Eine Reform des Gesundheitswesens in der Ukraine ist schon seit einem Vierteljahrhundert nötig, seit das Land unabhängig ist. Nach dem Sieg der Revolution der Würde auf dem Kiewer Maidan ist die Gesundheitsreform erneut auf die Tagesordnung gekommen: Umfragen zufolge sind nur zehn Prozent der Bürger mit dem Gesundheitssystem in der Ukraine zufrieden. Seit dem Jahr 2014 gab es in der Ukraine schon drei verschiedene Gesundheitsminister. Uljana Suprun, seit Juli 2016 geschäftsführende Ministerin, hat nun eine umfassende Reform vorgeschlagen, die das Wesen des ukrainischen Gesundheitssystems verändern kann. Was ist der Kern dieser Reform? Was wird sich für die Bürger ändern? Wer widersetzt sich der Reform, und aus welchen Gründen? Das Ukraine Crisis Media Center erläutert die Hintergründe:
Warum eine Reform nötig ist: Der Mythos einer kostenlosen Gesundheitsversorgung
Die Ukraine hat von Sowjetunion das System einer kostenlosen Gesundheitsversorgung für jeden Bürger geerbt und es so auch in ihrer Verfassung festgeschrieben. Doch die Realität sieht völlig anders aus: Das Haushaltsdefizit, die Wirtschaftskrise und fehlende Reformen führten dazu, dass die Gesundheitsversorgung nur auf dem Papier kostenlos ist. Sie ist heute der Inbegriff für “Korruption“ und “Bestechung“. Laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahre 2016 geben die Haushalte in der Ukraine über 25 Prozent ihrer Einkommen für die Gesundheitsversorgung aus.
Das Gesundheitsministerium unter Leitung von Uljana Suprun nennt hingegen etwas positivere Zahlen. So habe eine ukrainische Familie im Jahre 2016 im Durchschnitt umgerechnet rund 150 Euro (ungefähr ein durchschnittliches Monatseinkommen) pro Jahr für die Gesundheitsversorgung ausgegeben. Nicht zu vergessen ist dabei, dass das ukrainische Gesundheitswesen zu 85 Prozent staatlich ist, also angeblich kostenlos. Private Arztpraxen haben nur einen Anteil von 15 Prozent am Gesundheitswesen des Landes.
Demnach geben die Ukrainer im staatlichen und privaten Sektor ziemlich viel Geld für ihre Gesundheitsversorgung aus, und das obwohl im Staatshaushalt 2017 Mittel für das Gesundheitswesen vorgesehen sind, die 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechen. Daher stellt sich die berechtigte Frage, ob in der Ukraine eine kostenlose Gesundheitsversorgung nur auf dem Papier besteht.
“Schattenwirtschaft“ im Gesundheitswesen
Die Antwort auf die Frage, warum die Ukrainer so viel Geld für die angeblich kostenlose Gesundheitsversorgung ausgeben, ist einfach: Das Gesundheitswesen ist Teil der “Schattenwirtschaft“. Die Patienten zahlen Rechnungen verdeckt, geben Ärzten Schmiergelder oder verteilen “Spenden“ an die Krankenhäuser. Außerdem zahlen sie für die “kostenlosen” Medikamente. Experten des Zentrums für Korruptionsbekämpfung haben wiederholt darauf hingewiesen, dass in den elektronischen Steuererklärungen gewisser Ärzte teure Autos, riesige Immobilien und Millionen von Hrywnja in bar auftauchen, was aber nicht immer mit ihren offiziellen Löhnen in Einklang zu bringen ist.
Die ukrainischen Patienten zahlen oft für alles, weil ihnen die Ärzte erzählen, im Staatshaushalt seien keine Mittel vorgesehen. Zum Beispiel werden Patienten gezwungen, Medikamente oder Impfstoffe aus eigener Tasche zu bezahlen, die bereits auf Staatskosten erworben wurden. Oder für ein und dieselbe Operation verlangen Krankenhäuser unterschiedliche Summen, ohne dass die Preisbildung nachvollziehbar ist. Nach Angaben der WHO geben die Ukrainer bis zu 3,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – also sogar mehr als der Staat – aus eigener Tasche für ihre medizinische Versorgung aus.
Gesundheitssystem ist ineffizient
Trotz des hohen Preises, den die Ukrainer für ihre medizinische Versorgung zahlen, sind deren Ergebnisse ziemlich unerfreulich. Die Qualität der medizinischen Leistungen in den staatlichen Einrichtungen ist sehr gering. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Ukrainer liegt bei 71,3 Jahren, was zehn Jahre weniger ist als in den Ländern Mittel- und Westeuropas. Laut WHO liegt die Ukraine weltweit auf Platz 2 bei der Sterblichkeit wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und europaweit auf Platz 2 bei Krebserkrankungen und Todesfällen wegen Tuberkulose. Die meisten Ärzte missachten die internationalen Richtlinien und Prinzipien der evidenzbasierten Medizin. Experten zufolge sind bis zu 50 Prozent der Medikamente in den ukrainischen Apotheken Fälschungen.
Fünf wichtigste Dinge, die sich nach einer Reform ändern könnten
Was schlägt das Gesundheitsministerium vor? Die Reform beinhaltet eine Vielzahl von Neuerungen sowohl bei der Finanzierung, als auch in den Bereichen Organisation und Logistik. Fünf wesentliche Neuerungen sind hervorzuheben:
Die wichtigste Veränderung ist ein neues System zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung. Der Staat wird Mittel für die konkreten Bedürfnisse der Patienten zuweisen, und nicht, um Krankenhäuser, deren Anzahl von Krankenbetten und Ärzte zu finanzieren. Dieses Prinzip beschreiben die Autoren der Reform so: “Das Geld folgt dem Patienten.“
Zweitens sieht die Reform die Einführung eines Hausarztes vor, den sich die Patienten selbst aussuchen können. Zurzeit dürfen sich die Ukrainer kostenlos nur dort ärztlich behandeln lassen, wo sie gemeldet sind. Die Hausärzte sollen sich ständig um die Gesundheit des Patienten kümmern. Bezahlt werden sollen sie entsprechend der Anzahl ihrer Patienten, die mit ihnen einen Vertrag geschlossen haben. Folglich soll es im Interesse des Arztes sein, dass seine Patienten zufrieden und gesund sind. Nur zufriedene Patienten werden ihre Verträge mit Hausärzten verlängern. 80 Prozent der Anfragen von Patienten entfallen schon heute auf Familienärzte.
Drittens wird der Staat die Obergrenzen der von ihm bezahlten Leistungen klar festlegen. Die Leistungen der Hausärzte, die Palliativmedizin (zur Linderung von Schmerzen bei Patienten) und die medizinische Nothilfe sollen zu 100 Prozent vom Staat übernommen werden. Außerdem wird der Staat Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Lungenerkrankungen sowie Diabetes zweiten Typs kostenlos mit Medikamenten versorgen. Außerdem sollen Entbindungen sowie die Behandlung seltener Krankheiten und onkologischer Erkrankungen aus dem Staatshaushalt finanziert werden.
Doch der Staat wird einen Teil der Kosten medizinischer Leistungen nicht tragen können. Daher soll ein System eingeführt werden, wo der Staat nur einen Teil der Kosten übernimmt. Den anderen Teil soll der Patient über eine Versicherung abrechnen können. Der Staat legt dabei die Tarife fest. Bestimmte Leistungen, wie beispielsweise ästhetische Operationen, wird der Patient ausschließlich selbst zahlen müssen.
Schlussendlich sollen die ukrainischen Ärzte dazu verpflichtet werden, die internationalen Richtlinien einzuhalten. Die Richtlinien des Gesundheitsministeriums sind oft veraltet. Zum Beispiel wird eine leichte Form der Pneumonie in der Ukraine zwölf Tage stationär behandelt. Dem Patienten werden dabei zahlreiche Arzneimittel im Wert von umgerechnet insgesamt 130 Euro verschrieben. Doch die WHO hat schon vor langer Zeit nach Tests empfohlen, diese Erkrankung mit Amoxicillin und Ibuprofen (bei Fieber) ambulant zu behandeln. Also, der Arzt besucht entweder den Patienten zuhause oder der Patient begibt sich selbst in die Praxis. Die notwendigen Medikamente kosten umgerechnet nur fünf bis sechs Euro.
Seit dem 28. April 2017 hat das Gesundheitsministerium den Ärzten erlaubt, sich in ihrer täglichen Arbeit von internationalen Richtlinien leiten zu lassen. Früher gab es in der Ukraine über 3000 eigene medizinische Richtlinien, die zu 85 Prozent veraltet waren. Die Anwendung von Grundsätzen evidenzorientierter Medizin und die Beseitigung der Korruption kann die medizinische Versorgung erheblich günstiger machen. Künftig sollen die Ärzte nicht mehr gezwungen sein, bestimmte Medikamente oder Untersuchungen zu verschreiben, nur weil an ihnen irgendwelche Behördenvertreter mitverdienen.
Warum gibt es Widerstand gegen die Reform?
Heftigen Widerstand gegen die Reform gibt es nicht nur von Ärzten, sondern auch von Abgeordneten. Die Gegner der Reform sind der Meinung, dass auf diese Weise die kostenlose Gesundheitsversorgung, die in der Verfassung verankert sei, gänzlich verschwinden würde.
Die Kritiker der Reform wollen den jetzigen Status quo beibehalten. Die Reform würde viele treffen. So werden Pharmaunternehmen keine zweifelhaften Medikamente mehr verkaufen können, die den einheitlichen Richtlinien nicht entsprechen. Auch Beschäftigte im Gesundheitswesen wollen sich nicht an neue Bedingungen anpassen und dabei ihre illegalen Einnahmen verlieren. Das gilt auch für die Krankenhäuser, wo Machenschaften mit der Abrechnung betrieben werden.
Wer wird siegen? Die Reformer im Gesundheitsministerium oder die, die es sich unter den bestehenden Verhältnissen gut gehen lassen? Das Schicksal der Reform wird schon in den kommenden Wochen geklärt. Noch im September soll das Parlament über Gesetze abstimmen, die das Fundament für das neue ukrainische Gesundheitssystem bereiten sollen.