Die Ukraine brauchte fast fünf Jahre, um zu einer Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch zu kommen. Der Prozess dauerte anderthalb Jahre. Am 5. Dezember 2018 zogen sich die Richter zu Beratungen zurück. Wann sie ihr Urteil verkünden, ist aber unklar. Der Sender “Hromadske” hat das Wichtigste über den Prozess zusammengetragen. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Was wird Janukowytsch vorgeworfen?
Ihm wird Hochverrat, Beihilfe zur Durchführung eines Angriffskrieges und vorsätzliche Handlungen zur Änderung der Grenzen des Territoriums und der Staatsgrenze der Ukraine vorgeworfen. Die Staatsanwälte fordern für Janukowytsch die Höchststrafe von 15 Jahren Haft.
Die ersten Verfahren gegen Janukowitsch wurden 2014 eingeleitet, wenige Tage nach seiner Flucht in der Nacht des 22. Februar nach Russland. Die neue Leitung der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft beschuldigt ihn, vom 18. bis 21. Februar Massenmorde gegen die Demonstranten auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, organisiert zu haben. Dieses Verfahren liegt dem Gericht noch nicht vor.
Im Jahr 2016 wurde der ehemalige ukrainische Präsident des Hochverrats angeklagt. Grund dafür war ein Brief von Janukowytsch an den russischen Präsidenten im Jahr 2014, in dem er Wladimir Putin aufforderte, Truppen in die Ukraine zu entsenden.
Dieser Brief diente Putin im März 2014 als Argument für eine “legale” Annexion der Krim. Am 1. März erhielt der russische Präsident vom Föderationsrat, dem Oberhaus des russischen Parlaments, eine Genehmigung für die Entsendung russischer Truppen in ein anderes Land. Am 3. März 2014 wurde dieser Brief vom damaligen Ständigen Vertreter der Russischen Föderation bei den Vereinten Nationen, Vitalij Tschurkin, verlesen. Darin hieß es, in der Ukraine habe es eine illegale Machtergreifung gegeben und das Leben der Menschen sei in Gefahr. Deshalb habe Janukowytsch Putin gebeten, “die Streitkräfte der Russischen Föderation einzusetzen, um die Legitimität, den Frieden, das Recht und die Ordnung, die Stabilität und den Schutz der Bevölkerung der Ukraine wiederherzustellen”.
Im Jahr 2015 gab Putin erstmals öffentlich zu, dass sich russisches Militär außerhalb seiner Stützpunkte auf der Krim befand. Er sagte, dass Janukowytsch auch auf die Ernennung des “Republik-Chefs” Sergej Aksjonow gebilligt habe. Daher sei, so der russische Präsident, die Entscheidung für ein “Referendum” über den Status der Krim legal gewesen.
Welche Beweise hat die Generalstaatsanwaltschaft?
Hauptbeweis ist jener Brief von Janukowytsch an Putin. Die Generalstaatsanwaltschaft glaubt, der Ex-Präsident habe damit grünes Licht für eine Annexion der Krim gegeben. Im Jahr 2017 erklärte allerdings die russische Generalstaatsanwaltschaft offiziell gegenüber Kiew, dass weder das russische Präsidialamt noch der Föderationsrat irgendwelche Bitten von Janukowytsch bezüglich einer Entsendung von Truppen erhalten hätten. Später hieß es aus dem Kreml, gar keinen “Brief von Janukowytsch” gesehen zu haben. Weitere Fragen wurden abgelehnt.
Janukowytsch selbst bezeichnete seine Bitte an Putin zuerst als “Erklärung”. Am 2. März 2018 hielten er und sein Anwalt eine Pressekonferenz in Moskau ab, auf der sie einen anderen Brief an den russischen Präsidenten zeigten und behaupteten, jene “Erklärung” über eine Entsendung von Truppen sei nur ein Anhang zu eben diesem anderen Brief gewesen. In diesem anderen Brief bot Janukowytsch Putin an, bilaterale Konsultationen abzuhalten und “die Möglichkeit zu besprechen, separate Einheiten der Streitkräfte Russlands einzusetzen, um Frieden und Ordnung auf dem Territorium der Ukraine wiederherzustellen”.
Wie verlief der Prozess?
Der Prozess gegen den Ex-Präsidenten begann am 4. Mai 2017. Zuvor hatte im April das ukrainische Parlament Änderungen zum Strafgesetzbuch verabschiedet, die es erlauben, einen Angeklagten in Abwesenheit zu verurteilen. Janukowytsch befindet sich seit 2014 in Russland.
Anfangs wurden die Gerichtsverhandlungen ständig verschoben, meist wegen der Abwesenheit von Janukowytschs Rechtsanwälten oder Zeugen. Insgesamt fanden in anderthalb Jahren 89 Sitzungen statt. Im Juni 2017 erklärte Janukowytsch, er wolle nicht an dem Prozess teilnehmen und er ziehe seine Anwälte zurück. Daraufhin ernannte das Gericht für den Ex-Präsidenten einen staatlichen Verteidiger. Aber nach einem halben Jahr kehrte Janukowytschs Anwalt, Vitalij Serdjuk, der als einziger von Anfang an an dem Prozess teilnahm, wieder zurück.
Insgesamt hatte Janukowytsch sechs private Anwälte. Der Prozess selbst erinnerte weitgehend mehr an eine politische Show – vor allem die Debatten vor Gericht im August dieses Jahres. Zwischen Janukowytschs Verteidigung und der Polizei kam es sogar zu einer Schlägerei im Gerichtsgebäude. Und der Ankläger wurde oft durch Zwischenrufe der Anwälte unterbrochen.
Wer hat gegen Janukowytsch ausgesagt?
Beim Prozess wurden zahlreiche Zeugen befragt, darunter Präsident Petro Poroschenko, der ehemalige Premierminister Arsenij Jazenjuk, Innenminister Arsen Awakow sowie der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Oleksandr Turtschynow, der 2014 Übergangspräsident war. Ihre Aussagen betrafen Janukowytschs Flucht im Februar 2014. Seine Verteidigung behauptet, Janukowytsch sei gar nicht geflohen, sondern habe das Land wegen Lebensgefahr nur “vorübergehend” verlassen.
Gegen Janukowytsch haben auch russische Parlamentsabgeordneten ausgesagt, die nach Kiew übergesiedelt sind: Ilja Ponomarjow und Denis Woronenkow. Ponomarjow sagte, Putin habe direkt dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Annexion der Krim befohlen. Woronenkow wurde am 23. März 2017 im Zentrum von Kiew getötet. Was er der Staatsanwaltschaft vorher berichtet hatte, ist unbekannt. Mit seinem Tod haben seine Aussagen ihre Geltung verloren.
Was sagt Janukowytsch selbst?
Er bestreitet den Vorwurf des Hochverrats. Gemäß der ukrainischen Gesetzgebung hat der flüchtige Ex-Präsident aber die Möglichkeit, zu einem Schlusswort vor Gericht zu erscheinen, was Janukowytsch übrigens selbst wiederholt gefordert hatte. Dafür musste eine Videoschalte organisiert werden.
Janukowytschs Schlusswort war für den 19. November 2018 angesetzt. Doch einen Tag davor erlitt er angeblich eine Rückenverletzung und konnte an der Videoschalte nicht teilnehmen. Daraufhin wurde sie auf den 5. Dezember verschoben. Einen Tag vor der Sitzung hieß es von den Anwälten, Janukowytsch müsse in einer israelischen Klinik behandelt werden. Am 5. Dezember sagten die Anwälte vor Gericht dasselbe: Janukowytsch sei in einem Krankenhaus, wo keine Videoschalte möglich sei. Die Verteidiger legten dem Gericht ein Attest des Ex-Präsidenten vor, was die Richter nicht überzeugte. Daher zogen sie sich am 5. Dezember zu Beratungen zurück, um ein Urteil zu fällen.
Wie könnte es weitergehen?
Berufung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.Janukowytschs Verteidigung erklärte, sollte es zu einer Verurteilung kommen, dann werde sie beim Europäischen Gerichtshof dagegen vorgehen. Außerdem behaupteten die Anwälte am 5. Dezember, Janukowytsch sei keine angemessene Verteidigung garantiert worden. Vitalij Titytsch, Anwalt der Familien der “Himmlischen Hundertschaft” (Aktivisten, die auf dem Maidan getötet wurden) glaubt, eine solche Taktik der Verteidigung könnte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Erfolg haben. Titytsch zufolge kann Janukowytschs Verteidigung beim Gerichtshof Berufung einlegen, wonach der ehemalige Präsident noch zu einem “politisch Verfolgten” erklärt werden könnte. Das könnte wiederum andere Verfahren gegen ihn betreffen, insbesondere die bezüglich der Ermordungen auf dem Maidan.
Die Frage einer selektiven Rechtsprechung.Serhij Horbatjuk von der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft meint, alle in Abwesenheit gegen ehemalige Beamte gefällten Gerichtsurteile könnten vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte annulliert werden. Er sagte, das Gesetz deute auf eine selektive Rechtsprechung hin. Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko habe selbst offen zugegeben, das Gesetz sei für Janukowytsch und seine geflohenen Mitarbeiter verabschiedet worden.
Die Frage des Strafvollzugs.Außerdem ist es höchst unwahrscheinlich, dass Janukowytsch im Falle einer Verurteilung tatsächlich seine Strafe absitzen wird. Russland ist dem Europäischen Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen nicht beigetreten. Daher kann es den geflohenen Ex-Präsidenten an die Ukraine auch nicht ausliefern. Außerdem kann sich Janukowytsch ruhig in der Welt bewegen, denn nach ihm wird nicht mehr international gefahndet. Seit Juli 2015 wird er nicht mehr über Interpol gesucht. Wann das Gericht ein Urteil gegen ihn fällt, ist unbekannt. Die Sache umfasst rund 100 Bände. Vielleicht wird der Prozess noch mehrere Wochen oder sogar Monate dauern.