Was man über die Bildungsreform in der Ukraine wissen muss

 

Das ukrainische Parlament hat am 5. September 2017 mit 255 Ja-Stimmen ein neues Bildungsgesetz angenommen. Nur 20 Abgeordnete stimmten dagegen. Trotz scharfer internationaler Kritik an Bestimmungen, die den Schulunterricht in den Sprachen der nationalen Minderheiten betreffen, unterzeichnete Präsident Petro Poroschenko das Gesetz, das am 28. September in Kraft getreten ist.

Warum ein neues Gesetz notwendig wurde. Das bisherige Bildungsgesetz war längst veraltet, so wie das noch aus der Sowjetzeit stammende Bildungssystem insgesamt. Denn es berücksichtigt nicht eine Reihe internationaler Verträge, die von der Ukraine ratifiziert wurden. Insbesondere geht es um das Recht der Eltern, über die Form der Ausbildung ihrer Kinder selbst zu entscheiden, aber auch um die räumliche Zugänglichkeit von Bildung und um die Rechte von Kindern mit Behinderungen. Ferner haben sich die Probleme bei der akademischen Integrität im Bildungswesen verstärkt: Plagiate nehmen zu und immer häufiger werden Ergebnisse pädagogischer und wissenschaftlicher Arbeiten  gefälscht. Auch grassiert weiterhin die Korruption. Zudem klagen die Schüler zunehmend über voreingenommene Bewertungen ihrer Arbeiten. Oft werden diese Beschwerden mit externen Daten untermauert – insbesondere durch einen Vergleich mit Schulnoten, die bei den “Externen unabhängigen Bewertungen” (Prüfungen zur Zulassung an ukrainische Universitäten) zu denselben Themen vergeben wurden.

Das neue Gesetz ist ein grundlegendes und macht den Weg für weitere Reformen im Bildungswesen frei. Die Autoren des neuen Gesetzes unterstreichen, dass sie sich an den Empfehlungen des Europäischen Parlaments und des EU-Rates orientiert haben.

Bildungsökonomie. Im Education Index des UNDP (United Nations Development Programme) aus dem Jahr 2014 belegte die Ukraine den 31. Platz von 187 Ländern. Das Rating spiegelt wider, inwieweit ein durchschnittliches Kind im betreffenden Land im Hinblick auf die nationalen Bildungsstandards eine vollständige Sekundarbildung erhält. Insgesamt bedeutet dies, dass in der Ukraine fast die gesamte Bevölkerung vom Bildungssystem abdeckt wird. Mit dem Stand von 2017 gibt es in der Ukraine 16.700 allgemeinbildende Schulen, von denen ein Fünftel privat sind. Es gibt 3,8 Millionen Schüler und 44.000 beschäftigte Lehrer. Es gibt aber eine Reihe von Problemen bei der Gewährleistung der Arbeit öffentlicher Schulen.

Eine große Anzahl von Schulen hat weniger als 100 Schüler, was sie aus wirtschaftlicher Sicht ineffektiv macht. Es wird viel Geld für die Instandhaltung der Infrastruktur ausgegeben, während die staatlichen Ausgaben pro Schüler und die Gehälter der Lehrer sehr gering sind. Pro Schüler gibt die Ukraine umgerechnet etwa 380 Dollar jährlich aus (die USA 11.000 Dollar; die Tschechische Republik 6500 Dollar; Ungarn 4900 Dollar; Russland 3800 Dollar). Daher haben inoffizielle “Spenden” der Eltern für “Renovierungen von Klassenräumen”, die “Ernährung der Kinder” und andere Leistungen einen erheblichen Anteil an der Finanzierung der Sekundarschulbildung.

Dem neuen Gesetz zufolge sollen die Ausgaben für die Bildung sieben Prozent des offiziellen Bruttoinlandsproduktes (BIP) in der Ukraine betragen. Das ist mehr als in 95 Prozent der Länder weltweit. Allerdings sollte man sich der Schattenwirtschaft bewusst sein, die nach verschiedenen Schätzungen in der Ukraine bis zu 50 Prozent erreicht. Das heißt, dass das reale BIP der Ukraine größer ist als das offiziell berechnete. Gemessen am realen BIP fällt somit der genannte Prozentsatz, der für die Ausgaben im Bildungswesen gilt, eigentlich geringer aus.

Zwölf Schuljahre. Nach dem neuen Gesetz dauert die Grundschulbildung vier Jahre. Danach kommen fünf Jahre Gymnasium, die mit einer externen Abschlussprüfung abgeschlossen werden. Nach bestandener Prüfung können die Schüler an ein Lyzeum oder eine Berufsbildungseinrichtung gehen. Diese bereits spezialisierende Ausbildung ist auf drei Jahre angelegt. Danach können die Schüler ein Hochschulstudium aufnehmen beziehungsweise ihren Beruf ausüben. Die Schulbildung wird nun nicht mehr elf, sondern zwölf Jahre dauern. Und für einen Bachelor-Abschluss wird man statt vier nur noch drei Jahre benötigen.

Die spezialisierende Ausbildung sieht vor, dass Schüler Fächer wählen können, die sie interessieren. Sie müssen nicht mehr wie bisher ein allgemeines Bildungsprogramm absolvieren. Man will auch von dem Auswendiglernen von Inhalten wegkommen. Dafür sollen die Schüler universelle Fähigkeiten erwerben: Kommunikation in Fremdsprachen, mathematische, allgemeine kulturelle und ökologische Kompetenzen, Unternehmertum, Innovation und das Vermögen, lebenslang zu lernen.

Inklusion. Das neue Gesetz sieht vor, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen in den Unterricht an den Schulen des Landes integriert werden. So muss der Staat für entsprechende Lehrer für solche Kinder sorgen, aber auch dafür, dass sich die Kinder von der Schülergemeinschaft nicht ausgeschlossen fühlen. Früher wurden solche Kinder meist zu Hause unterrichtet und waren von ihren Altersgenossen isoliert. Künftig sollen bei der Erstellung eines individuellen Lehrplans alle psychologischen und pädagogischen Bedürfnisse der betroffenen Kinder berücksichtigt werden.

Sprachen der nationalen Minderheiten: Kritik von Rumänien und Ungarn. Nach dem neuen Gesetz können während der Vorschul- und Grundschulbildung Kinder ethnischer Minderheiten in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Die Sekundarbildung soll aber in der Staatssprache Ukrainisch erfolgen. Die entsprechende Muttersprache soll gesondert unterrichtet werden. Dieser Punkt der Reform sorgte international für Kritik. So kündigte vor allem Ungarn an, die internationale Unterstützung für die Ukraine einzustellen, bis für die nationalen Minderheiten der Unterricht in der Muttersprache wiederhergestellt ist. Ähnliche Positionen nahmen Griechenland und Bulgarien ein. Russland bezeichnete diesen Punkt des Gesetzes als “Ethnozid” an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine.

In diesem Zusammenhang muss aber berücksichtigt werden, dass Schüler, die in der Ukraine ausschließlich in der Sprache einer nationalen Minderheit unterrichtet werden, bei den “Externen unabhängigen Bewertungen”, die in ukrainischer Sprache abzulegen sind, sehr schlechte Ergebnisse vorweisen. Zum Beispiel haben im Bezirk Herzajiwskyj in der Region Tscherniwzi, wo etwa 90 Prozent der Bevölkerung ethnische Rumänen sind, im Jahr 2016 fast 50 Prozent der Schulabsolventen die Prüfungen zur Zulassung an ukrainische Universitäten nicht bestanden. Und im Jahr 2017 waren es fast 60 Prozent. In einigen Schulen der Region Transkarpatien, wo auf Ungarisch unterrichtet wird, haben 2016 und 2017 über 90 Prozent der Absolventen die Prüfungen nicht geschafft. Landesweit liegt der Durchschnitt hingegen bei etwa 20 Prozent. Eine solche Situation macht es jenen Schulabsolventen schwer, in der Ukraine ein Hochschulstudium aufzunehmen. Damit ist ihnen auch der Weg in den öffentlichen Dienst des Landes versperrt.

Neues für die Lehrer. Das Gehalt eines ukrainischen Lehrers wird fast um das Dreifache erhöht. Es beginnt bei umgerechnet 360 Dollar, beziehungsweise drei Mindestlöhnen. Allerdings sind in dem Gehalt organisatorische und andere Aktivitäten der Lehrer inbegriffen, die früher zusätzlich bezahlt wurden. Für diese Reform werden mehr als 120 Milliarden Hrywnja benötigt. Die Lohnerhöhung soll sich über zehn Jahre erstrecken.

Die Lehrer erhalten größere Freiheiten: Statt streng die Standard-Lehrpläne umzusetzen, erlaubt das neue Gesetz den Lehrern, auch eigene Lehrpläne zu erstellen – jedoch unter Einhaltung bestimmter Standards des Bildungsministeriums. Wenn ein Lehrer gewillt ist, im Unterricht Innovationen umzusetzen, dann ist der Staat bereit, nach einer entsprechenden Zertifizierung zusätzlich 20 Prozent des Gehalts zu zahlen.

Optimierung des Schulnetzes. Laut Bildungsministerin Lilia Hrynewytsch geht in der Ukraine ein Drittel der Kinder in kleine ländliche Schulen. Sie haben einen Anteil von zwei Drittel an der Gesamtzahl der Schulen. Dieses Modell ist was die Finanzierung und Bildungsqualität angeht nicht effektiv. Deshalb führt nun das Ministerium ein System ein, wo Kinder auf dem Lande ihre Grundschulbildung an der nächstgelegenen Schule erhalten. Die älteren Schüler werden zu weiter entfernten Schulen gebracht, wo es dann wesentlich bessere Bedingungen geben wird. So sollen die Möglichkeiten der Schüler auf dem Lande und in den Städten, eine gute Bildung zu erhalten, angeglichen werden.

Schulautonomie. Bildungseinrichtungen dürfen künftig eigene Lehrpläne unter Einhaltung der Standards des Bildungsministeriums entwickeln. Darüber hinaus dürfen die Schulen die Unterrichtszeiten und die Struktur des Schuljahres selbst bestimmen. Die öffentlichen Gelder werden nicht von Exekutivorganen im Bildungsbereich verteilt, sondern gehen direkt an die Schulen, deren Mitarbeiter gemeinsam über die Verwendung entscheiden sollen.

Kompetenzen des Personals und Bekämpfung von Korruption. Wie bisher müssen die Lehrkräfte ihre Fachkompetenzen jährlich nachweisen und verbessern. Doch künftig steht es jedem Lehrer frei, wie er dies macht: Trainings, Kurse, Workshops und Online-Kurse – alle vom Staat bezahlt. Gelöst werden zudem bisherige Kompetenzprobleme bei Führungskräften. Künftig darf ein Direktor eine Schule nicht länger als zwölf Jahre oder zwei Kadenzen leiten. Ein neuer Schuldirektor wird somit nicht erst nach dem Tod des vorherigen ernannt. Ferner soll künftig ein neuer Schuldirektor nach den Bedürfnissen der Schule ausgesucht werden.

Eine wichtige Neuerung ist, dass Bildungseinrichtungen verpflichtet sind, über ihre Finanzen Rechenschaft abzulegen. Dies ist eine wichtige Komponente bei der Bekämpfung von Korruption. Jede Schule muss künftig offenlegen, welche Gelder sie erhalten hat, wie und für welche Zwecke sie ausgegeben wurden.