Zwischen dem 18. und 20. Februar erinnert die Ukraine an die tragischsten Tage auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Vor fünf Jahren wurden bei den Bürgerprotesten, auch “Euromaidan” und “Revolution der Würde” genannt, über 100 Menschen getötet. Die pro-europäische Bewegung richtete sich gegen die Staatsführung unter dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch, der die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommen mit der EU abgelehnt hatte. Die Todesopfer werden als “Himmlische Hundertschaft” bezeichnet und Millionen Ukrainer gedenken ihrer an diesen Tagen.
Am 19. Februar sprach aus diesem Anlass der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, vor dem ukrainischen Parlament. Seine vom Fernsehen übertragene Rede bewegte Millionen Menschen und die Abgeordneten unterbrachen die Rede mit langanhaltendem Applaus. Am 20. Februar veröffentlichte der polnische Europaabgeordnete Michal Boni einen Brief an die Helden der Himmlischen Hundertschaft mit dem Titel: “Lieber unbekannter Freund aus der Ukraine!” Er ist eine wahre Geste der Solidarität mit den Ukrainern. Auszüge vom Ukraine Crisis Media Center:
Donald Tusk: “Ohne die Ukraine kann es kein Europa geben”
Liebe ukrainische Freunde!
Am fünften Jahrestag der dramatischen Ereignisse auf Maidan, am Jahrestag der Revolution der Würde, bin ich zu Ihnen gekommen, um mich bei allen Ukrainern und ihren hier versammelten Abgeordneten zu bedanken, unabhängig von Partei-Differenzen, Interessenunterschieden und ideologischen Auseinandersetzungen. (…)
Zunächst möchte ich mich bei Ihnen für die Standhaftigkeit bedanken. Sie haben im schwersten Moment Ihrer Geschichte durchgehalten. Sie haben Stand gehalten und sind trotz der Geopolitik stolz und unbezwingbar, trotz der bösen Absichten eines aggressiven Nachbarn und trotz der Gleichgültigkeit und Heuchelei vieler einflussreicher Akteure der Weltpolitik. Sie haben standgehalten, obwohl Ihre Partner Ihnen nicht immer so helfen, wie es sein sollte: Ich weiß das gut. Ich weiß das wohl wie kein anderer. (…)
Viele von uns haben Ihren Schrei gehört, haben diesen Aufschrei gehört und verstanden. Auch wenn es bei manch einem viel Zeit brauchte. Deshalb kann ich heute hier im Obersten Rat der Ukraine nicht nur in meinem Namen, sondern auch im Namen der gesamten Europäischen Union vor Ihnen sagen: Wir sind mit Ihnen! Und wir möchten Ihnen auch weiterhin helfen.
An dieser Stelle möchte ich die ersten Worte des Assoziierungsabkommens bekräftigen: “Die Europäische Union erkennt die europäischen Bestrebungen der Ukraine an und begrüßt ihre Entscheidung für Europa.” Ich möchte noch einmal betonen, dass Europa die Annexion der Krim durch Russland niemals anerkennen wird, und auch die Sanktionen nicht abschaffen wird, solange Russland seine Verpflichtungen nicht erfüllt. Die Europäische Union wird auch keine Gewaltakte im Asowschen Meer akzeptieren. Ich werde alles tun, damit die EU in dieser Frage geschlossen bleibt.
Zweitens möchte ich Ihnen für Ihren Mut danken. Die Himmlische Hundertschaft ist nicht nur im Pantheon der ukrainischen, sondern auch der europäischen Helden. Ich schwöre allen Müttern der Gefallenen: Europa wird sich immer an Ihre Söhne erinnern. Die Lektion Mut, die sie vor fünf Jahren im Februar der ganzen Welt erteilt haben, hat uns alle verändert. Die Ukraine hat gezeigt, dass es sich lohnt, mutig und würdevoll zu sein, dass das Gute das Böse überwinden kann und dass Heldentum mehr sein kann als ein rein moralischer Appell, dass dies der Schlüssel zum Sieg sein kann. Vielen Menschen auf der Welt, den gedemütigten und unterdrückten, haben Sie das größte Geschenk gegeben: die Hoffnung, dass für diejenigen, die heute schwach sind, der Tag des Sieges kommen wird. (…)
Ich möchte Ihnen auch für Ihre Europäität danken. Ich werde mich immer an die Fahnen mit den goldenen Sternen auf dem Chreschtschatyk während der Revolution erinnern und an die “Ode an die Freude”, die in der ganzen Ukraine erklang. Ich wiederhole oft meinen Kollegen in Brüssel: Lehren Sie sie nicht, Europa zu sein, lernen Sie von ihnen, was Europa ist.
Lassen Sie mich noch einmal die Worte wiederholen, mit denen ich mich einmal an die Führer der Europäischen Union gewandt habe: “Nur derjenige, der mit der Ukraine solidarisch ist, hat das Recht, als Europäer bezeichnet zu werden. Wer die Ukraine verkaufen will, verkauft die Zukunft Europas.”
Es ist kein Zufall, dass Politiker, die die europäische Integration in Frage stellen, auch die Integrität der Ukraine in Zweifel ziehen. Sag mir, was Du über die Ukraine denkst, und dann weiß ich, was Du über Europa denkst!
Als wir Polen unsere Reise nach Europa begannen, sagte Papst Johannes Paul II. der Welt: “Es kann kein gerechtes Europa geben ohne ein unabhängiges Polen.” Ich möchte hier und jetzt sagen, dass es kein gerechtes Europa ohne eine unabhängige Ukraine geben kann. Es kann kein sicheres Europa geben ohne eine sichere Ukraine.
Kurz gesagt: Ohne die Ukraine kann es kein Europa geben. (…)
Michal Boni: “Dein Land wurde erhört”
Brief aus dem Europäischen Parlament an die Helden der Himmlischen Hundertschaft
Lieber unbekannter Freund aus der Ukraine!
Heute sind es genau fünf Jahre her, seit dem Tag, an dem Du das letzte Mal Dein Haus verlassen hast – in dem tiefen Glauben, dass die Ukraine Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit zurückbekommen kann. Deshalb bist Du an diesem Tag nicht zur Arbeit, sondern zum Platz der Unabhängigkeit gegangen. Deshalb hast Du dich deinen Glaubensgenossen angeschlossen. Und du hast gehandelt, du bist nach vorn gegangen, ohne zu wissen, was dich erwartet. Oder vielleicht es auch zu wissen … aber mit der inneren Bereitschaft, bis zuletzt zu kämpfen.
Du hattest nur ein Ziel: Du wolltest in einem freien Staat leben. In einem Land, in dem deine Eltern eine ausreichende Rente erhalten, deine Kinder die Möglichkeit haben, ein europäisches Stipendium zu bekommen, und, wenn sie es wollen, auch frei ins Ausland fahren und dort studieren können. Du wolltest in einem Land leben, wo man keine Bestechungsgelder zahlen muss und keinen Druck von der Staatsmacht verspürt. Vielleicht wolltest Du einfach nur dein Studium beenden, eine Ausbildung machen, vielleicht war noch dein ganzes Leben vor dir… Aber an jenem Tag erhielten die Milizionäre den Befehl, Waffen einzusetzen. (…)
Es gab einen Schuss… Du wusstest nicht, dass alles so enden würde…
Ich schreibe diese Zeilen während ich nach der Arbeit nach Hause fahre. Ich schreibe sie Dir, mein ukrainischer Freund, um Dir zu sagen: Mit Deinem Tod war nicht alles vorbei. Ja, gezahlt hast Du den höchsten Preis im Namen Deines Volkes. Doch danach gelang es der Ukraine, Veränderungen zu erkämpfen. Laut, europaweit, verkündete Dein Staat allen, dass er Veränderungen will und für sie kämpfen wird. Er wurde erhört.
Heute arbeiten wir gemeinsam daran, um sicherzustellen, dass alles erreicht wird, von dem Du geträumt hast. Damit deine Eltern eine angemessene Rente erhalten und deine Kinder ungehindert in Europa studieren können. Und wir haben bereits Visafreiheit!
Jeden Tag arbeiten wir an der Umsetzung von Reformen, die vor einigen Jahren begonnen haben.
Leider siehst Du das nicht, aber vielleicht siehst Du das doch, irgendwo von da draußen vom Himmel und unterstützt die Ukraine. Vielleicht bist Du enttäuscht, dass nicht alles so schnell geht, wie man sich das wünscht. Vielleicht ist es nicht so, wie Du dir das vorgestellt hast. Aber ich glaube daran, dass diese gesegnete Zeit kommen wird.
Indem Du dein Leben geopfert hast, hast Du Millionen von Menschen, die heute in der Ukraine, in Europa und der ganzen Welt leben, Glauben geschenkt.
Dafür unseren tiefen Respekt für Dich. Dein Name wird immer in Erinnerung bleiben!