Am 17. Juli jährt sich zum zweiten Mal die Tragödie des Flugs MH17. Mit 298 Todesopfern ist es die größte Flugzeugkatastrophe in der Geschichte der Ukraine und eines der dunkelsten Kapitel des russisch-ukrainischen Kriegs. Während des ersten Monats nach der Katastrophe war das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) das offizielle MH17-Pressezentrum. Anlässlich des zweiten Jahrestags der Tragödie hat das UCMC eine Chronologie der Ereignisse sowie Informationen über die Ergebnisse von Untersuchungen zusammengestellt.
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MH17 – Chronologie der Ereignisse
17. Juli 2014, 13:20 Uhr (UTC) – Das Passagierflugzeug der Malaysia Airlines wird auf einem Linienflug von Amsterdam nach Kuala Lumpur über dem Gebiet Donezk abgeschossen. Dabei kommen 298 Menschen ums Leben, darunter 15 Besatzungsmitglieder.
18– 19. Juli 2014 – Die Ukraine beginnt an der Absturzstelle mit der Suche und Bergung der Leichen. Die pro-russischen Milizen behindern den Zugang zum Ort der Katastrophe.
23. Juli 2014 – Die Ukraine beschließt, die Untersuchungen an die Niederlande zu übertragen, um sicherzustellen, dass sie unvoreingenommen und objektiv verlaufen.
24. Juli 2014 – Das ukrainische Ermittlungsbüro für Flugunfälle sowie der niederländische Untersuchungsrat für Sicherheit (OVV) unterzeichnen ein Abkommen, wonach die Niederländer die Untersuchungen zur Flugzeugkatastrophe übernehmen.
8. Oktober 2015 – Das investigative Recherchenetzwerk Bellingcat veröffentlicht einen Bericht über den Abschuss der Passagiermaschine MH17. Er enthält auch Ergebnisse von Untersuchungen anderer Organisationen bezüglich der Herkunft des BUK-Raketensystems, mit dem das Flugzeug abgeschossen wurde. Die Untersuchungen basieren auf offen zugänglichen Quellen.
13. Oktober 2015 – Der niederländische Sicherheitsrat (Dutch Safety Board) veröffentlicht einen technischen Bericht der internationalen Untersuchungsgruppe zur Flugzeugkatastrophe.
29. Juli 2015 – Der UN-Sicherheitsrat stimmt über die Einrichtung eines internationalen Tribunals ab. Es soll diejenigen bestrafen, die an dem Abschuss der Boeing 777 des Flugs MH17 beteiligt waren. Doch ein solches internationales Tribunal scheitert am Veto Russlands.
Mitte Oktober 2016 – Die Ergebnisse der Untersuchungen des Dutch Safety Board sollen veröffentlicht werden.
Ukrainische Version der Ereignisse
Die ukrainischen Behörden machten unmittelbar nach der Flugzeugkatastrophe die Separatisten und Russland für sie verantwortlich. Der Ukraine zufolge wurde die Maschine von der Rakete eines BUK-Flugabwehrsystems abgeschossen. Am 18. Juli 2014 veröffentlichte der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) eine Aufzeichnung eines abgefangenen Gesprächs, in dem die Terroristen zugeben, das Flugzeug abgeschossen zu haben.
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Gebildet wurde eine Regierungskommission zur Untersuchung der Flugzeugkatastrophe. Ihre Aufgabe war, die Leichen an der Unglücksstelle zu bergen. Auch sollte sie dort einen ständigen Zugang für internationale Experten gewährleisten und für vollständige, offene und transparente Untersuchungen sorgen.
Der ukrainische Katastrophenschutz ermöglichte gemeinsam mit OSZE-Beobachtern, die Leichen in speziellen Kühlwaggons der Eisenbahn aufzubewahren und sie zur Identifizierung abzutransportieren. Am 23. Juli 2014 beschloss die Ukraine, die Untersuchungen an die Niederlande zu übertragen, um sicherzustellen, dass sie unvoreingenommen und objektiv verlaufen.
Das Ukraine Crisis Media Center wird zum MH17-Pressezentrum
Ab dem 18. Juli 2014 war das UCMC das offizielle staatliche Pressezentrum zur Katastrophe des Flugs MH17 der Malaysian Airlines. Es gab zwei Medienbüros – in Kiew und etwas später auch in Charkiw. Zudem gab es rund um die Uhr eine Hotline für Vertreter ausländischer Medien. Dort riefen auch Angehörige der Opfer an, um zu erfahren, wie man in die Ukraine kommen kann. Sie suchten Kontakt zu den Behörden, die an der Identifizierung der Opfer beteiligt waren. In Charkiw gab es ein Krisenzentrum zur Unterstützung von Angehörigen der Opfer.
Im Pressezentrum in Kiew berichtete täglich der Leiter der staatlichen Kommission zur Untersuchung der MH17-Katastrophe, Wolodymyr Hrojsman, der heutige Premierminister der Ukraine. Vor Journalisten sprachen im UCMC unter anderem die australische Außenministerin Julie Bishop sowie der Leiter der niederländischen Bergungsmission, Pieter-Jaap Aalbersberg. (Bilder)
Versionen der sogenannten “Donezker Volksrepublik”
Die ersten Informationen über das abgeschossene Flugzeug in russischer Sprache erschienen im russischen sozialen Netzwerk VKontakte. Auf einer Seite der Separatisten mit dem Titel “Berichte von Igor Iwanowitsch Strelkow” wurde folgender Text veröffentlicht: “In der Nähe von Torez wurde gerade ein Flugzeug vom Typ AN-26 abgeschossen. Es liegt irgendwo hinter dem Bergwerk ‘Progress’ herum. Wir hatten ja davor gewarnt, nicht in ‘unserem Luftraum’ zu fliegen. Und hier ist das Video, das den weiteren ‘Fall eines Vogels’ beweist. Der Vogel ist hinter die Halde gestürzt, er hat kein Wohngebiet getroffen. Friedliche Menschen sind nicht zu Schaden gekommen.”
Photo: http://fakty.ua/
Als sich herausstellte, dass es kein ukrainisches Flugzeug war und “friedliche Bürger” aus den Niederlanden, Malaysia, Australien und anderen Ländern getötet wurden, verschwand der Eintrag bei “Strelkows Berichten” sofort.
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Außerdem hatten wenige Tage vor der Tragödie Bewohner der besetzten Städte Torez und Snischne im Internet Fotos und Videos vom BUK-Raketensystem hochgeladen, das sie in ihren Städten gesehen hatten.
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Russische Versionen der Ereignisse
Die russische Propaganda griff sofort Vorwürfe gegen die ukrainische Armee auf.
“Dispatcher Carlos” und der “Abschuss durch einen ukrainischen Kampfjet”
Einer Version zufolge wurde die Boeing 777 von einem ukrainischen Kampfjet abgeschossen. Als Beweis führten die russischen Medien “Aussagen” von Anwohnern sowie einen Eintrag bei Twitter eines gewissen Carlos an, eines “spanischen Dispatchers”, der angeblich im Kiewer Flughafen Boryspil arbeitete. Ihm zufolge flogen wenige Minuten vor der Katastrophe Militärflugzeuge dicht neben der Boing 777, bevor sie vom Radar verschwand. Die Leitung des Flughafens Boryspil erklärte dazu, dass es nie einen Mitarbeiter mit dem Namen “Carlos” gegeben habe. Nach ukrainischem Recht dürften in der Ukraine ausländische Staatsbürger nicht als Dispatcher tätig sein und nicht einmal zu Dispatchern ausgebildet werden.
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“Putins Flugzeug”
Eine andere russische Version besagt, dass die Ukrainer die Boeing 777 versehentlich abgeschossen haben. Eigentlich hatten sie es auf das Flugzeug des russischen Präsidenten Wladimir Putin abgesehen. Tatsächlich war Putin von Lateinamerika aus zurück nach Russland geflogen. Seine Maschine flog wie der Flug MH17 russischen Medien zufolge ungefähr zur selben Zeit über Osteuropa. Laut einer anderen Version sollte, eine Maschine der russischen Fluggesellschaft Aeroflot getroffen werden, die auf dem Weg von Mailand nach Moskau war. Gezeigt wurden grob mit Photoshop bearbeitete “Bilder”, auf denen neben der Boeing 777 angeblich ein ukrainisches Flugzeuge fliegt.
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“Ein ukrainisches und kein russisches BUK-Raketensystem”
Einer weiteren russischen Version nach wurde die Boing 777 von einem BUK-Raketensystem abgeschossen, jedoch nicht von einem russischen, sondern von einem ukrainischen. Der russische Rüstungskonzern Almaz-Antej, der BUK-Systeme produziert, führte eigens einen Versuch durch, bei dem ein ausgemustertes Flugzeug gesprengt wurde. So sollte die “Schuld” der Ukraine bewiesen werden. In jenem Bericht hieß es, der Flug MH17 sei von einem Gebiet aus abgeschossen worden, das unter Kontrolle der ukrainischen Armee gewesen sei. Doch einige Tage später konnte die Gruppe Bellingcat mit einem Gutachten die Vorwürfe widerlegen.
“Explosion an Bord des Flugzeugs”
Vor der UN-Sitzung, auf der über den Entwurf einer Resolution über die Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Flugzeugkatastrophe im Donbass abgestimmt werden sollte, begannen die Russen, die Geschichte zu verbreiten, wonach das Flugzeug von innen gesprengt wurde. Den Plan dazu habe natürlich die CIA entwickelt, was der Mitschnitt eines Gesprächs von zwei CIA-Agenten beweise. Allerdings sprechen die Personen mal mit britischen, mal mit amerikanischen und mal mit russischem Akzent.
“Flugzeug mit Leichen an Bord”
Auch die absurdeste Version der russischen Seite wurde in jenen “Berichten von Igor Iwanowitsch Strelkow” veröffentlicht: Danach befanden sich in der Boeing 777 keine lebendigen Passagiere, sondern Leichen. Der Verfasser jener “Berichte” spricht von “Spuren der Verwesung”, von “unfrischen” Leichen, die “kein Blut” mehr gehabt hätten. Nach Ansicht einiger russischer Journalisten, “Experten” und Blogger, waren dies die Leichen der Passagiere der Maschine der Malaysian Airlines, die im März 2014 in den Indischen Ozean gestürzt war. Die Leichen habe man vom Meeresboden geholt, nur um die Separatisten des Mordes an Zivilisten beschuldigen zu können.
OSZE unterstützt Untersuchungen
In den zwei Jahren seit der MH17-Katastrophe hat die Sonderbeobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine äußerst wichtige Rolle gespielt. So wurde ihr am 18. Juli, einen Tag nach dem Abschuss des Flugs MH17, nach Verhandlungen Zugang zur Absturzstelle auf dem Gebiet der selbsternannten “Donezker Volksrepublik” zugesichert. Doch als Beobachter am 18. Juni an der Absturzstelle eintrafen, verweigerte ihnen die selbsternannte “Donezker Volksrepublik” einen ungehinderten Zugang. Die Beobachter kamen jeden Tag wieder, bis ihnen voller Zugang gewährt wurde. Sie erleichterten auch den Zugang für die niederländischen Ermittler und später auch für die Teams, die die Wrackteile bergen mussten.
Untersuchungen von Bellingcat
Mehrere Investigativ-Journalisten von Bellingcat schlossen sich den MH17-Untersuchungen bereits im Juli 2014 an. Deren Recherchen basieren auf offen zugänglichen Quellen, die jeder nachprüfen kann.
Die wichtigsten Ergebnisse der Bellingcat-Untersuchungen:
– Das BUK-Raketensystem, mit dem das Flugzeug abgeschossen wurde, wurde von russischen Militärs begleitet. Die Besatzung bestand aus vier Personen. Die Bellingcat-Experten fanden die Namen von zwei heraus: Dmitrij S. und Wladimir P.
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– Das Fahrzeug mit der Nummer 4267 AH 50 mit dem BUK-Anhänger Nummer XP 4679 50 wurde zwischen dem 23. und 25. Juni 2014 in die russische Militärbasis Millerowo gebracht.
– In der Nacht auf den 17. Juli 2014 wurde genau dieses BUK-Raketensystem in die Ukraine gebracht. Unmittelbar nach der Flugzeugkatastrophe am frühen Morgen des 18. Juli 2014 passierte es wieder die Grenze nach Russland.
– Zwischen dem 19. und 21. Juli 2014 wurde das BUK-Raketensystem in ein Militärlager im Nordwesten der Stadt Kamensk-Schachtinskij im russischen Gebiet Rostow verlegt. Später wurde es wieder verlegt. Sein heutiger Standort ist unbekannt.
– Die Nummer des BUK-System lautet 332. Es gehört zur russischen 53. Flugabwehrraketen-Brigade, die in der Nähe der Stadt Kursk stationiert ist.
Ermittlungen des Dutch Safety Board
Im Zusammenhang mit der MH17-Katastrophe führen die Niederlande einerseits technische Untersuchungen zu den Gründen für die Tragödie durch und andererseits strafrechtliche Ermittlungen, um festzustellen, wer die Täter sind.
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Ergebnisse der technischen Untersuchung wurden am 13. Oktober 2015 in den Niederlanden auf dem Militärflugplatz Gilze-Rijen bekanntgegeben. Die zwei wichtigsten Schlussfolgerungen sind, dass das Flugzeug von einer Boden-Luft-Rakete zum Absturz gebracht wurde und dass die ukrainischen Behörden die Risiken für die zivile Luftfahrt unterschätzt hatten.
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Die Boden-Luft-Rakete 9N314M
Der Untersuchung zufolge weisen die Schäden klar auf ein konkretes Raketen-Modell hin – und zwar mit der Nummer 9N314M. Den Ergebnissen nach wurde die Rakete, die die Boeing- 777 über Torez im Gebiet Donezk getroffen hat, aus einem Gebiet mit einem Radius von 320 Kilometern im Osten der Ukraine abgefeuert. Sie sei wenige Meter von der linken Seite des Cockpits entfernt explodiert.
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Die Ermittler schließen die Version aus, wonach der Flug MH17 in der Luft angegriffen wurde (in einem Umkreis von 30 Kilometern befand sich kein Militärflugzeug).
Die Ukraine hatte die Risiken unterschätzt – Chicagoer Abkommen
Im Bericht wird auch darauf hingewiesen, dass die ukrainischen Behörden die Risiken für die zivile Luftfahrt im Sommer 2014 unterschätzt hatten. Zwar habe es Berichte gegeben, wonach Militärflugzeuge auf einer Höhe von 6000 bis 6500 Metern abgeschossen worden seien, doch hätten die getroffenen Maßnahmen nicht in vollem Umfang die zivile Luftfahrt schützen können (zivile Flugzeuge fliegen auf einer Höhe von 9,7 Kilometern). Betont wird, dass gemäß Chicagoer Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt die Staaten für die Sicherheit ihres Luftraums verantwortlich sind.
Strafrechtliche Ermittlungen
Parallel werden strafrechtliche Ermittlungen unter Leitung der Niederlande durchgeführt. Der internationalen Ermittlungsgruppe gehören Vertreter der niederländischen, malaysischen, belgischen und ukrainischen Staatsanwaltschaft und Polizei an. Die Ermittler betonen, sie müssten feststellen, welche Waffe verwendet, von wem, und von wo sie abgefeuert worden sei. Geklärt werden müsse, wie das Flugzeug zerstört worden sei, und ob dies zufällig oder absichtlich geschehen sei. Der entsprechende Bericht soll im Oktober 2016 vorgelegt werden.