Die vorgeschlagenen Änderungen der Übergangsbestimmungen für die Verfassung sehen keine Änderung am Status der Regionen vor und bedeuten keine Föderalisierung des Staates

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Kiew, 28. August 2015 – Die vorgeschlagenen Änderungen am Punkt 18 der Übergangsbestimmungen für die Verfassung sehen keine Änderung am Status der Regionen vor und bedeuten auch keine Föderalisierung des Staates, sondern nur die Übertragung besonderer Vollmachten in den Kompetenzbereich der lokalen Selbstverwaltung. Die Verfassungsreform legalisiert in keiner Weise die sogenannten „LVR/DVR“. Dies erklärten Experten während einer Besprechung der zukünftigen Verfassungsänderungen im Ukrainischen Crisis Media Center.

„Dieser Punkt ist ein sehr wichtiger diplomatischer Erfolg für die Ukraine, weil wir von dem Begriff der Subjektivität, wie ihn der Kreml von uns fordert, zum Begriff der Objektivität übergingen: jetzt gibt es keine andere Seite mehr, die „LuhanDon“ oder sonst wie heißt“, erklärte Juri Ganuschtschak, Mitglied der Verfassungskommission und Experte des Reanimierungspakets für Reformen. „Die Ukraine bleibt ein einheitlicher Staat, da es keine andere Quelle der Gesetzgebung gibt: die Entscheidungen auf staatlichen Niveau werden von den Behörden getroffen, die sich in Kiew befinden.“

Er merkte an, dass die Umsetzung der lokalen Selbstverwaltung nichts mit einer Änderung des Status zu tun hat. „Das bedeutet, dass es keine Erweiterung oder Einschränkung der Vollmachten für die lokale Selbstverwaltung gibt, sondern nur eine andere Form der Ausübung von Vollmachten“, erklärte der Experte. Die Besonderheit bei der Umsetzung der lokalen Selbstverwaltung besteht für die Gebiete von Donezk und Luhansk gerade darin, dass es dort keine Tradition einer starken lokalen Selbstverwaltung gab, die mit dem Magdeburger Recht vergleichbar ist. Die lokale Selbstverwaltung ist schwach und kann daher keine eigenen Entscheidungen treffen und dafür die Verantwortung übernehmen. In diesem Zusammenhang werden solche Institutionen der entwickelten lokalen Selbstverwaltungen, die zu anderen Regionen der Ukraine passen, dort nicht überleben können. Außerdem handelt es sich um das Grenzland zur Russischen Föderation. Deshalb, unter Berücksichtigung der derzeitigen gesellschaftspolitischen Situation, können die dortigen pro-russischen Kräfte enormen Druck auf die lokale Selbstverwaltung ausüben. Entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Behörden der lokalen Selbstverwaltung oftmals Entscheidungen treffen, die nicht mit der Verfassung und den Gesetzen der Ukraine vereinbar sind. Aufgrund dieser Umstände wird für diese Gebiete eine besondere Regelung zur Umsetzung der lokalen Selbstverwaltung eingeführt.

„In den Gebieten, wo die Informationssicherheit nicht garantiert werden kann [Anm. keine Propaganda, keine Freiheitseinschränkung, keine Verfolgung aufgrund der politischen Einstellung und freier Zugang zu Informationen], soll der Präfekt Entscheidungsentwürfe von den Behörden der lokalen Selbstverwaltung solange im Voraus abstimmen, bis sie beschlossen werden, während sie in anderen Gebieten der Ukraine a posteriori übernommen werden. Das heißt, der Präfekt kontrolliert die Urkunden und wenn er meint, dass sie nicht mit dem Gesetz vereinbar sind, lehnt er sie ab“, erklärte Juri Ganuschtschak.

Juri Ganuschtschak und Sergej Golowatyj, der ehemalige Justizminister der Ukraine, merkten an, dass die Behörden der lokalen Selbstverwaltung nur in sehr streng definierten Bereichen eigene Entscheidungen treffen können, die in ihren Kompetenzbereich übertragen wurden. Das sind solche, die direkt die Lebensfunktion der Region betreffen (Infrastruktur, Steuern, Lokalabgaben, mittlere Bildung, Grundstücksfragen), aber alle Fragen der Staatspolitik unterliegen ausschließlich dem Kompetenzbereich der Zentralbehörden.

Gerade aus diesem Grund, so Sergej Golowatyj, forderte das russische Außenministerium bei den Verhandlungen in Berlin eine Änderung bei den vorgeschlagenen Formulierungen zur Verfassungsänderung, was zur Gründung einer „Volksmiliz“ geführt hätte, sowie zu Sonderregelungen bei der Ernennung von Staatsanwälten und Richtern, sowie bei der Staatsanwaltschaft oder dem Abschluss von Abkommen zwischen dem Ministerkabinett und den Sonderbezirken usw.

Die europäischen und amerikanischen Partner stimmten der aktuellen Formulierung zu, und entsprechend erfüllte die Ukraine formell die Minsker Vereinbarungen. Aber gleichzeitig wird eine Legitimierung der selbsternannten Republiken vermieden, erklärte Jurij Kljutschkowskij, Mitglied der Verfassungskommission. Er betonte, dass es nicht um eine Legitimierung der Republiken oder darum geht, ihnen irgendeinen Sonderstatus zu gewähren, was direkt aus der Formulierung des Textes hervorgeht.

„Wenn wir von einer Legitimierung von etwas sprechen, so muss dieses „etwas“ im Text der Urkunde stehen, die es legitimiert. Wenn dieses „etwas“ im Text der Urkunde nicht genannt ist, dann ist die Schlussfolgerung: es wurde nicht legitimiert“, erklärte er.

Letzten Endes fehlt in der vorgeschlagenen Formulierung die Bezeichnung „LVR/DVR“. Aus dem gleichen Grund ist auch keine Änderung des Status von einzelnen Bezirken in den Gebieten von Luhansk und Donezk vorgesehen. „Status kann eine verwaltungstechnische Einheit haben, eine Region kann laut Verfassung einen Status haben (wie Kiew oder Sewastopol), dann wird das Wort „Status“ im Text verwendet“, betonte der Experte. Da die Rede aber über die „Besonderheiten bei der Ausübung der Selbstverwaltung in besonderen Bezirken“ geht, kann entsprechend nicht über eine Änderung des Status gesprochen werden.

Experten von Europäischen Institutionen, die bei dem Treffen anwesend waren, bestätigten, dass es in dem Entwurf, der ihnen vorgelegt wurde, nur über die Dezentralisierung bei der Beibehaltung der staatlichen Einheit der Ukraine ging, aber eindeutig nicht um eine Föderalisierung. „In diesem Text geht es um die Besonderheiten der Selbstverwaltung in einzelnen Bezirken: die Selbstverwaltung, die Beziehungen zwischen dem Präfekten und dem Lokalrat, ist anders als in anderen Regionen der Ukraine organisiert. In der Vorschrift ist die Rede von Selbstverwaltung, wobei nur diesen Organen solche Vollmachten gewährt werden können. Das bedeutet, dass ihnen keine Vollmachten zur Außenpolitik gewährt werden können, sondern dass dies im Kompetenzbereich der Zentralbehörden liegt. Eigentlich schließt diese Vorschrift jegliche Föderalisierung aus“, erklärte Thomas Markert, Sekretär der Venedig Kommission und Delegationschef des Europarats.

„Diese Vorschrift birgt keine Risiken, sondern gibt der Werchowna Rada den notwendigen Handlungsspielraum. Sie widerspricht nicht der Verfassung, einschließlich in dem Punkt, bei dem es um die territoriale Integrität der Ukraine geht. Es wäre schade, wenn diese Vorschrift Anlass wären, weitere Reformen zu blockieren, die für die Zukunft der Ukraine doch so wichtig sind“, ergänzte Thomas Markert.

„Wir bitten die Ukraine nicht, die Minsker Vereinbarungen zu befolgen. Die Reform der ukrainischen Verfassung ist eine Entscheidung der Ukrainer“, betonte der Berater des Kongresses für die Lokal- und Regionalbehörden beim Europarat, Alain Delcamp. „Dies ist eine demokratische Möglichkeit für die Menschen, Entscheidungen zu treffen, die es ermöglichen, die Unterschiede der Regionen zu berücksichtigen Und diese Entscheidungen werden in einem höheren Maß unter der Kontrolle der Öffentlichkeit stehen, als vor der tatsächlichen Verfassungsänderung“, sagte er.

Gleichzeitig gibt es zum Änderungsentwurf an der jetzigen Fassung gewisse Anmerkungen. Anatolij Tkatschuk, der ehemalige stellvertretende Minister für Regionalentwicklung und Bau in der Ukraine, und Igor Koliuschko, der Chefexperte der Verfassungsgruppe beim Reanimierungspaket für Reformen, wiesen darauf hin, dass es unlogisch ist, die Neuerungen in Bezug auf die lokale Selbstverwaltung in die Übergangsbestimmungen aufzunehmen. „Aus juristischer Sicht ist Punkt 18 inkorrekt: er sollte Teil der Verfassung sein“, erklärte Igor Koliuschko. Der Eintrag in diesem Teil der Bestimmungen, dass die Besonderheiten von einzelnen Bezirken durch ein gesondertes Gesetz definiert werden, ist so nicht ganz richtig, da dieser Eintrag, wie Anatolij Tkatschuk betonte, „aus der Verfassung“ nicht ersichtlich ist. In diesem Zusammenhang besteht das Risiko, dass nach der Beschließung des entsprechenden Gesetzes, das Verfassungsgericht es als solches nicht anerkennt, weil es nicht der Verfassung entspricht. Außerdem merkte Igor Koliuschko an, dass eine Bemerkung dazu notwendig ist, dass die Ukraine die Einhaltung dieses Punkts und des entsprechenden Gesetzes in den besetzten Gebieten nicht garantieren kann.

Nikolaj Kosjubra, ehemaliger Verfassungsrichter der Ukraine, äußerte die Meinung, dass, wenn man die enormen Probleme in den Gebieten von Luhansk und Donezk berücksichtigt, gewisse Zweifel darin bestehen, dass diese Regionen, die keine Erfahrung mit der lokalen Selbstverwaltung haben, auf bestehende Herausforderungen antworten könnten. Außerdem, so seine Meinung, könnte man diese Frage durch die Beschließung eines gesonderten Gesetzes, das sich nicht auf die Verfassungsreform bezieht, lösen, was keinen „Anlass für verschiedene Unterstellungen“ gibt.

„Die Sorge der Öffentlichkeit erklärt sich leider darin, dass der Erörterungsprozess nicht transparent war. Die Öffentlichkeit wird nicht immer zu den Besprechungen eingeladen, die in den Arbeitsgruppen stattfinden“, betonte er.

Trotz der genannten Bemerkungen waren sich die anwesenden Experten darin einig, dass die Reform für die Ukraine wichtig ist. Ein Teil von ihnen meinte, unter der Bedingung, dass die bestehenden Mängel in dem Entwurf der Verfassungsänderung korrigiert werden und dass der Prozess offen und transparent abläuft.

Es sei daran erinnert, dass in vielen Mitgliedsländer des Europarats die Europäische Charta über die lokale Selbstverwaltung gilt, die eine Dezentralisierung und Anwendung des Subsidiaritätsprinzips vorsieht (die Lösung konkreter Probleme auf dem Behördenniveau, das am nächsten zum Tagesgeschehen der Gesellschaft steht). Die höchsten Verwaltungsorgane entscheiden konkrete Probleme vor Ort nur in den Fällen, wenn diese Probleme aus Kraft der Lokalverwaltung nicht oder nur ineffektiv gelöst werden können. Während der Pressekonferenz nannten die Experten als Beispiele für eine erfolgreiche Umsetzung dieses Modells Länder wie Frankreich und Polen.