Am 9. Dezember 2019 fand in Paris der lang erwartete N4-Gipfel (Ukraine, Deutschland, Frankreich, Russland) statt. Entgegen den Befürchtungen vieler ukrainischer Beobachter wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der noch über wenig politische Erfahrung verfügt, für den russischen Staatschef Wladimir Putin nicht zu einer “leichten Beute”. Nach Ende des Gipfels wurden die Proteste in Kiew unter dem Motto “Keine Kapitulation!” vorerst ausgesetzt. Mit anderen Worten, die ukrainischen nationalen Interessen wurden in Paris nicht verraten, was in Kiew befürchtet wurde. Selenskyj konnte viele Fallen bei diesem Treffens meiden und bei den Gesprächen sogar taktische Erfolge erringen. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Das Treffen der vier Staats- und Regierungschefs – von Wolodymyr Selenskyj, Angela Merkel, Emmanuel Macron und Wladimir Putin – und deren gemeinsame Pressekonferenz haben vor Augen geführt, was längst klar war: Die russische und die ukrainische Seite haben eine unterschiedliche Position, was die Lösung des Konflikts im Donbass angeht. Selenskyjs und Putins Reden skizzierten völlig unterschiedliche Realitäten.
Die Ukraine will ihre territoriale Integrität mit der Wiedereingliederung des Donbass und der Krim wiederherstellen. Sie will die Kontrolle über ihre Grenzen wiedererlangen, lehnt eine Föderalisierung des Landes ab und besteht auf der Beibehaltung des Einheitsstaat, dessen Außenpolitik vom Volk bestimmt wird. Präsident Selenskyj konnte diesen Standpunkt auf der gemeinsamen Pressekonferenz in Paris deutlich darlegen. Er stellte auch klar, dass die Krim ukrainisch ist, dass die Ukraine keine Verhandlungen mit Marionetten-Republiken führen werde, auch wenn Putin darauf bestehe. “Die Ukraine und ich als Präsident führen keine direkten Verhandlungen mit Vertretern der illegalen Machthaber in den vorübergehend besetzten Gebiete”, unterstrich Selenskyj.
Russland hingegen versucht, den bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine als inneren Konflikt und als Bürgerkrieg darzustellen. Moskau will die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die von den Staaten des Normandie-Formats im Februar 2015 unter militärischem Drucks Russlands während des Angriffs russischer Truppen auf die Stadt Debalzewe unterzeichnet wurden. Russland verlangt heute die Umsetzung jener Vereinbarungen, vor allem deren politische Aspekte: Die Gewährung eines Sonderstatus für die besetzten Gebiete und dessen Verankerung in der Verfassung der Ukraine; die Durchführung von Wahlen in jenen Gebieten noch vor der Wiedererlangung der Kontrolle über die ukrainische-russische Staatsgrenze im Konfliktgebiet durch die ukrainische Regierung ; eine Amnestie für die bewaffneten von Russland unterstützten Separatisten usw.
Was wurde vereinbart?
Trotz der unterschiedlichen Ziele in diesem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland gelang es den Seiten mehrere taktische Schritte zur Deeskalation und Fortsetzung der Verhandlungen zu erreichen.
Gefangenenaustausch bis Ende des Jahres.Hier geht es um diejenigen, die in den sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” festgehalten werden, also nicht um alle Gefangenen, weil sich einige in Gefängnissen in der Russischen Föderation befinden. Präsident Selenskyj sagte vor ukrainischen Journalisten, die Vereinbarung betreffe nur diejenigen, die in den “Kellern des Donbass” sitzen würden. Die politischen Gefangenen und illegal verfolgten Ukrainer in russischen Gefängnissen sowie Gefangene auf der besetzten Krim würden nicht unter einen Austausch fallen. Es sei nicht gelungen, sich mit Putin darüber zu einigen, so Selenskyj. Er betonte aber, man habe sich zumindest auf einen Anfang geeinigt: “Jetzt wird man uns Listen zeigen. Jetzt geht es um den Donbass. Lasst uns einen ersten Schritt machen. Es ist ein großer Schritt, wenn 72 Menschen nach Hause kommen können.”
Truppenentflechtung in drei weiteren nicht näher genannten Gebieten bis März 2020. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erwähnte zu Beginn der gemeinsamen Pressekonferenz, dass sich diese Gebiete in der Nähe von Stanyzja und Petriwske befinden würden.
Erweiterung des OSZE-SMM-Mandats.Hier geht es darum, dass die Beobachtung 24 Stunden am Tag erfolgen soll. Bisher hatten die OSZE-Beobachter ihre Arbeit in der Regel vor Einbruch der Dunkelheit beendet. Dies führte dazu, dass ihre Berichte wenig mit der Realität zu tun hatten, da die bewaffneten Separatisten in der Regel nachts ukrainische Stellungen beschießen. Allerdings war die OSZE auch nicht in der Lage, den Beobachtern die Erlaubnis für Nachtpatrouillen zu erteilen.
Kompletter Waffenstillstand bis Jahresende.Solche Waffenstillstände wurden regelmäßig vereinbart, aber dauernd gebrochen. Allein an dem Tag, als in Paris der Normandie-Gipfel tagte, wurden drei ukrainische Soldaten getötet.
Nächstes Treffen im Normandie-Format. Die Seiten einigten sich darauf, dass das nächste Treffen bis März 2020 stattfinden soll.
Was wurde nicht vereinbart?
Wiederherstellung der Kontrolle über die Staatsgrenze durch die Ukraine.Die Minsker Vereinbarungen besagen, dass die Ukraine nach lokalen Wahlen im Donbass die Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze im Konfliktgebiet übernehmen soll. Klar ist aber zugleich, dass es ohne eine Kontrolle über jene Grenze unmöglich ist, in den heute besetzen Gebieten einen Wahlkampf durchzuführen und die Lage zu überwachen. In einem solchen besetzten Gebiet können keine demokratischen Wahlen abgehalten werden. Daher machte Selensky klar, dass die Übernahme der Kontrolle über die Grenze noch vor Wahlen erfolgen müsse. Russland ist dagegen.
Wahlen in Donbass.Die Seiten konnten sich über keine Fortschritte bezüglich der Durchführung von Wahlen im Donbass einigen. Aus ukrainischer Sicht sollen die Wahlen der letzte Schritt einer De-Okkupation der Gebiete sein. Vorher müssten alle militärischen Verbände abgezogen sein. Derzeit gibt es in dieser Frage keine Fortschritte.
“Elastisches Minsk”
Ein wichtiger diplomatischer Erfolg des Treffens war die Bereitschaft der westlichen Partner der Ukraine, flexibler mit den Vereinbarungen von Minsk umzugehen. Die Ukraine hatte im Februar 2015 das zweite Minsker Protokoll unterzeichnet, das einige Punkte enthält, die nicht im Interesse der Ukraine liegen, insbesondere was die Kontrolle über die Staatsgrenze angeht. Darin heißt es, dass Wahlen in den betreffenden Gebieten des Donbass ohne eine ukrainische Kontrolle der Grenze zu Russland stattfinden sollen. Das macht aus Sicht Kiews aber keinen Sinn, weil dies bedeuten würde, dass die Grenze russischen Sabotage-Trupps, Söldnern und für Munition offen stehen würde. Faire Wahlen sind nach Ansicht der Ukraine unter solchen Bedingungen nicht möglich.
Der umstrittenste Punkt ist Nr. 9 des Dokuments aus dem Winter 2015, wo es um die Reihenfolge geht: zuerst Wahlen im Donbass und dann die Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle über die Staatsgrenze im Konfliktgebiet. Der Streit um diesen Punkt führte alle früheren Gespräche im Normandie-Format in eine Sackgasse, in der sie drei Jahre steckten, denn seit 2016 gab es keine Treffen mehr in diesem Format.
Seit Jahren wirft Kiew die Frage auf, ob es möglich ist, die Minsker Vereinbarungen so zu ändern, damit sich dies auf die Ukraine positiv auswirkt. Auf dem Normandie-Gipfel am 9. Dezember 2019 gab der Elyséespalast zu verstehen, dass Selenskyjs Wunsch, jene Reihenfolge zu ändern, Berechtigung habe.
Auch Berlin unterstützt Selenskyj in dieser Frage, was für die Ukraine eine sehr gute Nachricht ist. Merkel sagte auf der Pressekonferenz in Paris: “Ich will vielleicht nur hinzufügen, dass das Minsker Maßnahmenpaket vom 19. September 2014 stammt. Natürlich stellt sich, wenn jetzt eine Wahl in der Ukraine stattgefunden hat, die Frage: Versteinert ein solches Memorandum, ein solches Maßnahmenpaket, oder kann man es wieder zum Leben erwecken? Durch die Taten und die Maßnahmen, die Präsident Selensky nach seiner Wahl eingeführt hat, sind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass wir diesem Dokument wieder Beweglichkeit und Elastizität geben und dass wir es zum Leben erwecken können.”
Dies zeigt die internationale Unterstützung für die Ukraine durch den Westen, von der nicht jeder in der Ukraine mehr überzeugt war. Doch noch wichtiger ist, dass Präsident Selenskyj diese “rote Linie” nicht antastet.