Schon seit Jahrhunderten herrscht zwischen Kiew und Moskau eine Konfrontation, was die orthodoxe Kirche angeht. In den letzten Monaten erreichte die Spannung einen Höhepunkt. Im April 2018 unterstützte das ukrainische Parlament den Vorstoß von Präsident Petro Poroschenko für eine vereinte und unabhängige orthodoxe Landeskirche. Auch viele Kirchenvertreter wandten sich an das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel, als der Mutterkirche der Kiewer Metropolie, mit der Bitte, eine autokephale, also eigenständige, orthodoxe Landeskirche in der Ukraine zu schaffen. Seitdem hoffen auf einen entsprechenden Tomos (Erlass) des Patriarchen Bartholomäus nicht nur die ukrainischen orthodoxen Christen, sondern auch Vertreter anderer Konfessionen und sogar Atheisten. Denn diese Frage ist nicht nur religiöser Natur, sondern hat für die Ukraine auch große politische Bedeutung. Am 11. Oktober 2018 bestätigte das Patriarchat von Konstantinopel, dass die Ukraine einen Tomos erhalten wird. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Seit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre gibt es in der Ukraine gleich drei religiöse Organisationen, die sich als orthodoxe Kirche bezeichnen. Nur eine von ihnen, die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, die Teil der Russischen Orthodoxen Kirche ist, galt bislang als kanonisch, also als von allen anderen orthodoxen Kirchen der Welt anerkannt. Diese Kirche gilt aber im Zusammenhang mit der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine als Soft Power des Kremls und als Teil von Moskaus imperialen Bestrebungen, seinen Einfluss in der Ukraine aufrechtzuerhalten.
Die beiden anderen – die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche – waren nicht anerkannt. Deren Mitglieder, die eine von Russland unabhängige ukrainische Landeskirche anstreben, werden von Moskau als Kirchenspalter verurteilt. Die Verleihung von Autokephalie durch die Mutterkirche von Konstantinopel für die Ukraine soll nun den Bischöfen aus allen drei Kirchen die Möglichkeit eröffnen, sich in einer gemeinsamen Kirche zu vereinen, die dann einen kanonischen Status hätte.
Mehr Hintergrund:
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Auf dem Weg zur Autokephalie
Was genau wurde in Konstantinopel beschlossen?
Die Beschlüsse des Heiligen Synods vom 11. Oktober 2018 bestehen aus fünf Punkten:
- In Konstantinopel wurde die bereits getroffene Entscheidung bestätigt, wonach das Ökumenische Patriarchat zur Verleihung der Autokephalie für die Kirche in der Ukraine übergeht. Nun müssen die orthodoxen Bischöfe in der Ukraine ein Vereinigungs-Konzil abhalten und eine neue orthodoxe Kirche gründen, die dann den Tomos erhält.
- Konstantinopel stellt “das Stauropegion des Ökumenischen Patriarchen in Kiew wieder her, eines von vielen Stauropegien in der Ukraine, die dort immer existiert haben”. Damit verkündet das Ökumenische Patriarchat, dass die Ukraine ihm direkt untersteht. Beobachtern zufolge ist dieser Schritt notwendig, um deutlich zu machen, dass allein Konstantinopel und nicht etwa Moskau berechtigt ist, der Kirche in der Ukraine Autokephalie zu verleihen.
- In diesem Zusammenhang hat der Synod in Konstantinopel zudem den Synodal-Brief von 1686 widerrufen, der dem Patriarchen von Moskau das Recht gab, den Kiewer Metropoliten zu ordinieren.
- Das Patriarchat von Konstantinopel hat ferner den Kirchenbann für ungültig erklärt, der von der Russischen Orthodoxen Kirche aus politischen Gründen “wegen Kirchenspalterei” gegen die Oberhäupter der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats und der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche verhängt worden war. Dem Synod von Konstantinopel zufolge waren “Filaret Denysenko und Makarij Maletytsch sowie ihre Anhänger nicht aus dogmatischen Gründen in ein Schisma geraten”. Die beiden Kirchenoberhäupter wurden kanonisch in ihrem bischöflichen oder priesterlichen Stand erneuert, auch wurde die Kommunionsgemeinschaft ihrer Gläubigen mit der Kirche wiederhergestellt.
- Der Patriarch von Konstantinopel appelliert an alle Beteiligten, die Aneignung von Kirchen, Klöstern und anderen Besitztümern sowie jeden anderen Akt von Gewalt und Vergeltung zu vermeiden.
Warum wurde das erst jetzt möglich?
Die Kirche in der Ukraine kämpfte seit Jahrhunderten für ihre Unabhängigkeit von Moskau. Seit der staatlichen Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991 hat fast jeder ukrainische Präsident über die Eigenständigkeit der Kirche nachgedacht, auch Leonid Kutschma und Viktor Juschtschenko, deren Schritte in diese Richtung allerdings erfolglos blieben. Warum die Autokephalie für die Kirche in der Ukraine jetzt Wirklichkeit wird, hat mehrere Gründe.
Politische Gründe. Noch ist nicht genau bekannt, wie es dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko gelungen ist, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu überzeugen, einer Autokephalie für die Kirche in der Ukraine nicht im Wege zu stehen. Das Patriarchat von Konstantinopel hat seinen Sitz in Istanbul und muss immer die Position der türkischen Führung berücksichtigen. Diese ist zum einen nicht sehr daran interessiert, die Rolle des “griechischen” Patriarchen zu stärken und zum anderen wollte sie sich nie die Beziehungen zu Russland verderben.
Kirchliche Gründe. Zwischen dem Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel und dem Moskauer Patriarchat herrscht seit langem ein unerklärter Krieg um die Vormachtstellung in der Welt-Orthodoxie. Ein Wendepunkt in diesem Machtkampf war das Heilige und Große Konzil der Orthodoxen Kirche auf Kreta, das im Jahr 2016 erstmals seit mehr als zwölf Jahrhunderten wieder einberufen wurde. Das Konzil gilt schon fast als das Lebenswerk von Patriarch Bartholomäus. Doch im letzten Augenblick lehnte die Russische Orthodoxe Kirche ab, an dem Konzil teilzunehmen. Sie “überzeugte” zudem einige andere von Moskau abhängige Patriarchen, die Einladung von Patriarch Bartholomäus zu ignorieren. Das war für das Ökumenische Patriarchat sehr schmerzvoll. Die Autokephalie für die Orthodoxe Kirche der Ukraine wird die Position der Russischen Orthodoxen Kirche nun schwächen.
Einfluss von Petro Poroschenko
Offensichtlich ist dieser Erfolg an der “Kirchen-Front” auch dank den Bemühungen des jetzigen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko möglich geworden. Klar ist auch, dass sich ein Tomos positiv auf seine Wahlchancen im kommenden Frühjahr auswirken wird. Denn er konnte etwas erreichen, was keiner seiner Vorgänger erreichen konnte.
“Jetzt, wo wir uns einem erfolgreichen Abschluss nähern, sagen viele, dass dies vor den Wahlen ein Vorteil für den Präsidenten sein wird. Aber zu Beginn dieses Weges gab es keine Erfolgsgarantie”, erklärte der Erzbischof von Tschernihiw und Nischen, Jewstratij Sorja. Der Sekretär des Heiligen Synods der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats betonte, dass keiner der bisherigen Präsidenten in der Kirchenfrage ein positives Ergebnis erzielt habe. “Wenn Poroschenko am Ostermontag nicht sieben Stunden mit dem Ökumenischen Patriarchen verhandelt hätte, dann würden noch heute einfach nur Gespräche führen”, so der Erzbischof.
Wie geht es weiter?
Konzil und Wahl eines Kirchenoberhaupts.In einigen Wochen (oder Monaten) wird in Kiew ein Konzil einberufen, an dem die Bischöfe der Ukrainischen Orthodoxen Kirches des Kiewer Patriarchats, der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche und der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats teilnehmen werden, die sich mit der Bitte um Autokephalie an den Ökumenischen Patriarchen gewandt hatten. Auf dem Konzil soll eine Vereinigung der Kirchen in eine neue Landeskirche stattfinden und ihr Oberhaupt gewählt werden. Die meisten Bischöfe auf dem Konzil werden aus der bisherigen Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats kommen. Sie wollen ihren bisherigen Vorsteher Filaret als Kandidaten aufstellen. Der Vorsteher der bisherigen Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche, Makarij, will sich nicht zur Wahl stellen. Möglicherweise werden auch die Bischöfe aus der bisherigen Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats einen Kandidaten aufstellen. Seine Wahl ist allerdings rein rechnerisch unwahrscheinlich.
Tomos.Der Entwurf für einen Tomos ist bereits verfasst. Das hat vor einigen Monaten Archimandrit Kyril (Howorun) erklärt. Der Priester des Moskauer Patriarchats tritt aktiv für die Autokephalie der Kirche in der Ukraine ein. Der Tomos sei von führenden Experten für Kirchenrecht und Kirchengeschichte geschrieben worden. Das Dokument beschreibe die historischen Voraussetzungen für die Gewährung der kirchlichen Unabhängigkeit und liste alle rechtlichen Aspekte der Entstehung und des weiteren Lebens der neuen Ukrainischen Orthodoxen Kirche auf.
Übergabe des Tomos. Wer das Schriftstück entgegennehmen soll und wer es nach Kiew bringen wird, ist noch offen. Einige Beobachter vermuten, dass der Tomos zum Konzil gebracht wird, das erst dann einberufen wird, wenn das Dokument vom Patriarchen in Konstantinopel unterzeichnet worden ist. Andere vermuten, dass erst das Konzil zusammenkommen und ein Kirchenvorsteher gewählt werden muss, der dann den Tomos überreicht bekommt.
Mit der Übergabe des Tomos wird das Verfahren zur Verleihung der Autokephalie an die Kirche der Ukraine beendet sein. Das wird die Landkarte der orthodoxen Welt verändern und Russland wird sich zunehmend isolieren. In der Ukraine wird dann die wohl nach der Russischen Orthodoxen Kirche größte orthodoxe Kirche in Europa entstehen. Diese wird jedenfalls Moskau gegenüber alles andere als loyal sein.