Zwei Jahre nach der Revolution der Würde – Entwicklungsperspektiven der ukrainischen Zivilgesellschaft

WATCH IN ENGLISH

Kiew, 17. November 2015 – Die Revolution der Würde und die weitere Entwicklung der Ereignisse (hybrider Krieg der Russischen Föderation; die Notwendigkeit, das Recht auf Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine zu verteidigen) vereinten die Ukrainer und machten den Menschen klar, dass sie für das Schicksal ihres Landes verantwortlich sind, wenn sie bereit sind, selbst für die Ideale wie Würde und Freiheit einzustehen. Damit waren die Ereignisse für einen Großteil der Ukrainer eine echte Revolution der Werte.

„Aus nationaler Sicht war die Revolution zu Ende, als sich eine ukrainische politische Nation bildete“, sagte Michail Winnizkij, Dozent an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie und Wirtschaftschule NaUKMA, im Rahmen einer Diskussion im Ukrainischen Crisis Media Center.

Nach Ansicht der Diskussionsteilnehmer gibt es insgesamt eindeutige Gründe dafür, über einen Sieg der Revolution zu sprechen – zumindest in einigen Bereichen, wo der Änderungsprozess unumkehrbar ist.

„Der Maidan siegte, und zwar unverzüglich. Es war ein einzigartiges Ereignis […] Es war ein Generator für Werte, ein echter Geist der ukrainischen Unabhängigkeit – für Aktivisten, Studenten, einfache Arbeiter und die Intelligenzija“, sagte Ruslana Lyschitschko, Sängerin und Person des öffentlichen Lebens, über ihre Erinnerungen an die Ereignisse vor zwei Jahren.

Said Ismagilow, Mufti der geistigen Verwaltung der ukrainischen Moslems (Umma) sprach über die Gründe des Konflikts zwischen dem Regime von Janukowitsch und der Zivilgesellschaft, wobei diametral entgegengesetzte ethisch-ästhetische Werte aufeinander prallten.

„Die staatlichen Vertreter unter Janukowitsch sahen die Bürger als ihr Eigentum – der Herr kann sie grausam verprügeln, sie an andere Herren zusammen mit Land verkaufen und sie sogar töten, wenn das Volk beginnen sollte, der Herrschaftsmacht gefährlich zu werden. Die kreative Mittelklasse hingegen war die treibende Kraft des Maidan – mit einem anderen ethisch-ästhetischen Konzept, das moderner ist und bei dem es keine Herren und Leibeigenen gibt, sondern Freiheit, Würde, ein Recht auf eine eigene Meinung und eine eigene Wahl“, betonte Said Ismagilow.

Die Revolution der Würde, so der orthodoxe Oberpriester Heorhij Kowalenko, erinnerte an den Wechsel des Hetmanats durch eine Entscheidung bei einer Volksversammlung und die „Änderung des Hetmanats“ verlief relativ schnell.

„Wenn man diese Zeit in zwei Komponenten einteilt, siegte die Revolution auf jeden Fall, aber nicht die Würde. Wahrscheinlich, weil für den Sieg der Revolution Gewalt notwendig war, aber für einen Sieg der Würde braucht es Zeit und Bildung, weil Würde die Achtung vor anderen bedeutet, sowie Selbstreflexion, Selbsterziehung und einen breiten öffentlichen Dialog“, sagte Heorhij Kowalenko. „Diese zwei Etappen der Revolution – eine Evolution der Gesellschaft und des Staates – ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, der tiefe Reflexion erfordert, sowie große Anstrengungen und schwierige Entscheidungen. Dabei steht die ukrainische Gesellschaft – sowohl die politischen Eliten, als auch die Öffentlichkeit – vor mehreren Herausforderungen, die mit der Umsetzung der Antioligarisierung und Werteorientierung der Revolution verbunden sind.

Nach Meinung von Sergij Dazjuk wird der revolutionäre Prozess in der Ukraine gerade deshalb in einem bedeutenden Maß gebremst, weil der Hauptmotor der Revolution – die Zivilgesellschaft – kein klares Aktionsprogramm und keine klare Strategie entwickelte, sondern nur allgemeine Ideen und Ziele. Intellektuelle Kreise mischten sich nicht aktiv genug in die Diskussion darüber ein, was nun die Strategie sein sollte, obwohl die Formulierung einer solchen Strategie eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg ist.

Eine bedeutende Herausforderung stellt auch die geopolitische Ebene dar: obwohl sich die Ukraine und deren politische Elite endgültig für Europa entschieden, will faktisch niemand die ukrainische politische Elite unterordnen und dafür Verantwortung übernehmen – weder Russland, noch Europa“, sagte Sergij Dazjuk.

Michail Winnizkij sprach dabei über die heutige innenpolitische Situation: „Wir sehen ein klassisches Schema, wo gemäßigte „neue“ Kräfte mit gemäßigten „alten“ Kräften zusammenarbeiten. Einerseits ist das eine relativ positive Entwicklungsvariante für die Ereignisse, da sonst das Risiko einer Radikalisierung in der Gesellschaft wächst; allerdings laufen unter solchen Bedingungen Änderungen viel langsamer ab.“

„Heute liegt wohl das größte Problem nicht in den Versuchen ehemaliger Vertretern der Partei der Regionen, sich zu revanchieren, sondern in den Führer, die eine Strategie der Untätigkeit umsetzen wollen, um das System zu konservieren und die sich vor Veränderungen fürchten“, meinte Andrij Dligatsch, Generaldirektor der Gesellschaftsgruppe „Advanter Group“.

In der derzeitigen Etappe findet fast keine Antioligarchisierungsrevolution in der Ukraine statt: „Es gibt einen gewissen öffentlichen Druck, aber die ukrainische politische Elite hat kein Interesse, sich von den Oligarchen zu trennen“, sagte Sergij Dazjuk. „Die Lustration wird aus den gleichen Gründen blockiert. Die Reformen zur Erneuerung der Gesetzgebung sind zu einem Drittel erfüllt, und auf dem Niveau der Umsetzung zu sieben Prozent. Die Gerichtsreform läuft praktisch gar nicht. Man vergaß bereits den Gesellschaftsvertrag“, sagte Valerij Pekar, Unternehmer, Dozent und Person des öffentlichen Lebens.

„Für einen wirklichen wirtschaftlichen Umbau ist es sehr wichtig, günstige Bedingungen für mittlere und kleine Unternehmer zu schaffen“, meinte Andrij Mazola, Gründer des Unternehmens „Erste Privatbrauerei“. „Dies gibt wirtschaftliche Freiheit. Man darf sich nicht davor fürchten, Steuern und Löhne offiziell zu zahlen, statt in Briefumschlägen. Man muss alle notwendigen Steuern zahlen und wissen, dass diese Mittel für Krankenhäuser und andere Bedürfnisse der Menschen verwendet werden.“

Eine beunruhigende Tendenz ist, dass die Untersuchungen der Entführungs-, Folter- und Mordfälle auf dem Maidan offen verzögert werden, obwohl es eine der ersten Forderungen des Maidan war, dass dieses kränkliche Thema zu einem „Lackmustest“ wird, inwiefern die neue Staatsführung ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft begreift.

„Es wird sabotiert […] Freiwillige unternahmen alles, was sie konnten. Sie sammelten Beweise, aber diese sind für ein internationales Gericht unzureichend“, sagte Ruslana Lyschitschko. Außerdem ergänzte sie, dass die Vertreter der jetzigen Staatsführung trotz Ankündigungen wenig reales Interesse zeigen, etwas zu ändern und verantwortungsvoll zu arbeiten. Dies ist unter anderem daran sichtbar, dass Freiwillige als erste auf die wichtigsten Herausforderungen reagieren, aber nicht der Staat. Wenn der Staat weiter notwenige Handlungen ignoriert, meinte sie, kann dies die Gesellschaft verärgern und zu äußerst negativen Folgen führen.

Die Experten meinten, dass es nur unter der Bedingung Ergebnisse und Änderungen am staatlichen System gibt, wenn die Staatsführung, aber auch ein Großteil der Gesellschaft bereit ist, nach neuen Regeln zu spielen.

„Solange eine verantwortliche Freiheit, Vertrauen und Entwicklung keine vorherrschenden Werte im Land sind, wird es in der Ukraine wirtschaftlich nicht besser, und damit auch bei den öffentlichen Standards. Deshalb erwarten wir in nächster Zeit Änderungen im Denkparadigma der Revolutionsführer“, betonte Andrij Dligatsch.

Alexander Paschawer, verdienter Ökonom der Ukraine, wies auf die Notwendigkeit hin, den Änderungsprozess im Land langfristig zu sehen. Unter anderem sagte er: „Mit dieser Machtverteilung, die es gerade gibt, ist es nicht verwunderlich, dass in einer bestimmten Etappe der Revolution „gemäßigte“ Altpolitiker an die Macht kamen.“

Nach Meinung des Experten beginnt eine tiefgreifende Transformation des Landes erst dann, wenn die pro-europäische Jugend, also die Generation seit der Unabhängigkeit, ihre Ideale vertritt, sowie ihre Sicht auf die Zukunft der Ukraine und in Bezug auf die Staatsführung. Das heißt, sie werden in zirka 10 Jahren kommen, wenn sie die notwendige Reife erreicht haben werden.

Außerdem merkten die Experten an, dass in dieser Etappe der Revolution der Würde und der Revolution der Werte nur einen Teil der ukrainischen Bevölkerung de facto erreicht wurde – hauptsächlich die Mittelschicht und die Bewohner von Millionenstädten.

„Ein sehr bedeutender Teil der ukrainischen Gesellschaft bekennt sich immer noch zu Werten, die kaum mit den europäischen Werten vergleichbar sind, sondern ihnen direkt widersprechen“, betonte Alexander Paschawer.

Ohne diese „Revolution des Bewusstseins“, unterstrich er, werden die erneuerten staatlichen Institutionen faktisch gelähmt. Deshalb muss die Ukraine eine schwierige Übergangsperiode durchlaufen, während die Änderungen langsam stattfinden und „gemäßigt“ eingeführt werden. Allmählich bereitet sich das Staatssystem und die Gesellschaft auf die nächste Etappe tieferer und effektiverer Reformen vor. Inwiefern sie diese Aufgabe verstehen und wie lange dieser Prozess braucht, ist schwer zu sagen. Trotzdem ist dieser „evolutionäre Weg“ jener, den die Ukraine gehen muss, denn die Alternative wäre weitaus schlimmer, fasste Valerij Pekar zusammen.