Der Ursprung des Kriegs liegt bei der russischen Führung

Der russische Oppositionsaktivist und Mitglied der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, Sergej Davidis, kehrte in diesen Tagen aus der Konfliktzone zurück. Er fuhr eine Woche lang die gesamte Kontaktlinie im Gebiet von Donezk ab und berichtete von seinen Eindrücken, sowie, was er von den einfachen Bewohnern im Donbass sah und hörte, und was ihm ukrainische Soldaten erzählten.

Das Originalinterview ist auf der Website von Radio Swoboda veröffentlicht. Das Ukraine Crisis Media Center gibt hier eine gekürzte Version wieder.

Ist es das erste Mal, dass Sie in der Zone der Anti-Terror-Operation waren? Wer organisierte diese Reise und was war der Zweck?

Im Rahmen dieses Projekts finden vier Fahrten entlang der Kontaktlinie statt. Das Projekt wird gemeinsam mit der Charkiwer Menschenrechtsgruppe (Ukraine) und der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ (Russland) durchgeführt. Bisher gab es drei Reisen. Zwei davon im von der Ukraine kontrollierten Gebiet, eine davon im Gebiet von Luhansk und jetzt diese Reise durch das Gebiet von Donezk. Eine weitere Fahrt von Kollegen fand in der sogenannten „Donezker Volksrepublik“ („DVR“) statt. Bisher erhielten wir noch keine Akkreditierung von der „Luhansker Volksrepublik“.

Ziel dieser Reisen ist die Beobachtung der Rechtssituation von Zivilisten in den Bereichen, wo die Situation am schwierigsten ist. Wir fuhren eine Woche lang die gesamte Kontaktlinie im Gebiet von Donezk ab – von Popasna an der Grenze der Gebiete von Donezk und Luhansk, bis nach Mariupol im Süden.

Was werden Sie in ihren Bericht zu dieser Reise schreiben? Werden die Menschenrechte eingehalten? Und wenn sie verletzt werden, dann in erster Linie von wem?

Das wesentliche Problem besteht in der enormen Notlage der Zivilisten in den Ortschaften, wo sich die Konfliktparteien unmittelbar gegenüberstehen. Deshalb, weil sich der Beschuss aus Gewehren und schweren Waffen in den vergangenen zwei Monaten wieder stark intensivierte, wie uns die Bewohner berichteten. Häuser werden getroffen und zerstört. Es gibt Verletzte und leider sogar Tote.

Manche Menschen befinden sich faktisch die ganze Nacht über unter Beschuss, obwohl auch teilweise tagsüber geschossen wird, weshalb die Reparatur an zerstörtem Wohnraum fast unmöglich ist. Wenn tragende Wände beschädigt sind, wird es mit der Reparatur sehr schwierig. Diese Menschen sind faktisch ohne Wohnungen.

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Ein weiteres Problem ist, dass es keine Arbeit gibt. Es ist verständlich, dass die meisten Unternehmen ihre Betriebe einstellten. Die Menschen leben von ihrer geringen Rente, von Kindergeld und humanitärer Hilfe, die von verschiedenen Hilfsorganisationen verteilt werden. Allerdings wird nur in den Zeiten allen humanitäre Hilfe gewährt, wenn in der Gegend gekämpft wird, aber das ist nicht überall der Fall. Normalerweise erhalten nur Familien mit Kleinkindern Hilfsgüter, sowie Rentner und Invalide. Sonstige Erwachsene befinden sich in einer besonders schwierigen Lage. Wir wollen all das dokumentieren.

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Waren Sie in Debalzewe, wo erneut schwere Kampfhandlungen ausbrachen? Was ist der Grund für diese Verschärfung?

Wir waren in Popasna und Swetlodar, in der Umgebung von Debalzewe, wo im Januar/Februar 2015 die stärksten Kämpfe stattfanden. Dort ist aus jener Zeit sehr viel zerstört. Die Menschen wurden evakuiert. Trotz des Beschusses kehrten die Leute zurück, jedenfalls bis zum Wiederaufflammen des bewaffneten Konflikts. Die jetzige Verschärfung ist allerdings nicht mit den Kampfhandlungen vom letzten Jahr vergleichbar, als die Ukraine versuchte, Debalzewe und die Umgebung zu verteidigen. Letztlich wurde das Gebiet von den Separatisten mit Unterstützung der russischen Armee erobert.

Selbst heute wird dort noch geschossen, wobei wir die Ursachen nicht ausmachen konnten. Wir sprachen mit den Lokalbewohnern, sowie mit Vertretern der Lokalverwaltungen und mit Lehrern. Sie haben wirklich keine Ahnung davon, warum jetzt wieder geschossen wird.

Wen machen die Menschen, mit denen Sie sprachen, für den Krieg verantwortlich, der bereits in das dritte Jahr geht und der immer noch nicht zu Ende ist? Die russische oder die ukrainische Armee? Putin? Poroschenko? Wen?

Fast die Hälfte der Bevölkerung floh aus all diesen Ortschaften. Das waren in erster Linie gebildete und eher wohlhabende Menschen, die andernorts Arbeit finden konnten und mobiler waren. Aber die Menschen, die blieben, interessieren sich kaum für Politik. Sie beschuldigen alle Machthaber und insgesamt alle Mächte der Welt, die miteinander nicht können, dabei leiden die einfachen Menschen. Dies war die weit verbreitetste Meinung.

Warum flüchten die Leute nicht, die noch dort sind?

Sie flüchten nicht, weil sie nirgendwo anders unterkommen können. Sie haben dort ihre Habseligkeiten und Häuser, die sie ihr Leben lang aufbauten. Sie sind in der Gegend aufgewachsen und leben schon immer dort. Sie verfügen über kein Geld, um anderswo eine Wohnung zu mieten. Und in einem Flüchtlingslager zu leben, ist nach ihrer verständlichen Auffassung noch schwieriger. Andererseits, würde man ihnen anderswo ein gleichwertiges Haus anbieten, wären sie längst weg. Aber niemand macht das.

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Reagierten die Menschen negativ, als sie erfuhren, dass Sie Russen sind?

In den frontnahen Gebieten absolut nicht. Das hatte ich selbst auch gar nicht erwartet. Aber vielleicht Soldaten, deren Kameraden dort starben, und Menschen, die seit über einem Jahr an den Hauptkampflinien leben. Das ist aber verständlich, denn Russland ist dafür verantwortlich, dass alles so kam. Trotzdem gab es seitens der Soldaten keine Aggression oder Vorurteile. Man nahm uns völlig ruhig auf. Diejenigen, mit denen wir sprechen konnten, zeigten sogar Verständnis, dass es neben der aggressiven Politik von Putin und des russischen Staates noch ein anderes Russland gibt. Und selbst wenn 15 Prozent die Aggression gegen die Ukraine nicht für gut heißen, was Millionen sind, so muss man sie getrennt von der Staatspolitik betrachten.

Doch was ist das für ein Krieg? Ein Bürgerkrieg? Ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine? Oder etwas ganz anderes?

Auf die Frage, ob das ein Bürgerkrieg ist oder ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, kann man nicht nach einer Woche in der Ukraine klären. Ich hatte und habe natürlich meine Meinung. Nämlich, dass der Ursprung des Kriegs bei der russischen Staatsführung liegt. Dabei gelang es einerseits, einen Teil der Zivilisten zu betrügen und andererseits mit Widersprüchen zu spielen. Das nahm allerdings nie einen solch scharfen Charakter an, um einen eigenständigen Krieg auszulösen. Das war und ist meine Meinung.

Bilder von Radio Swoboda und Sergei Davidis (c)