Wie Belarus und Russland die EU mit einer Migrationskrise erpressen

Am 8. November versammelten sich Hunderte von Migranten in der Nähe des Grenzübergangs Bruzgi-Kuznica an der polnisch-belarussischen Grenze. Eine solche Ansammlung hatte es hier seit Beginn der Migrationskrise noch nicht gegeben. Belarus wirft Polen Unmenschlichkeit vor und das polnische Verteidigungsministerium erklärt, die Staatsgrenze verteidigen zu wollen. All dies erschüttert Europa, darunter auch die Ukraine. Was will der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko mit dieser künstlichen Krise erreichen und warum steckt auch der russische Staatschef Wladimir Putin mit dahinter? Das Ukrainische Zentrum für Strategische Kommunikation, das beim Ministerium für Kultur und Informationspolitik der Ukraine angesiedelt ist und zusammen mit der Zivilgesellschaft gegen Desinformation vorgeht, darunter gegen Bedrohungen wie russische Informations-Attacken, hat zur Migrationskrise eine Studie vorgelegt. Hier die wichtigsten Thesen:

Belarus war bislang kein Einfallstor für Migranten in die EU. Die 6000 Kilometer lange Landgrenze zwischen der Ukraine, Belarus, Moldau, Russland und den EU-Mitgliedsstaaten Estland, Finnland, Ungarn, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Slowakei, Bulgarien und Rumänien war bislang nie Einfallstor für illegale Migranten gewesen. Laut Frontex (Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache) war die illegale Migration über die Ostgrenze der EU deutlich geringer als auf jeder anderen Migrationsroute in Richtung EU.

Im Jahr 2015, als der Flüchtlingsstrom in europäische Länder ein seit dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesenes Ausmaß erreichte, wurden an der EU-Ostgrenze 1927 Fälle illegaler Grenzübertritte registriert. Zum Vergleich: Über den Westbalkan reisten im selben Jahr 764.033 Menschen illegal in die EU ein, und im östlichen Mittelmeer waren es 885.386. Sogar über die vorübergehende Arktis-Route, die es zwischen Oktober und Dezember 2015 gab, erreichten etwa 6000 Asylsuchende – meist aus Afghanistan und Syrien – die EU, dreimal mehr als im gesamten Jahr über die EU-Ostgrenze.

Lukaschenko hat den illegalen Migrations-Kanal künstlich geschaffen. In diesem Jahr hat sich die Situation an der EU-Ostgrenze grundlegend geändert. Im Vergleich zu 2020 ist die Zahl der illegalen Grenzübertritte um unglaubliche 1407% gestiegen. Doch die absoluten Zahlen sind vergleichsweise noch niedrig. Zum Beispiel hat die deutsche Polizei bisher 6600 Migranten registriert, die hauptsächlich im Oktober illegal aus Belarus eingereist sind. Und diesen illegalen Migrations-Kanal hat das Regime des selbsternannten “Präsidenten” Lukaschenko künstlich geschaffen.

Zahlen zur Migrationskrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU in englischer Sprache: Infografik der Hybrid Warfare Analytical Group

Die Migranten werden zentral nach Belarus gebracht, verführt von trügerischen Aussichten auf eine einfache Weiterfahrt in die EU. Danach werden sie organisiert an die Westgrenze von Belarus gebracht, wo sie dann unter Sturmgewehren faktisch dazu gedrängt werden, die Grenze zur EU zu stürmen. Der Rückweg wird ihnen dabei versperrt. Die Meldungen – erst von der belarussisch-litauischen und jetzt von der belarussisch-polnischen Grenze – klingen wie Frontberichte über Provokationen, Durchbrüche, Scharmützel und Schüsse. Lukaschenko rächt sich auf diese Weise an den EU-Nachbarländern für deren Unterstützung der belarussischen Opposition.

Mindestens zehn Migranten sind bereits in den Wäldern an der Westgrenze von Belarus an Kälte und Hunger gestorben. Propagandisten des Lukaschenko-Regimes rechnen noch mit mehr Opfern und machen zynisch dafür die polnische Seite verantwortlich.

Putin steht hinter Lukaschenko. Vielen Beobachtern ist klar, dass Lukaschenko, der eigene Gründe hat, die EU zu erpressen, nur mit Unterstützung und Zustimmung Russlands handelt. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wirft dem russischen Staatschef Wladimir Putin vor, die Migrationskrise an der belarussisch-polnischen Grenze zu organisieren. “Lukaschenko ist der Vollstrecker des Angriffs, aber dieser Angriff hat einen Sponsoren, der in Moskau zu finden ist, und dieser Sponsor ist Präsident Putin”, betonte Morawiecki während einer Dringlichkeitsdebatte im polnischen Parlament.

Ohne Moskaus Zutun würde sich Belarus an der Grenze zu Polen nie so aggressiv verhalten, meint der Experte für russische Militärpolitik Jakob Hedenskog von der Swedish Defence Research Agency. Ihm zufolge handelt Belarus als Agent Russlands. Auch das britische Royal Institute of International Affairs Chatham House beschreibt Belarus als “ein weiteres Werkzeug in Russlands hybridem Krieg gegen die westlichen liberalen Demokratien”. Und die Denkfabrik Atlantic Council nennt Lukaschenko treffend einen “freiwilligen Putin-Provokateur”. Er handele entsprechend seinen eigenen Wünsche, aber zu Gunsten von Moskau.

Laut General Roman Polko, einem ehemaligen Kommandeur der polnischen Spezialeinheit GROM, versucht Lukaschenko, eine “Bombe aus Menschen” gegen Polen einzusetzen. Der belarussische Machthaber glaube naiv, die EU lasse sich erpressen und könnte so alle Sanktionen gegen Minsk aufheben und möglicherweise sogar noch finanzielle Unterstützung leisten, um den Strom von Migranten zu stoppen. Aber in Wirklichkeit sei Putin der “Strippenzieher”. “Putin führt einen permanenten hybriden Krieg. Er weiß, dass er zu schwach ist, um einen offenen bewaffneten Konflikt mit der NATO zu gewinnen. Außerdem ist Russland viel zu abhängig von westlichen Volkswirtschaften, um sich einen solchen Konflikt leisten zu können”, so der General.

Laut Atlantic Council ahmt die vom belarussischen Diktator geschaffene Krise die Taktik nach, die zuvor in Russland angewandt wurde. Dabei handelt es sich um die Migrationskrise von 2015, die nach dem Eintritt Russlands in den Syrien-Krieg ihren Höhepunkt erreichte. Tatsächlich ist das Szenario des politischen Spiels an der polnisch-belarussischen Grenze dem Szenario von 2015 sehr ähnlich: Erst wird eine Krise geschaffen und dann der Betroffenen für sie verantwortlich gemacht, um sich schließlich selbst als Lösung anzubieten. Aber diesmal ist alles offensichtlich. Denn 2015 konnte man Russland nur anhand indirekter Hinweise vorwerfen, die Krise geschaffen zu haben. Aber heute ist deutlich zu sehen, dass die Krise an der belarussischen Grenze eine künstliche ist.

In der Ukraine weiß man sehr gut, worum es geht, wenn es heißt, die vielen Migranten, die alle mit gleichen Werkzeugen die Grenzzäune zerstören, sich “selbst organisiert” hätten. Oder wenn gedroht wird: “Sollen sie doch versuchen, auf  Frauen und Kinder zu schießen”. Oder wenn diejenigen der “Provokation” bezichtigt werden, die sich verteidigen. All dies bedeutet nur eines: Dies ist ein hybrider Krieg.