Dämmerung am Bosporus. Übertrifft Erdoğan Putin?

Nach dem misslungenen Putschversuch in der Türkei am 15./16. Juli 2016 steht die Frage über das Paradox einer „Fassadendemokratie“ im Raum und wie die Türkei und der Kreml die schwierige Situation am Bosporus für ihre Zwecke nutzen werden.

Konstantin von Eggert, Nahost-Experte und politischer Kommentator des TV-Senders „Doschd“ gibt eine Sicht der russischen Opposition auf den Umsturzversuch in der Türkei.

Der Originalartikel wurde auf der Website SpektrPress veröffentlicht. Das Ukraine Crisis Media Center gibt eine gekürzte Version des Artikels auf Deutsch wieder.

Die türkische Republik, wie wir sie im vergangenen Jahrhundert kannten, ist in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 endgültig gestorben. In den letzten 10 Jahren wurde sie durch das islamische Regime unter der „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) von Recep Tayyip Erdoğan zielgerichtet getötet. Die Portraits von Mustafa Kemal Atatürk, der das Osmanischen Reich und das Kalifat abschaffte, um eine weltliche Türkei zu gründen, prangen weiterhin an den Wänden der Amtsstuben als Ikone einer vergangenen Epoche. Der Westen, der die Augen vor vielem verschließt, will die Zusammenarbeit mit der Türkei um jeden Preis aufrechterhalten. So ist das Land doch Mitglied der NATO, wenngleich es immer mehr innenpolitische Probleme gibt, sowie um den Konflikt mit Syrien.

Das Wesen der neuen Epoche wird die Festigung der persönlichen Macht von Erdoğan sein, sowie die Demontage der Reste einer demokratischen Türkei. Der Präsident nahm den Putschversuch nun zum Anlass, eine großangelegte Verhaftungswelle von Oppositionellen des islamischen Regimes durchzuführen, was schnell die Form einer persönlichen Abrechnung annahm.

„Fassadendemokratie“ in der Türkei und in Russland: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Das türkische Regime baut die Türkei zu einer Art „Fassadendemokratie“ ähnlich wie im heutigen Russland um. Darin sind alle Elemente eines demokratischen Staates enthalten, wie Parlamente, Gerichte oder Massenmedien, doch ihre Schlüsselpositionen werden durch politische Funktionäre besetzt, die Erdoğan loyal ergeben sind. Wahlen werden gefälscht und die Allmacht der Geheimdienste wird als unbeschränkter Zugang zur staatlichen Futterkrippe für die „Seinigen“ verstanden, einschließlich loyaler Unternehmen. Das Regime von Erdoğan erweist sich sogar als schlechter als die russische Variante.

Das zukünftige Regime der Türkei wird versuchen, alle Bereiche des Lebens zu islamisieren. Die Verfolgung von Oppositionellen wird um ein vielfaches härter ausfallen als in Venezuela oder in Russland. Man kann das, was die Türkei in den nächsten Jahren erwartet, eigentlich nicht mit einer „Klerikalisierung in Russland“ vergleichen, denn die sogenannte „dominierende russisch-orthodoxe Kirche“ ist im öffentlichen Raum von Russland nur ein Versuch einer äußerst schwachen Kirche mit relativ wenigen aktiven Gläubigen und einer ziemlich schwachen autoritären Führung, um gemeinsam in einer absolut atheistischen, amorphen, passiven und dabei potentiell instabilen Gesellschaft nach Rechtmäßigkeit und einer Stütze zu suchen.

In der Türkei haben wir es aber nicht mit rechtlosen mittelasiatischen Hausmeistern zu tun, die wie in Russland in ihrer Freizeit für 500 Rubel zu Kundgebungen gekarrt werden, sondern mit Millionen ergebener Anhänger eines religiösen Autoritarismus. Sie sind bereit, sich aus eigener Überzeugung Panzern in den Weg zu stellen und „Allahu Akbar“ zu skandieren. Nicht die weltlichen Liberalen, sondern die Anhänger eines gelenkten islamischen Regimes waren die haupttragende Kraft der vergangenen Tage, die den Putschführern eine Niederlage beifügten. Gerade sie begehen heute Lynchjustiz gegen gefangengenommene Rebellen.

Fehlende Pressefreiheit

Der türkische Präsident ist für seinen Hass gegenüber Journalisten bekannt, die er bereits vor dem Putschversuch gerne einsperren ließ. Nun erwartet sie eine noch gefährlichere Zeit. Twitter wurde bereits gesperrt. Erdoğan wird seine Anstrengungen verdoppeln, Soziale Netze und Messenger unter dem Vorwand zu verbieten, weil sie von den Verschwörern genutzt wurden. Die Ironie der Geschichte ist, dass gerade Soziale Netze und ein Volksaufstand, was Erdoğan am allermeisten fürchtet, sein Regime rettete.

Antiamerikanismus

Die herrschende russische Elite hat etwas mit der türkischen gemein: sowohl in Ankara, als auch in Moskau sieht man hinter allem einen Komplott unter der „Regie von Washington“. Die Minister von Erdoğan beschuldigten bereits die Amerikaner, den Putschversuch organisiert zu haben. Ihr Chef hält sich allerdings bisher mit Forderungen zurück, seinen einstigen Verbündeten, aber heute beschworene Feind, den bekannten islamischen Prediger Fethullah Gülen, auszuliefern, der in Philadelphia lebt. Die USA werden Gülen sicher nicht für die unvermeidliche Abrechnung ausliefern. Dies wird aber einen Anlass geben, in den Medien, die unter der Kontrolle des Regimes von Erdoğan stehen, weiter gegen Amerika zu hetzen.

Stärkung der Beziehungen zu Moskau

Die Folgen des Putschversuchs werden nicht nur zu weiteren Repressalien innerhalb der Türkei und zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Ankara und Washington, sowie den NATO-Verbündeten führen, sondern auch die Beziehungen zu Moskau festigen. Der Antiamerikanismus von Erdoğan und Putin werden dabei helfen, das gegenseitige Verständnis zu stärken.

Der Kreml wird die Krise in der Türkei mit Sicherheit für seine eigenen Ziele nutzen. Die Staatspropaganda beginnt bereits damit, das Thema als weiteren „Komplott von Washington“ gegen ein „unliebsames Regime“ darzustellen. Die Verschwörungstheorie wird dazu genutzt, moderne Internetkommunikationsmittel durch eine neue Gesetzgebung noch stärker zu kontrollieren.

Welche Schuld trägt die EU?

An der politischen Katastrophe in der Türkei trägt auch die Europäische Union Schuld. Gerade die europäische Führung forderte von türkischen Politikern Ende der 1990er, die besondere Rolle des Militärs als Garant eines säkularen Staats zu beenden, was Voraussetzung für EU-Beitrittsverhandlungen war.

Die politische Elite in der Türkei widerstand dieser Forderung, da sie dies als Demontage des Kernelements des Erbes von Atatürk betrachtete. Erdoğan setzte dies aber mit Freuden um: er entließ hochrangige Offiziere und Generäle, denen seine Politik zur Festigung seiner persönlichen Macht nicht gefiel, sowie die schleichende Islamisierung.

In den Hauptstädten Europas hoffte man auf den Mythos einer „islamischen Demokratie“ in der Türkei und hielt sich deshalb zurück, wenn es um politisierte Gerichtsprozesse mit äußerst zweifelhaften Beweisen für ein „Komplott des Militärs gegen die Demokratie“ ging. Die europäischen Beamten und Abgeordneten halfen Erdoğan dabei, die einzige Kraft zu stürzen, die fähig gewesen wäre, ihm etwas entgegenzustellen.

Übrigens erwies sich das Versprechen einer EU-Mitgliedschaft für die Türkei ebenfalls als Fiktion, wobei hauptsächlich Deutschland Bedenken vorbrachte. Erdoğan freute sich sogar darüber: die pro-europäischen und weltlichen Kräfte erwiesen sich damit langfristig als kompromittiert und geschwächt.

Was weiter?

Wie wird es weiter gehen? Das schlechteste Szenario wäre ein untragbares Regime von Islamisten. Gegner werden dabei eingesperrt, entlassen und aus dem Land geworfen. Die loyale Polizei und die Geheimdienste werden weitere Vollmachten erhalten. Sicher wird die Türkei nicht zu einem zweiten Saudi-Arabien, doch die Institutionen der Republik werden weiter ausgehebelt.

Die NATO muss sich auf schwierige Beziehungen zu dem launischen und untreuen Verbündeten einstellen, der versuchen wird, die russische und syrische Karte gegen die Allianz auszuspielen.

Der heutige Triumph von Erdoğan könnte sich als langfristig erweisen. Seine Gegner sind demoralisiert und desorganisiert. Aber die Türkei erwartet eine lange Dämmerung. Niemandem wird es dabei besser gehen.