahr des Abkommens, also im Jahr 2022, beginnen werden.
Jermaks Thesen bei Chatam House: Eine Bewertung des Abkommens. Andrij Jermak, Leiter des Büros des ukrainischen Präsidenten, findet das zwischen der Ukraine und dem Vereinigten Königreich unterzeichnete Abkommen über politische Zusammenarbeit, Freihandel und strategische Partnerschaft sehr ehrgeizig. Es deckt ihm zufolge viele Bereiche ab und erweitert die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten. Das sagte er am 8. Oktober während einer Rede bei Chatham House. Jermak betonte, dass das unterzeichnete Abkommen sowohl für die Ukraine als auch für das Vereinigte Königreich eine absolute Win-Win-Situation darstellt und zur Steigerung des bilateralen Handels beitragen wird, der sich heute auf etwa zwei Milliarden Pfund beläuft. Es gehe auch darum, Investitionen anzuregen, geistiges Eigentum zu schützen und die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit auszubauen. Darüber hinaus wird das Abkommen laut Jermak helfen, die Zusammenarbeit zwischen den Ländern im Bereich des Handels mit Dienstleistungen auszubauen.
Memorandum über militärische Zusammenarbeit: Warum ist es wichtig?
Ferner unterzeichneten die Ukraine und das Vereinigte Königreich einen Tag zuvor ein Memorandum über die Umrüstung der ukrainischen Seestreitkräfte. Der Text des Dokuments wird nicht veröffentlicht, aber die Internetzeitung “Jewropejska Prawda” nennt einige Details.
Die Tatsache, dass ein solches Dokument unterzeichnet wurde, meldete der Pressedienst des ukrainischen Präsidenten. “Der Verteidigungsminister der Ukraine, Andrij Taran, und der Verteidigungsminister des Vereinigten Königreichs und Nordirlands, Ben Wallace, haben ein Memorandum zur Stärkung der Zusammenarbeit im militärischen und militärtechnischen Bereich unterzeichnet”, heißt es in der offiziellen Erklärung.
Raketenboote. Laut der Zeitung sieht die Vereinbarung eine Umrüstung der ukrainischen Streitkräfte mit modernen Raketenbooten vor, die mit den NATO-Standards kompatibel sind und den Bedarf an Schiffen dieser Klasse im Schwarzen und im Asowschen Meer decken können. Nach vorliegenden Informationen handelt es sich um acht Boote.
Die Ukraine verfügt bereits über eine Vereinbarung zur Lieferung anderer Militärboote aus den USA. Zudem werden die ukrainischen Grenzschützer Ausrüstung aus Frankreich erhalten.
Die britische Botschaft in der Ukraine hat zudem bestätigt, dass das Memorandum eine “Unterstützung der Schiffbau-Kapazitäten” in der Ukraine vorsieht. “Die Ukraine wird die Möglichkeit haben, den Bau der ersten Schiffe in Großbritannien parallel mit der Modernisierung des eigenen Schiffbaus zu beobachten und dazuzulernen”, heißt seitens der Pressestelle der Botschaft.
Wo werden die Boote gebaut? Laut “Jewropejska Prawda” sollen die ersten beiden von insgesamt acht Booten in einer britischen Werft unter Beteiligung von Spezialisten eines ukrainischen Herstellers gebaut werden, der von der Regierung in Kiew noch zu bestimmen ist. In Zukunft soll die gesamte Produktion – vom Bau der Rümpfe bis zur Ausrüstung der Schiffe mit Waffen – in der Ukraine auf einer von der Regierung ausgesuchten und mit der britischen Seite abgesprochenen Werft stattfinden.
Finanzierung der Vereinbarungen. Um die Arbeiten zu finanzieren, wird die britische Regierung ein zehnjähriges Darlehen in Höhe von bis zu 1,25 Milliarden Pfund (1,6 Milliarden US-Dollar) gewähren. Die Mittel sollen auch für den Bau der Hafeninfrastruktur beim Stützpunkt der Schiffe in Otschakowe verwendet werden.
Warum ist das für die Ukraine wichtig? Seit Beginn der russischen Aggression und der Annexion der Krim im Jahr 2014 steht die Ukraine vor schwierigen Herausforderungen. Sie hat einen Aggressorstaat als Nachbarn, der die besetzte ukrainische Halbinsel Krim schnell militarisiert. Zuvor hatte Russland seine Flotte schrittweise ausgebaut. Es ist in der Lage, Schiffe auch aus anderen Regionen ins Schwarze Meer zu verlegen. Die Ukraine hingegen hat ihre meisten Schiffe auf der besetzten Krim verloren und verfügt weder über finanzielle Kapazitäten noch über genügend Zeit, eine mit Russland vergleichbare Marine aufzubauen.
Die Aufgabe, einen möglichen russischen Angriff vom Meer aus abzuwehren, besteht aber weiterhin. Dies haben die Ereignisse im November 2018 deutlich gemacht, als Russland drei ukrainische Schiffe festgesetzt hatte. Dies hat gezeigt, dass sich Kiew allein auf die Präsenz ausländischer Schiffe im Schwarzen Meer nicht verlassen kann.
Auf der Suche nach einem möglichen Modellen für die Entwicklung der Streitkräfte entschied sich Kiew zusammen mit NATO-Verbündeten für das Konzept einer “Mücken-Flotte” – dabei soll eine vielfach größere Flotte der Russischen Föderation mit Hilfe von “Mücken”, also kleinen und schnellen Schiffen, aufgehalten werden können. Dieser Ansatz hat sich auch in der Strategie der ukrainischen Marine niedergeschlagen. Die Unterzeichnung des Memorandums mit dem Vereinigten Königreich ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.