Am 13. Januar 2017 hat die ukrainische stellvertretende Premierministerin für europäische und euroatlantische Integration, Iwanna Klympusch-Zynzadse, einen Artikel in der ukrainischen Zeitschrift “Dserkalo tyschnja” (Wochenspiegel) veröffentlicht. Darin geht sie auf die Debatte über die NATO und die Ukraine ein, die nach dem Artikel des ukrainischen Oligarchen Wiktor Pintschuk in der Zeitung The Wall Street Journal entbrannt ist. Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) hat bereits über die Debatte in folgenden Artikeln berichtet:
Das UCMC fasst die wichtigsten Punkte des Artikels von Klympusch-Zinzadse zusammen.
Sich den Fakten stellen
Russland hat im Donbass etwa 700 Panzer, mehr als 1000 Stück militärischer Ausrüstung, genauso viele Artilleriesysteme und mehr als 300 Raketenwerfer zusammengezogen. Gerade über die “durchlässige Grenze” werden in die besetzten Gebiete Waffen und Personal geschafft. An der Besetzung ukrainischen Territoriums im Donbass sind rund 6000 Soldaten der regulären russischen Armee beteiligt. In diesen Gebieten werden von ihnen zwei Korps einer “hybriden Armee” aus etwa 35.000 Mann unterhalten, ausgerüstet und ausgebildet. Russland militarisiert die besetzte Krim – schnell und massiv.
Die Ukraine ist nicht die “letzte Station” auf Russlands Weg. Gefahr droht den Ländern Osteuropas, den baltischen Staaten und Skandinavien. Davon auszugehen, dass der Aggressor plötzlich sein Verhalten ändert und beginnt, die getroffenen Vereinbarungen umzusetzen, die das Ergebnis “schmerzhafter Kompromisse” sind, ist leider ein bitterer Fehler. Eine wundersame Verwandlung eines Wolfs in ein Schaf hat es in der Geschichte nie gegeben.
Brücke oder Vorposten?
Einer der Befürworter des Konzepts der “Beschwichtigung Russlands”, der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, wiederholt die These gerne, dass die Ukraine zu einer Brücke zwischen dem Westen und Russland werden sollte. Aber diese Metapher ist für uns inakzeptabel. Allein schon deswegen, weil eine Brücke im Krieg das erste ist, was zerstört wird: Sie wird entweder von Saboteuren gesprengt, mit Artillerie beschossen oder von Kampfjets bombardiert. Und die Hauptsache ist, dass eine Brücke ein ewiger Mittler ist – ohne die geringste Chance, zu einem Subjekt zu werden. Die Metapher eines Vorpostens ist meiner Meinung nach passender für die Ukraine. Auf einem Vorposten ist es auch gefährlich. Doch da weiß man zumindest, für was man kämpft. Es ist besser, für einige Zeit ein Vorposten zu sein, um schließlich ein gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft der freien Welt zu werden, als die gesamte Geschichte eine Brücke zu sein, über die sich ständig Soldaten und Ausrüstung bewegen – ob von der einen oder anderen Seite. Daher die Entscheidung: Lieber ein Vorposten als eine Brücke.
Was denken die Ukrainer?
Laut einer im Dezember von der ukrainischen Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen” durchgeführten Umfrage sind 62 Prozent der Ukrainer heute bereit, an einem Referendum über einen NATO-Beitritt ihres Landes teilzunehmen. 71 Prozent von ihnen würden bei einem solchen Referendum für einen Beitritt zur Allianz stimmen. Innerhalb von nur anderthalb Jahren ist der Anteil der Bürger, die sich endgültig in dieser Frage festgelegt haben, um sechs Prozent gestiegen. In den vergangenen neun Jahren ist die Zahl der Ukrainer, die einen NATO-Beitritt als beste Sicherheitsgarantie für ihr Land betrachten, um fast das 2,5fache gestiegen.
Neutralität schützt nicht vor Bedrohungen
Fundament des ukrainischen Pragmatismus kann keine Neutralität sein. Denn zu der Zeit der Annexion der Krim und des Beginns des Krieges im Donbass war die Ukraine ein de facto und de jure neutrales Land, was in der Gesetzgebung verankert war. Folglich ist für die Ukraine die einzige pragmatische Lösung, die europäische und euroatlantische Integration zu beschleunigen, mit besonderem Schwerpunkt auf die Integration in die NATO. Das bedeutet die maximale Annäherung an das Nordatlantische Bündnis, die Implementierung der NATO-Standards und die Mitgliedschaft in der NATO als strategisches mittelfristiges Ziel.
Warum die NATO von einer Zusammenarbeit mit der Ukraine profitieren kann
Einige der Vorteile der Zusammenarbeit der NATO mit der Ukraine sind heute schon offensichtlich.
- Zum einen kann die Ukraine zu einem der Garanten für Sicherheit in Osteuropa, zu einem “sicheren Checkpoint” auf dem Weg nach Asien und zu einer Speerspitz bei der Förderung von Werten der freien Welt im eurasischen Raum werden.
- Zweitens bauen wir eine der stärksten und erfahrensten Armeen in Europa auf, die bereits außergewöhnliche militärische Erfahrungen sammeln konnte. Wir machen dies nicht aus eigenen Stücken, aber Fakten sind eben Fakten. Daher ist die Ukraine für die NATO eine einzigartige Quelle für strategische militärische Erfahrung. Und wenn unsere Soldaten mit NATO-Ausbildern zusammenarbeiten, dann lernen sie voneinander.
- Drittens ist die Ukraine eines der Länder, das sich verteidigen muss in einem hybriden Krieg, der von einem starken Druck in der Wirtschaft und in den Medien begleitet wird. Unser Erfolg bei der Verteidigung kann unsererseits zu einem Angebot an die freie Welt werden, denn hybride Krieg scheinen zu einer Tendenz im 21. Jahrhundert zu werden.