Der ukrainische Militärangehörige Witalij Markiw wurde am 30. Juni 2017 bei der Einreise nach Italien wegen des Verdachts der Ermordung des italienischen Bildjournalisten Andrea Rocchelli verhaftet. Rocchelli war im Jahr 2014 im Donbass unweit der Stadt Slowjansk ums Leben gekommen. Die Staatsanwaltschaft im italienischen Pavia, wo Rocchellis Eltern leben, fordert, dass Markiw so lange hinter Gittern bleibt, bis der Gerichtsprozess abgeschossen ist. Für den 4. Juli war im Gericht eine Anhörung angesetzt, doch Markiw machte von seinem Recht Gebrauch und machte keine Aussagen. Medien berichten, Markiw habe sich so verhalten, weil er seinen Anwalt gewechselt habe. Dieser brauche noch Zeit, um die Akten zu studieren. Wann die nächste Gerichtsverhandlung stattfindet, ist noch unklar.
Einem Journalistenteam der Nachrichtensendung TSN des ukrainischen TV-Kanals “1plus1”, das als einziges direkt aus Italien über diesen Fall berichtet, liegt ein Dokument vor, in dem alle Vorwürfe der Staatsanwaltschaft aufgeführt sind. Der Sender hat sie in ukrainischer Übersetzung veröffentlicht.
Was wird Witalij Markiw zur Last gelegt?
In dem Papier heißt es, Markiw habe sich in einer Stellung am Hang des Berges Karatschun befunden, sich von vorsätzlich kriminellen Absichten leiten lassen und den Tod des italienischen Staatsbürgers Andrea Rocchelli provoziert. Er habe auf ihn und alle, die mit Rocchelli in jenem Gebiet an einer Fotoreportage gearbeitet hätten, zunächst aus einer Schusswaffe zahlreiche Schüsse abgegeben. Dann, als sich Rocchelli in einer kleinen Schlucht versteckt habe, um sein Leben zu retten, habe Markiw rund 20 Mal auf Rocchellis Versteck mit einem Granatwerfer gefeuert. Das Ziel habe er genau ins Visier genommen, um Rocchelli zu treffen. Rocchelli sei dabei zusammen mit seinem russischen Kollegen Andrej Mironow getötet worden. Der französische Journalist William Roguelon und zwei weitere Personen ukrainischer Nationalität, die man nicht ausfindig machen könne, seien verletzt worden.
Es wird auch darauf hingewiesen, dass “als erschwerende Umstände außerordentliche Grausamkeit, die Art der Waffe, die Anzahl der Schüsse und das Kaliber der Waffe” hinzukommen würden. Die Waffe sei dazu verwendet worden, einen hilflosen Menschen zu treffen, der versucht habe, sich in einer Schlucht zu verstecken.
Wer sagt als Zeuge gegen Markiw aus?
Der französische Bildjournalist William Roguelon, der mit eigenen Augen den Beschuss gesehen hatte und dabei verletzt worden war, ist der erste Zeuge. Er begleitete Andrea Rocchelli und den russischen Dissidenten Andrej Mironow, der dem Italiener bei seiner Arbeit behilflich war. Beide kamen ums Leben. In dem Papier tauchen ferner die drei italienischen Journalisten Marcello Fauci, Ilaria Morani und Francesca Volpi auf. Sie behaupten, sie hätten mit Markiw mehrmals über seine berufliche Tätigkeit gesprochen, da er einer der wenigen ukrainischen Militärs sei, die Italienisch sprechen würden.
Welche Aussagen liegen vor?
Von allen Zeugen war nur William Roguelon an dem Ort, an dem Andrea Rocchelli umkam. Ihm zufolge wurde gerade die Stelle beschossen, an der er zusammen mit Rocchelli und Mironow einen von prorussischen Separatisten zerstörten Zug auf der Strecke zwischen Slowjansk und Kramatorsk fotografieren wollte. Der Fotograf will gehört haben, dass die Schüsse von Anhöhen abgegeben wurden, die in der Hand des ukrainischen Militärs waren.
In der Mitteilung über die Festnahme von Markiw heißt es, einer der Gründe für die Inhaftierung seien Aussagen der italienischen Journalisten Ilaria Morani und Marcello Fauci. Unter anderem werden die folgenden Zitate aus einem Artikel von Ilaria Morani für die Zeitung Corriere della Sera angeführt:
“Uns gelang es, den Militärangehörigen telefonisch zu erreichen, der zu dem Zeitpunkt auf dem Turm die Verteidigung der Stadt koordinierte: ‘Das hier ist nicht lustig. Dieser Ort hat für uns strategische Bedeutung. Ein Annähern ist verboten’, sagte der Soldat.”
“Normalerweise schießen wir nicht auf Städte oder Zivilisten, aber wenn wir irgendeine Bewegung sehen, nehmen wir sofort schwere Artillerie. So ist es mit dem Auto der beiden Journalisten und des Dolmetschers geschehen. Wir können von hier aus ein Ziel in anderthalb Kilometern Entfernung treffen. Hier gibt es keine klare Trennlinie, hier ist nicht Libyen. In der ganzen Stadt gibt es Schusswechsel, wir warten nur auf den Befehl für die finale Offensive.”
TSN betont, dass die Gespräche der italienischen Journalisten mit dem ukrainischen Soldaten nicht durch Aufnahmen belegt sind. Die Anklage würde ausschließlich auf Erzählungen der Journalisten basieren.
Markiws Rechtsanwalt nimmt Stellung
Der ukrainische TV-Sender Hromadske hat sich mit Markiws neuem Anwalt Raffaelle Della Valle in Verbindung gesetzt. Am 5. Juli bestätigte der Anwalt in einem Telefongespräch, dass sich die Vorwürfe gegen Markiw auf die Aussagen der beiden italienischen Journalisten Marcello Fauci und Ilaria Morani stützen. “Das ist wirklich ziemlich wenig. All das passierte unter Bedingungen eines Krieges. Die Situation war ziemlich kompliziert. Es ist gar nicht so einfach, den Schuldigen auszumachen. Es ist nicht so, dass eine Person einfach geschossen und eine andere getötet hat. Man muss die ukrainische Seite anhören und verstehen, welche Stellungen das ukrainische Militär eingenommen und wer von wo aus geschossen hatte. Man muss gründliche Untersuchung durchführen. Wir wollen uns bald mit den ukrainischen Behörden in Verbindung setzen”, sagte der Anwalt. Ihm zufolge will Markiws Verteidigung insbesondere mit dem ukrainischen Verteidigungsministerium zusammenarbeiten.
Widersprüche in dem Dokument
Während der gesamten Anklage betonte der Staatsanwalt, Markiw sei nicht Angehöriger des ukrainischen Militärs. Doch dies entspricht nicht der Wahrheit. Der TV-Sender Hromadske setzte sich mit einem Angehörigen des Kultschyzkyj-Bataillons in Verbindung, der ungenannt bleiben möchte. Er sagte, dass Markiw zu jedem Zeitpunkt einfacher Angehöriger des Bataillon gewesen sei. Erst viel später sei er stellvertretender Kompaniechef geworden. Das Kultschyzkyj-Bataillon sei zu der Zeit weder ein Freiwilligen-Bataillon noch illegal gewesen. Es sei der Nationalgarde der Ukraine unterstellt gewesen. “Wir waren Teil der Nationalgarde, das einzige Bataillon, das innerhalb der Nationalgarde gebildet worden war. Wir waren Reservisten und hatten Ausweise, die mit dem 14. März 2014 datiert waren. Wir sind in die Zone der Anti-Terror-Operation geschickt worden”, sagte der Militärangehörige.
Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Journalisten seien zunächst mit Kleinwaffen und dann mit Granatwerfern beschossen worden. Jedoch beträgt die maximale Reichweite einer Kalaschnikow 625 Meter. Die Entfernung zwischen dem Berg Karatschun und der Stelle, an der Andrea Rocchelli starb, beträgt mehr als anderthalb Kilometer. Über Granatwerfer verfügte das Kultschyzkyj-Bataillon im Jahr 2014 nicht, was die Soldaten selbst und zahlreiche Freiwillige und Kriegsberichterstatter bestätigen. Die schwersten Waffen, die die Militärs hatten, waren Panzerabwehrgranaten. Auch sie haben eine viel geringere Reichweite.
Die Zeugen – die italienischen Journalisten, behaupten, Markiw sei Kommandeur der Einheit gewesen. Daher hätte er den Befehl zum Beschuss geben können. Doch nach Worten von Myroslaw Haj, eines Kameraden von Witalij Markiw, hatten sich am 24. Mai 2014 tagsüber beim Berg Karatschun nur etwa 30 Soldaten des Kultschyzkyj-Bataillon befunden. Dort sei überhaupt kein “Kommandeur” gewesen. Für jeden Arbeitsabschnitt seien fünf bis sechs Mann zuständig gewesen. Die Person, die sie koordiniert habe, habe gar keinen Schießbefehl geben dürfen. Und das habe auch niemand gemacht.