Prozess gegen ukrainische Gefangene in Russland – Folter und Willkür

In Grosny, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, geht der Prozess gegen zwei Ukrainer zu Ende – gegen Mykola Karpjuk, einen Anführer des “Rechten Sektors”, sowie gegen den Geschichtslehrer Stanislaw Klych. Menschenrechtler erheben Vorwürfe gegen die russische Justiz.

Mykola Karpjuk und Stanislaw Klych wurden im Frühjahr 2014 verhaftet. Karpjuk, damals Stellvertreter von Dmytro Jarosch, des Chefs des “Rechten Sektors”, fuhr im März 2014 angeblich zu Gesprächen nach Russland. Gleich nachdem er die Staatsgrenze passiert hatte, wurde er festgenommen. Mehrere Monate gelang es weder Verwandten, Rechtsanwälten noch Konsuln sich mit ihm in Verbindung zu setzen.

Stanislaw Klych wurde im August desselben Jahres in der russischen Stadt Orjol verhaftet. Er war dorthin gefahren, um sich mit einer Frau zu treffen, die er auf der Krim kennengelernt hatte. Anfangs wurde er wegen “Ungehorsams gegenüber Polizeibeamten” festgehalten. Später wurde ihm vorgeworfen, vor 20 Jahren russische Soldaten in Tschetschenien getötet zu haben. Klych wurde zehn Monate nach seinem Verschwinden auf Ersuchen von Menschenrechtlern ausfindig gemacht.

Die Vorwürfe

Der russische Staat beschuldigt beide Ukrainer, als Mitglieder der in Russland als extremistisch eingestuften Organisation “Ukrainische Nationalversammlung – Ukrainische Volks-Selbstverteidigung” (UNA-UNSO) Ende 1994 und Anfang 1995 an Kampfhandlungen der Streitkräfte der selbsternannten Tschetschenischen Republik Itschkeria gegen die russischen Föderalen Streitkräfte teilgenommen zu haben. Sie sollen angeblich an den Kämpfen auf dem Minutka-Platz und am Präsidentenpalast der Stadt Grosny beteiligt gewesen sein. Die Ermittler behaupten, dass sie 30 russische Soldaten getötet, Gefangene gefoltert und Verwundete umgebracht hätten.

Aber Tschetschenen, die sich an den Krieg gut erinnern, sagen, dass es in jenen Tagen auf dem Minutka-Platz keine Kämpfe gegeben habe. “Weder am 31. Dezember 1994 noch am 25. Januar 1995 wurde auf dem Minutka-Platz gekämpft. Außerdem ist keiner der Toten auf dem Minutka-Platz umgekommen”, sagte Dokka Izlajew, tschetschenischer Anwalt von Mykola Karpjuk.

Die Angehörigen der Angeklagten betonen, die beiden Männer hätten sich zu jener Zeit daheim in der Ukraine befunden. Mykolas Bruder, Anatolij Karpjuk, sagte, im Dezember 1994 sei deren Mutter erkrankt und sein Bruder Mykola habe sich um sie gekümmert. Tamara Klych berichtete, 1994 und 1995 sei ihr Sohn Student an der Kiewer Schewtschenko-Universität gewesen. Er sei nur kurz Mitglied der UNA-UNSO gewesen und vertrete keine radikalen Ansichten.

Memorial: Ein erfundener Fall

Die Anklageschrift umfasst mehr als 700 Seiten. Das Dokument wurde vom russischen Menschenrechtszentrum “Memorial” genau geprüft. Es kam zum Ergebnis, dass die Fälle Klych und Karpjuk erfunden sind und dass sich die Männer wahrscheinlich unter Druck selbst belastet haben. Nach Ansicht der Menschenrechtler sind die Berichte über die Folterungen von Soldaten komplett erfunden und sollen lediglich ein “sehr negatives Bild der Angeklagten” zeichnen.

Ferner enthalte die Anklage, so Memorial, zahlreiche Fehler, die zu den gut erforschten Einzelheiten des Tschetschenienkriegs im Widerspruch stünden. So seien die angeblich von den beiden Ukrainern getöteten Soldaten in Wirklichkeit an einem ganz anderen Ort umgekommen als von der Anklage behauptet. Zudem seien sie nicht mit Waffen getötet worden, die den Ermittlern zufolge Klych und Karpjuk gehabt haben sollen. “Die Anklageschrift ist voller sachlicher Fehler, Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten. Deswegen kommen wir zum Schluss, dass die Vorwürfe insgesamt haltlos sind”, unterstreicht Memorial.

Der einzige Zeuge

Die gesamte Anklage basiert auf Aussagen eines Mannes, des ukrainischen Staatsbürgers Oleksandr Malofejew. Er wurde in Russland wegen Raubes und Diebstals schon mehrmals schuldig gesprochen. Im Jahr 2009 wurde er wegen Mordes an einer Frau zu 23 Jahren Gefängnis verurteilt. Malofejew ist krank, er ist im vierten HIV-Stadium, hat Hepatitis C und Lungentuberkulose. Im Jahr 2014 erklärte er, in Tschetschenien gekämpft zu haben. Sein “Geständnis” wurde von den russischen Staatsmedien massiv verbreitet. Unter anderem hatte er gesagt, gemeinsam mit Arsenij Jazenjuk, den Brüdern Tjahnybok, Dmytro Jarosch, Oleksandr Musytschko, Dmytro Kortschynskyj und anderen in Tschetschenien gekämpft zu haben, darunter auch mit Karpjuk und Klych. Die ukrainische Menschenrechtlerin und Journalistin Maria Tomak meint, solche Aussagen würden nicht auf Karpjuk und Klych abzielen, sondern auf die ukrainische politische Führung.

In der Darstellung der Kämpfe in Grosny vom 31. Dezember 1994 berufen sich die russischen Ermittler gerade auf Malofejew: “In diesem Kampf ist ihm (Malofejew) Arsenij Jazenjuk in Erinnerung geblieben, der auch mit einer Kalaschnikow etwa zehn Schüsse auf russische Soldaten abgegeben hat. Ob er jemanden getötet hat oder nicht, hat er (Malofejew) nicht gesehen. (…) Nach dem Kampf war Jazenjuk viel unter Journalisten, ließ sich fotografieren und gab Interviews.”

Folter und “Geständnisse”

Die beiden Angeklagten Klych und Karpjuk wurden wiederholt gefoltert. Stanislaw Klych sagte: “Man ließ mich durch eine Luke herab, eine Müll- oder Abwasserluke. Dann holte man mich wieder hoch. Der Mann, der die ganze Folter beaufsichtigte, schrie: ‘Tötet ihn’. Dann setzte man mich auf einen Stuhl und sagte mir: ‘Stanislaw! Werden Sie an unserer Show teilnehmen?’” Klych sagte, dass die Ermittler und Peiniger während der Verhöre entweder scherzhaft oder ernsthaft über seine Aussagen gesprochen hätten. Dabei hätten sie über die Gräueltaten während des Krieges gesprochen, als wären sie “Projekte”, Castings oder Dreharbeiten zu einer Serie. “Ich dachte immer, das alles sei ein Missverständnis, dass alles gut wird, dass man mich auszutauschen und in die Ukraine zurückholen wird”, so Klych. Er berichtete ferner, dass er mit Elektroschocks und Schlafentzug gequält worden sei. Er sei mit Handschellen so aufgehängt worden, dass er kaum den Boden berühren konnte. Seine Augen habe man ihm eingedrückt. Auch sei er einfach geschlagen worden. Auch habe er irgendeine Flüssigkeit trinken müssen, von der er Halluzinationen bekommen habe. Alle Einzelheiten, die später in das Vernehmungsprotokoll und das Geständnis aufgenommen wurden, wurden Klych unter Folter eingehämmert, die mit einigen Unterbrechungen von Ende August bis Mitte September dauerten.

Auch das Geständnis von Mykola Karpjuk wurde erzwungen. Auf der Webseite der Menschenrechtsorganisation “Memorial” ist ein Ersuchen von Karpjuks Anwalt veröffentlicht, in dem Mykola selbst beschreibt, wie er gefoltert wurde: “Meine Arme und Beine wurden mit Seilen zusammengeschnürt. An einem Zeh des rechten Fußes und am Mittelfinger der rechten Hand wurden Klemmen angebracht. Über sie wurde elektrischer Strom unterschiedlich lang durchgeleitet: zehn Sekunden, in mehreren Schüben, dann auch für längere Zeit. Ich habe nichts gestanden, weil ich nicht an Kampfhandlungen beteiligt war”, sagte Karpjuk seinem Anwalt und fügte hinzu: “Am 25. März holte man mich wieder. Man sagte mir, man sei meine Hartnäckigkeit leid. Es gebe den Befehl, meinen Sohn zu packen und ihn vor meinen Augen zu foltern. Ich sagte, sie sollten von meinem Sohn und meiner Frau die Finger lassen, und dass ich bereit sei, die Schuld auf mich zu nehmen und alle notwendigen Papiere zu unterschreiben.”

Doch nachdem den Anwälten gelungen war, die vermissten Männer Karpjuk und Klych ausfindig zu machen, zogen die Männer alle ihre früheren Geständnisse zurück, zu denen sie unter Folter gezwungen worden waren.

Lange kein Zugang zu den Angeklagten

Am 27. Oktober erhielt der ukrainische Konsul erstmals nach anderthalb Jahren die Erlaubnis, die ukrainischen Staatsbürger Stanislav Klych und Mykola Karpjuk im Gefängnis in Tschetschenien (Russische Föderation) zu besuchen. Er konnte dabei feststellen, dass die Angeklagten Narben von Folter tragen.

Lange Zeit konnte kein ukrainischer Konsul Karpjuk und Klych aufsuchen, weil Russland verbergen wollte, in welcher körperlichen Verfassung sich die beiden Männer nach der Folter befanden. Das erklärte der Botschafter für besondere Aufgaben des ukrainischen Außenamtes, Dmytro Kuleba. “Offensichtlich hätte ein ukrainischer Konsul festgestellt, dass sie sich in einem physisch Zustand befanden, der auf Folter schließen lässt. Das hätte man der Öffentlichkeit mitgeteilt”, sagte er. Kuleba fügte hinzu, dass er das Vorgehen Russlands für barbarisch halte.

Das Urteil der Geschworenen

Am 19. Mai befand die Jury Karpjuk und Klych für schuldig. Zugleich verdiene nach Ansicht der Jury Stanislaw Klych, der medizinischer Hilfe bedarf, “Nachsicht”. Doch Karpjuk und Klych beteuern ihre Unschuld und sagen, dass sie gesetzwidrig festgenommen und ihre Aussagen durch Folter der russischen Ermittler erzwungen worden seien.

Menschenrechtler weisen darauf hin, dass man unter Berücksichtigung des oben genannten die russische Justiz nicht als fair betrachten könne. Sie fordern die internationale Gemeinschaft auf, die russische Führung unter Druck zu setzen und die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen zu fordern.