Kunstwissenschaftler: Gesetz über Dekommunisierung wirft Fragen auf

Die versuchte Demontage sowjetischer Reliefs von der Fassade des “Ukrainischen Hauses” in Kiew zeigt, dass bezüglich der Dekommunisierung Klärungsbedarf besteht und dass die ukrainische Gesellschaft in dieser Frage gespalten ist. Das ist das Ergebnis einer Diskussion im Ukraine Crisis Media Center.

Kiew, 22. August 2016 – Bei der Umsetzung des Gesetzes über die Dekommunisierung kommt es zu rechtlichen Kollisionen mit Gesetzen zum Schutz des kulturellen Erbes. Dieser Meinung ist Hanna Bondar, Leiterin der Abteilung für Planung und Architektur des Kiewer Stadtrates. “Bei Baudenkmälern darf es sich nur um Restaurierungen handeln, die vom Kulturministerium genehmigt werden müssen, wenn das Objekt von nationaler Bedeutung ist. Aber das Ukrainische Haus haben wir nicht berücksichtigt, da es auf keiner Liste steht”, sagte sie im Ukraine Crisis Media Center.

Am 19. August hatte der Direktor des Ukrainischen Hauses, das heute eine staatliche Kultureinrichtung und ein Ort für verschiedene Veranstaltungen ist, die Entfernung von Reliefs vom Gebäude unter Berufung auf das Gesetz über die Dekommunisierung angeordnet. Die Reliefs zeigen Arbeiter in heroischer sowjetischer Manier. Sie wurden im Jahr 1980 am damaligen Lenin-Museum angebracht. Doch auf den vom ukrainischen Institut für Nationales Gedenken erstellten Listen der Einrichtungen, die der Dekommunisierung unterliegen, stehen die Reliefs nicht. Unter dem Druck von Fachleuten und der Medien wurde deren Demontage vorerst gestoppt.

Im Einklang mit welchem Gesetz?

Jurij Stelmaschtschuk, Direktor des Ukrainischen Hauses, ist aber überzeugt, dass die Reliefs Symbole einer totalitären Epoche sind und somit unter das ukrainische Gesetz über die Verurteilung totalitärer Regime – des Nationalsozialismus und Kommunismus – fallen. So würden die Reliefs kommunistische Elemente enthalten. “Da ist die Inschrift ‘Lernen, lernen, lernen’, die auf Wladimir Lenin zurückgeht. Und das Institut für Nationales Gedenken hat ausdrücklich die Namen der Henker genannt, die nicht nur Menschen in der Ukraine vernichtet haben”, sagte er.

Wladyslaw Osmak, Leiter des Zentrums für Stadtforschung an der Petro-Mohyla-Akademie in Kiew zitierte in diesem Zusammenhang den Leiter des Instituts für Nationales Gedenken, Wolodymyr Wjatrowytsch, mit folgenden Worten: “Diese Reliefs fallen nicht unter das Gesetz über die Dekommunisierung, weshalb sie nicht  auf die entsprechenden Listen gesetzt wurden.” Somit genüge rechtlich gesehen die Anordnung des Direktors des Ukrainischen Hauses allein nicht, um die Reliefs zu entfernen, so Osmak.

Das Gesetz über die Dekommunisierung gelte nicht für Kunstwerke, meint der Historiker Mychajlo Kalnyzky. “Es gibt Skulpturen, die wie am Laufband produziert wurden. Aber es gibt auch wirkliche Kunstwerke. In diesem Fall handelt es sich um ein Originalkunstwerk, um einen Teil einer architektonischen Arbeit”, betonte er.

Architektur der sowjetischen Moderne

“Dieses Gebäude nimmt eine wichtige Rolle bei der Bebauung des Platzes ein und ist ein Beispiel für die Architektur der sowjetischen Moderne, und das sind die Reliefs auch”, sagte Olena Mokrousowa vom Kiewer Zentrum zum Schutz von Baudenkmälern. Ihrer Meinung nach hätte mit den zuständigen örtlichen Behörden eine Vereinbarung über den Erhalt des Gebäudes getroffen werden müssen. Doch das sei bis heute nicht geschehen, kritisiert Mokrousowa.

Mychajlo Kopyl ist Experte des ukrainischen Kulturministeriums und ist für den Schutz von Immobilien zuständig, die zum kulturellen Erbe zählen. Er geht davon aus, dass das Ukrainische Haus durchaus unter das Gesetz zum Schutz des kulturellen Erbes fällt.

“Respektvoller Umgang mit der Vergangenheit”

Doch wo liegt die goldene Mitte zwischen dem Streben, alles zu beseitigen, was an die totalitäre Vergangenheit erinnert, ohne eine totale “Säuberung” von einer gewissen historischen Epoche vorzunehmen? “Man muss schauen, wie diese Werke entstanden sind und welchen künstlerischen Wert sie besitzen. Wir sind nicht gegen die Dekommunisierung, aber gegen eine barbarische”, sagte der Bildhauer Nasar Bilyk. Er ist Enkel von Walentyn Borysenko, des Autors der umstrittenen Reliefs am Ukrainischen Haus.

Die Künstlerin Lilija Borysenko, Tochter des Künstlers, sagte, ihr Vater sei in Wirklichkeit ein ukrainischer Patriot gewesen. Er habe einen Mittelweg gegen wollen, so weit das unter den damaligen politischen Bedingungen möglich gewesen sei. “Ich denke, dass man diese Reliefs wirklich entfernen sollte, aber mit Respekt, denn sie sind ein Denkmal jener Zeit, in der unsere Eltern geboren wurden, lebten und arbeiteten”, sagte sie.

Vorschlag für einen Kompromiss

Der Künstler Wolodymyr Melnytschenko, einer der Autoren der inzwischen vernichteten Reliefs des Kiewer Krematoriums, ist hingegen der Meinung, die Reliefs sollten am Ukrainischen Haus erhalten bleiben. Sie sollten aber mit einer erklärenden Tafel ergänzt werden. “Ein Beispiel für einen solchen Kompromiss ist das Gebäude der Mohyla-Akademie, wo es auch ein Mosaik mit dem Lenin-Zitat ‘Lernen, lernen, lernen’ gibt”, sagte Melnytschenko. Der Rektor der Hochschule hatte dort eine Tafel anbringen lassen. Auf ihr wird darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Mosaik um ein totalitäres Erbe handelt.

Ein weiterer Schritt hin zu einem Kompromiss zwischen den Anhängern verschiedener Ansätze der Dekommunisierung könnte ein Museum des Totalitarismus sein. Dorthin könnten alle abgebauten Denkmäler aus der Sowjetzeit gebracht werden. Über diese Idee wird in der Ukraine derzeit noch diskutiert.