Am 28. Januar hat in Kiew ein aufsehenerregender Marsch stattgefunden: Junge Leute marschierten in Tarnuniformen und Masken durch das Zentrum der Hauptstadt. Am Ende des Marsches leisteten etwa 600 Männer ihren Eid auf die “Nationale Bürgerwehr”, einer von Veteranen gegründeten gesellschaftlichen Organisation. Diese Szenerie erinnerte viele an Märsche paramilitärischer Formationen und gab ein ideales Bild für die russische Propaganda ab, aber auch für jene westlichen Medien, die in der Ukraine die Gefahr einer nationalistischen Revanche sehen. Aber gleitet die Ukraine wirklich in ein paramilitärisches Regime ab? Droht die Machtergreifung durch ultrarechte Gruppierungen? Oder handelt es sich nur um einen kurzfristigen Einsatz von ultrarechten Kräften durch das Innenministerium? Was hat die “Bürgerwehr” auf den Straßen ukrainischer Städte zu bedeuten? Das Ukraine Crisis Media Center hat Antworten auf die wichtigsten Fragen zusammengetragen:
Die “Nationale Bürgerwehr” und das Bataillon “Asow”. Die “Nationale Bürgerwehr” ist ein Projekt der sogenannten “Asow-Kreise”. Sie sind mit dem Regiment der Nationalgarde “Asow” und seinen Veteranen verbunden. Das Regiment “Asow” wurde auf Basis des gleichnamigen Freiwilligen-Bataillons gegründet, das ab 2014 an den Kämpfen in der Ostukraine beteiligt war. 2017 gründeten ehemalige Soldaten des Regiments die politische Partei “Nationales Korps” unter der Leitung des Parlamentsabgeordneten Andrij Bilezkyj. Sie war es, die am 28. Januar in Kiew die Vereidigung der 600 Männer organisiert hat.
Die gesellschaftliche Organisation “Nationale Bürgerwehr” wurde von den drei Asow-Veteranen Ihor Kaschka, Artem Klimin und Maksym Klymka gegründet. Sie alle sind in Kiew als wohnhaft gemeldet. Als Leiter der Organisation ist das ehemalige Asow-Mitglied Ihor Bober eingetragen. Ihor Mychajlenko, ehemaliger Kommandeur des Regiments “Asow”, bezeichnet sich als Kommandeur der “Nationalen Bürgerwehr”.
Ultrarechte, Nationalisten oder Faschisten? Schon seit vier Jahren wird Mitgliedern der Partei “Nationales Korps” und den Soldaten des Regiments “Asow” vorgeworfen, Anhänger einer neonazistischen Ideologie zu sein und runische Symbole zu verwenden, die denen der Nazis ähneln.
Das Regiment “Asow” wurde seinerzeit vor allem von Mitgliedern der rechtsradikalen Organisation “Patriot der Ukraine” und von Fußball-Ultras gegründet, die oft keinen Hehl aus ihren ultrarechten Ansichten machen. Ihor Mychajlenko zufolge vertreten viele Mitglieder der “Nationalen Bürgerwehr” die Ideologie des “modernen Nationalismus”, auf der auch die Partei “Nationales Korps” gründet.
Eine gesellschaftliche Organisation oder eine Truppe zum Schutz der öffentlichen Ordnung? Der Leiter der “Nationalen Bürgerwehr”, Ihor Bober, erklärte, in Kiew habe die Bürgerwehr de jure derzeit den Status einer gesellschaftlichen Organisation. Aber in anderen Städten, zum Beispiel in Luzk und Tscherkassy, gelte sie als eine Bürger-Formation zum Schutz der öffentlichen Ordnung. “In Kiew arbeiten wir immer noch an der Umregistrierung von Dokumenten”, sagte er.
Patrouillen in Straßen der Hauptstadt? Oleh Kujawskyj ist bei der Stadt Kiew für die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden zuständig. Er sagte, noch seien bei ihm keine entsprechenden Dokumente der “Nationalen Bürgerwehr” eingegangen. Der Leiter der Straßenpolizei in Kiew, Jurij Sosulja, teilte mit, dass die Polizei in der Hauptstadt derzeit mit keinen anderen Formation durch die Straßen patrouillieren würde. “Meine Meinung ist: Wer Recht und Ordnung schützen will, gehört in die Polizei”, betonte er und fügte hinzu: “Wir haben uns mit ihnen getroffen und gesehen, dass es ihnen eher darum geht, Informationen über sich selbst zu verbreiten, anstatt wirklich mit der Polizei durch die Straßen zu patrouillieren.”
Von wem wird die “Nationale Bürgerwehr” finanziert? Diese Frage beschäftigt viele Beobachter nicht ohne Grund. Der ukrainische Sender “Hromadske”schätzt, dass allein für den Kauf von Jacken für 1000 Mann im ganzen Lande mehr als 1,7 Millionen Hrywnja (rund 50.000 Euro) nötig gewesen seien. Wenn noch die Ausgaben für die Fleecemützen hinzugerechnet werden, kommt man auf eine noch etwas höhere Summe. Die “Nationale Bürgerwehr” behauptet, sie finanziere sich durch Mitgliedsbeiträge. Kommandeur Ihor Mychajlenko sagte auf Fragen von Journalisten: “Es gibt keine festen Beiträge. Jeder gibt soviel er kann.” Doch zuvor hatte der Sprecher der Partei “Nationales Korps”, Roman Tschernyschow, gegenüber “Hromadske” erklärt, die “Nationale Bürgerwehr” werde von ukrainischen Wirtschaftskreisen finanziert. Konkrete Firmen oder Unternehmer nannte er nicht. Mychajlenko sagte später, Tschernyschows Aussagen seien unwahr.
Ist die “Nationale Bürgerwehr” eine “Armee” des Innenministers? Vielen Gerüchten zufolge ist die “Nationale Bürgerwehr” angeblich eine “private Armee” des ukrainischen Innenministers Arsen Awakow. Er selbst und auch Vertreter der “Nationalen Bürgerwehr” weisen das allerdings zurück. “Das alleinige Gewaltmonopol haben die staatliche Nationalgarde, die Nationalpolizei und die ukrainischen Streitkräfte. Alle anderen paramilitärischen Formationen, die versuchen, sich auf den Straßen der Städte in Position zu bringen, sind nicht legal”, sagte Awakow und fügte hinzu: “Ich, als Minister, werde keine parallelen Strukturen dulden, die auf den Straßen als alternative militaristische Formationen auftreten wollen.” Ihor Mychajlenko sagte in diesem Zusammenhang, weder Awakow noch Poroschenko, noch irgendeine andere Machtstruktur, seien in den Augen der Bürgerwehren eine Autorität. “Diese Staatsmacht hat ihre Chance vertan”, so der Kommandeur der “Nationalen Bürgerwehr”.
Verstößt die “Nationale Bürgerwehr” gegen Gesetze? Die Führung der “Nationalen Bürgerwehr” beruft sich auf das Gesetz “Über die Beteiligung der Bürger am Schutz der öffentlichen Ordnung und der Staatsgrenze”. Es bietet die Möglichkeit, Vertreter von Bürger-Formationen einzubinden, insbesondere, um die Straßen zu patrouillieren – aber nur zusammen mit Angehörigen der Nationalpolizei. Vertreter der “Nationalen Bürgerwehr” interpretieren die Bestimmungen des Gesetzes ziemlich frei. So machte Ihor Mychajlenko am 31. Januar auf einer Pressekonferenz in Kiew kein Geheimnis daraus, dass unter den Mitgliedern der Organisation Minderjährige sind. “Das sind 17-jährige Jungen, die schon die Schule abgeschlossen haben. Darin sehe ich nichts Schlimmes”, betonte er. Doch das Gesetz besagt, dass nur Erwachsene Bürger-Formationen angehören dürfen. Außerdem verbietet das Gesetz Mitgliedern von Bürger-Formationen, kalte oder Feuerwaffen zu tragen. Doch in ihrem Beitrittsformular fragt die “Nationale Bürgerwehr” nach dem Besitz registrierter Waffen.
Nur eine erfolgreiche PR-Kampagne einer politischen Partei? Der Sprecher des ukrainischen Innenministeriums, Artem Schewtschenko, sieht in der “Nationalen Bürgerwehr” lediglich eine “ziemlich erfolgreiche” PR-Kampagne. Er sagte, er sei sich nicht sicher, ob die “Nationale Bürgerwehr” als eine Formation registriert sei, die im Einklang mit dem Gesetz die öffentliche Ordnung sichern könne. “Es ist die Aufgabe von Journalisten herauszufinden, ob sie sind, was sie vorgeben zu sein, oder ob sie einfach nur so tun, nur schöne Videos drehen und in den landesweiten TV-Kanäle von sich reden lassen, ohne für politische Werbung zu zahlen”, so Schewtschenko.
Vox populi: Wie reagiert die ukrainische Gesellschaft? Die am weitesten verbreitete Reaktion der Bürger ist Besorgnis und Misstrauen. Wie die sozialen Netzwerke zeigen, reagiert ein großer Teil der ukrainischen Gesellschaft auf die “Nationale Bürgerwehr” aber auch mit Ironie. Die “Bedrohung” sei völlig übertrieben, meinen viele User.
Der Menschenrechtsaktivist Wjatscheslaw Lichatschow glaubt aber: “Die größte Sorge, was die Aktivitäten der ‘Nationalen Bürgerwehr’ angeht, bereitet die Ideologie der politischen Kraft, mit der diese gesellschaftliche Organisation in Verbindung gebracht wird. Denn sie hat einen totalitären und anti-demokratischen Charakter.”
Maksym Butkewytsch, ebenfalls Menschenrechtler, erinnert daran, dass einst auch die “Sozial-Nationale Partei der Ukraine” auf die Fähigkeit “Ordnung zu schaffen” und auf “Krypto-Militarismus” gesetzt habe, woran sie aber schnell gescheitert sei. Dann habe man geschickt das Rebranding als Partei “Swoboda” gemacht. “Es stellte sich heraus, dass nur wenigen die Ordnung der selbsternannten rassisch-bewussten ‘Patrioten’ gefällt”, so Butkewytsch. Doch damals sei die Partei nicht mit einer Einheit der Nationalgarde verbunden gewesen und nicht von der Führung des Innenministeriums gedeckt worden. Auch sei sie keine vollwertige paramilitärische Organisation gewesen, so der Experte.
Die russische Journalistin Jekaterina Makarewitsch, die Russland verlassen hat, beobachtet die ukrainische Gesellschaft seit der Revolution der Würde im Jahr 2014. Auf Facebook schreibt sie: “Zum ersten Mal in den zwei Jahren, in denen ich in der Ukraine lebe, ist mir unheimlich geworden… Zuerst erinnert dies an den Nationalsozialismus in seiner ganzen disziplinierten ‘Pracht’. Die Ukraine war immer bekannt für ihre Vielfalt. Gerade darin liegt der Charme der Atmosphäre in der Ukraine. Zweitens ist es unmöglich, eine Ordnung auf unfreiwilliger Basis zu schaffen, ohne die Freiheit zu beseitigen.”
Jaroslaw Jurtschyschyn von Transparency International betont auf Facebook: “Nationale Bürgerwehr, kommunale Wachen und anderen paramilitärischen Formationen. Es gibt nie ein Vakuum von Funktionen. Wenn der Staat nicht in der Lage ist, das Gewaltmonopol zum Schutz der Bürger zu gewährleisten, dann wird dies jemand anderes tun. Das ist weder negativ noch positiv – es ist eine Realität (…) Die Ukrainer sind seit jeher dafür bekannt, parallele Machtstrukturen zu bilden.” In Zeiten, wo die Ukrainer sich unter äußeren Machthabern befunden hätten, hätten diese parallelen Strukturen sie gerettet. Doch jetzt, wo die Ukrainer eigenen Staat hätten, könnte dies anders ausgehen, meint der Experte.