Justizskandal in der Ukraine: Wie das Verfassungsgericht die Korruptionsbekämpfung kippt

Das wichtigste Ereignis in der Ukraine war diese Woche ein Urteil des Verfassungsgerichts, mit der mehrere Bestimmungen des Gesetzes zur Verhütung von Korruption für verfassungswidrig erklärt wurden. Das Urteil, das nach geltendem Recht nicht angefochten werden kann, gefährdet alle Anti-Korruptions-Behörden, die eine Errungenschaft der Revolution der Würde 2013/2014 sind. Es kam nur wenige Tage nach den Kommunalwahlen und der gleichzeitig abgehaltenen Bürgerbefragung. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte fünf Fragen gestellt, eine davon, ob die Bürger eine lebenslange Haft für Korruption in besonders schweren Fälle befürworten würden. Nach dem Urteil der Verfassungsrichter rief Selenskyj den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat ein. Auch westliche Partner der Ukraine kritisieren das Urteil.

Das Wichtigste in Kürze. Am 28. Oktober erklärte das Verfassungsgericht der Ukraine eine Reihe von Bestimmungen des ukrainischen Gesetzes “Über die Verhütung von Korruption” und die strafrechtliche Verantwortung für falsche Angaben bei der Einkommens- und Vermögenserklärung für verfassungswidrig. Damit wurde die elektronische Einkommens- und Vermögenserklärung für Staatsdiener praktisch abgeschafft.

Nur vier der 15 Richter waren dagegen, darunter drei, die vom ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko ernannt worden waren. Zwei von ihnen, Serhij Holowatyj und Wasyl Lemak, haben das Urteil öffentlich kritisiert und ausführlich begründet, wieso es europäischem Recht und der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte widerspricht.

Noch am selben Tag, am 28. Oktober um 19 Uhr, wurde von der Nationalen Agentur für Korruptionsprävention der Zugang zum staatlichen elektronischen Register der Einkommens- und Vermögenserklärungen gesperrt und somit das Urteil des Verfassungsgerichts umgesetzt.

Im Zusammenhang mit dem Urteil warnte der Chef des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Oleksij Danilow, indirekt das Verfassungsgericht und stellte fest, dass “Entscheidungen gewisser Behörden eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen”.

Warum das Urteil gefährlich ist. Die Aufhebung jener Gesetzesbestimmungen verstößt gegen Verpflichtungen der Ukraine gegenüber dem IWF, gegen Kreditverträge mit der EU sowie gegen die Gewährung der visafreien Einreise für ukrainische Staatsbürger in EU-Staaten.

Das Gefährlichste an dem Urteil ist, dass sein Inhalt und die Schlussfolgerungen miteinander überhaupt nicht  übereinstimmen. Das Gericht erklärte die wichtigsten Elemente der Finanzkontrolle über Staatsdiener für verfassungswidrig, ohne die Gründe dafür zu erläutern.

Im Urteil beschreibt das Gericht auf mehr als einem Dutzend Seiten die Rechtslage zum Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz und ignoriert die Notwendigkeit, seine Motive und rechtlichen Argumente für das Urteil zu erläutern. Alles wird darauf reduziert, dass die Einkommens- und Vermögenserklärung die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter beeinträchtigt. Und der Preis dafür soll laut Verfassungsgericht eine allgemeine Amnestie für alle Beamten sein, die in ihren Erklärungen falsche Angaben gemacht haben.

Gleichzeitig wird im Urteil nicht begründet, warum die Veröffentlichung von Einkommens- und Vermögenserklärungen, eine ganze Reihe von Befugnissen und Rechten der Nationalen Agentur für Korruptionsprävention oder die Verantwortung für Korruption und entsprechende Straftaten verfassungswidrig sein soll.

Wer sind die Richter? Das Urteil wurde teilweise im Interesse von Richtern des Verfassungsgerichts selbst getroffen. Am Tag der Entscheidung war im elektronischen Register der Einkommenserklärungen noch zu sehen, dass der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Oleksandr Tupyzkyj, im vergangenen Jahr 4,5 Millionen Hrywnja (umgerechnet rund 135.000 Euro) verdient hatte. Schon damals konnte die Nationale Agentur für Korruptionsprävention gegen ihn ein Verfahren einleiten, weil er den Kauf eines Grundstücks im Jahr 2018 auf der von Russland seit 2014 besetzten Halbinsel Krim nicht angegeben hatte. Alle Dokumente de Kaufs wurden zudem nach russischem Recht ausgestellt.

Tupyzkyj wollte sich also selbst retten, indem er die elektronische Einkommens- und Vermögenserklärung vernichtete. Es sei daran erinnert, dass Tupyzkyj seinerzeit vom damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch zum Verfassungsrichter ernannt wurde. Erst vor einem Jahr wurde er zum Vorsitzenden des Gerichts gewählt. Seine Frau, Olena Tupyzka, war von 2012 bis 2014 Mitarbeiterin eines Abgeordneten der einstigen “Partei der Regionen”.

Wer steckt dahinter? Geklagt vor dem Verfassungsgericht hatten Abgeordnete der Partei “Oppositions-Plattform – Fürs Leben” sowie mehreren Vertreter der Partei “Für die Zukunft”, die von Ihor Palyzja angeführt wird, einem langjährigen Freund des Oligarchen Ihor Kolomojskyj.

Abgeordnete dieser Fraktionen haben tatsächlich einiges zu befürchten. Zum Beispiel besitzt die Familie von Viktor Medwedtschuk, Abgeordneter der “Oppositions-Plattform – Fürs Leben”, der die Klage mitinitiiert hatte, eine Yacht im Wert von 200 Millionen US-Dollar, hektarweise Land an der bulgarischen Küste und mehrere Dutzend Immobilienobjekte in der Ukraine, was aber in seiner Vermögenserklärung von 2019 nicht vorkommt.

Der Abgeordnete Taras Kosak, der Medwedtschuk nahe steht und Eigentümer mehrerer prorussischer Fernsehsender ist, wurde ebenfalls von der Nationalen Agentur für Korruptionsprävention ins Visier genommen, die seine Einkommens- und Vermögenserklärung einer vollständigen Überprüfung unterzog.

Reaktionen der Staatsorgane. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts wurde eine dringende Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates einberufen. Ebenfalls am 29. Oktober verpflichtete die Regierung die Nationale Agentur für Korruptionsprävention, für die Bürger den Zugang zum elektronischen Register der Einkokmmens- und Vermögenserklärungen der Staatsdiener sofort wieder freizuschalten.

Darüber hinaus schlug Präsident Wolodymyr Selenskyj vor, ein Gesetz zur “Wiederherstellung des Vertrauens in die verfassungsmäßige Justiz” (ohne Angabe, was dies bedeutet) zu erarbeiten und den Entwurf dem Parlament als dringend vorzulegen. Premierminister Denys Schmyhal erklärte, dass die Regierung und das Büro des Präsidenten bereits über eine solche Gesetzesvorlage nachdenken würden.

Auf der Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates wurde auch beschlossen, die Arbeit der Kommission für Justizreformen beim Präsidenten zu intensivieren und Vorlagen für entsprechende Reformen zu beschleunigen.

Schließlich wurde der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Oleksandr Tupyzkyj, vom Staatlichen Ermittlungsbüro zu einer Vernehmung am 2. November vorgeladen.

Oleksij Suchatschow, amtierender Chef des Staatlichen Ermittlungsbüros, erklärte in diesem Zusammenhang laut Pressedienst der Behörde: “Die Mitarbeiter des Staatlichen Ermittlungsbüros arbeiten an einer Reihe von Strafverfahren, bei denen auch gegen den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts der Ukraine wegen Verbrechen im Rahmen einer kriminellen Vereinigung ermittelt wird.”