Erpressung bei Exporten und Verteilung russischer Pässe: Was Putin Selenskyj damit sagen will

Kurz vor den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine und unmittelbar danach hat der russische Präsident Wladimir Putin “Signale” an seinen künftigen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj gesendet. Das erste betrifft die Wirtschaft und das zweite stellt eine weitere Etappe der russischen Besetzung des ukrainischen Donbass dar. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Wenige Tage vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine hat Russland den Export von Kohle, Öl und Erdölerzeugnissen in die Ukraine sowie den Import bestimmter Röhren, von Papier, Pappe und Kleidung aus der Ukraine verboten. Die Beschränkungen auf Kohle verursachen Probleme in der ukrainischen Metallurgie und können somit die Stahlexporte des Landes beeinträchtigen. Nach Angaben des ukrainischen Statistikamtes hatte im Jahr 2018 die russische Kohle einen Anteil von 70 Prozent an der Verbrauchsstruktur in der Ukraine. Ohne russische Lieferungen wird sich die Ukraine auf andere Märkte wie Australien, die Vereinigten Staaten und weitere Länder neu ausgerichtet müssen. Der Export aus Russland wurde allerdings nicht völlig untersagt. Es gibt russische Unternehmen mit Sondergenehmigungen. Eine Alternative zu russischem Diesel und Flüssiggas zu finden, wird für die Ukraine etwas einfacher sein als bei der Kohle, meinen Experten.

Auch schon vor den Präsidentschaftswahlen gab es Informationen darüber, dass im Donbass möglicherweise russische Pässe verteilt werden könnten. Aber am 24. April 2019, drei Tage nach dem Sieg des neu gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, unterzeichnete der russische Staatschef Wladimir Putin ein vereinfachtes Verfahren zur Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an Einwohner der besetzten Teile der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk. Putin gab zu, dass diese Entscheidung “nicht spontan” getroffen worden sei. “Vor der Unterzeichnung dieses Dekrets haben wir genau gezählt: Sowohl die Anzahl der Antragsteller für unsere Pässe als auch die Anzahl der Rentner unter ihnen, die etwa ein Drittel in dem Kontingent ausmachen, von dem wir glauben, dass es unsere Staatsbürgerschaft beanspruchen könnte”, so Putin. Und am 1. Mai wurde auf der Webseite des Kremls ein weiteres Dekret veröffentlicht: über ein vereinfachtes Verfahren zur Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft für andere Kategorien von Ukrainern.

Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin bezeichnete Russlands Schritt als eine weitere “Pass-Etappe” bei der Besetzung des Donbass und forderte die Bewohner der sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” auf, keine russischen Pässe anzunehmen. Petro Poroschenko, der die Präsidentschaftswahlen verloren hat, aber noch im Amt ist, hat in einer Videobotschaft das Vorgehen Russlands verurteilt. Unterdessen teilte das ukrainische Ministerium für die besetzen Gebiete mit, dass diejenigen Einwohner der sogenannten “Volksrepubliken”, die russische Pässe annehmen würden, danach die ukrainische Staatsbürgerschaft verlieren könnten.

Wie hat der neu gewählte ukrainische Präsident reagiert?

Wolodymyr Selenskyj hat der russischen Staatsmacht geraten, “keine Zeit zu vergeuden, indem sie versucht, Bürger der Ukraine mit Pässen der Russischen Föderation zu locken”. Das erklärte der Sieger der ukrainischen Präsidentschaftswahlen auf seiner Facebook-Seite. “Wir wissen sehr gut, was der russische Pass in Wirklichkeit bringt: nämlich das ‘Recht’, wegen friedlichen Protestes verhaftet werden zu können, und das ‘Recht’, an keinen freien Wahlen teilnehmen zu können. Es ist nur das ‘Recht’, die Rechte und Freiheiten des Menschen insgesamt einfach zu vergessen”, so Selenskyj.

Er betonte ferner: “Wir werden Vertretern aller Völker, die unter autoritären und korrupten Regimen leiden, die ukrainische Staatsbürgerschaft geben. In erster Linie den Russen, die mit am meisten leiden.

“Ein Volk” und neue Kategorien “potentieller Russen”

Auf die Erklärung von Selenskyj antwortete Putin, dass Ukrainer und Russen viel gemeinsam hätten. Von einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft würden die Russen und Ukrainer nur profitieren. “Wenn die Russen in der Ukraine die ukrainische Staatsbürgerschaft bekommen und die Ukrainer in Russland die russische, werden wir schnell zu einem gemeinsamen Nenner kommen, zu dem Ergebnis, das wir wollen: eine gemeinsame Staatsbürgerschaft”, sagte Putin nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur TASS. Er fügte hinzu, dass er die Ukrainer und Russen mit ihren kulturellen, sprachlichen und historischen Besonderheiten nach wie vor als “im Wesentlichen ein Volk” betrachte.

Unmittelbar nach dieser Erklärung erließ Putin am 1. Mai ein weiteres Dekret bezüglich russischer Pässe, wonach Ukrainer, die auf der Krim geboren sind und ihren ständigen Wohnsitz auf der Halbinsel hatten und vor dem 18. März 2014 die Halbinsel verlassen haben, sowie deren Kinder und Ehepartner das Recht haben, leichter die russische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Das Recht erhalten zudem ukrainische Staatsbürger, die über eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis in Russland, über eine Aufenthaltserlaubnis in Russland, eine Flüchtlings-Bescheinigung oder über Asyl in Russland verfügen.

Am 29. April wurde in Nowoschachtinsk in der russischen Region Rostow ein Zentrum für die Ausstellung russischer Pässe an Einwohner der ukrainischen Region Luhansk eröffnet. Und am 30. April wurde ein solches Zentrum im Dorf Pokrowsk ebenfalls in der russischen Region Rostow eingerichtet.

Alte Methoden unter neuen Bedingungen

Die Verteilung von Pässen in besetzten Gebieten der Nachbarländer ist eine alte Praxis der Russischen Föderation. Moskau bereitet sich mit der Ausstellung von Pässe auf eine weitere Eskalation vor. Das meint Heorhij Tuka, ukrainischer Stellvertretender Minister für die vorübergehend besetzten Gebiete. “Putins Dekret ist eine weitere Wiederholung des Szenarios, das in der sogenannten “Republik Transnistrien”, in Südossetien und Abchasien umgesetzt wurde. Als es dort zu Kämpfen kam, waren über 90 Prozent der Menschen dort russische Bürger, und das setzen sie jetzt auch im Donbass um”, so Tuka.

Aber es gibt auch Unterschiede. In den nicht anerkannten “Republiken” Südossetien, Abchasien und Transnistrien wurden russische Pässe bereits in den 1990er Jahren verteilt. Faktisch sind die meisten Menschen dort russische Staatsbürger. Die Lage im Donbass ist Experten zufolge nur zum Teil vergleichbar. Tbilissi verlor die Kontrolle über die “Republiken” auf dem Territorium Georgiens noch Anfang der 1990er Jahre, noch bevor die meisten Einwohner georgische Pässe erhalten konnten.

Die Menschen im besetzten Donbass hingegen besitzen alle ukrainische Pässe. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie diese auch behalten werden. Dies neutralisiert jedoch keine Gefahren. Nach Putins Vergabe von Pässen werden im Osten der Ukraine wahrscheinlich hunderttausende russische Bürger leben. Moskau behält sich bekanntlich das Recht vor, seine Bürger im Ausland vor einem bewaffneten Angriff zu schützen.

Was bedeutet das für Selenskyj?

Noch vor der Amtseinführung ist der neue ukrainische Präsident gezwungen, Putins Botschaften zu “vernehmen”, obwohl der russische Präsident erklärt hatte, dass “er keine Lust hat, Probleme für die neue ukrainische Regierung zu schaffen”. Ein derart drastisches Vorgehen des russischen Staatschefs unmittelbar nach den ukrainischen Präsidentschaftswahlen bedeutet, dass der Kreml bei potenziellen Verhandlungen mit Kiew von einem Standpunkt der Stärke aus seine Bedingungen diktieren will.

Dabei besteht die Hauptaufgabe darin, die neue ukrainische Führung zu einer Föderalisierung des Landes, zu einem Sonderstatus für den Donbass innerhalb der Ukraine mit angemessenen Etat-Zuweisungen, zu einer Amnestie der prorussischen Rebellen und zu Kommunalwahlen ohne eine Kontrolle der Gebiete durch die Ukraine bis zur russischen Grenze zu drängen. Dies kann auch einen Verzicht der Ukraine auf die Krim beinhalten. All dies verkleinert Selenskyjs Spielraum für Vereinbarungen. “Der Kreml deutet an, die neue Führung in Kiew solle ein Kompromiss-Paket vorlegen, was faktisch ein Paket von Zugeständnissen wäre”, meint Serhij Solodkyj, stellvertretender Leiter des ukrainischen Forschungszentrums “New Europe”.

Denis Rybatschok, Experte der gesellschaftlichen Organisation “Wähler-Komitee der Ukraine”, ist überzeugt, dass Putin mit seinem Druck auf den neu gewählten Präsidenten zumindest eine Abkehr vom Kurs der Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der NATO und EU erreichen will. Russland wende die Methode von Zuckerbrot und Peitsche an, so der Experte. “Einerseits wird billiges Gas angeboten, was Wiktor Medwedtschuk verkündet hat. Zuvor war Jurij Bojko in Moskau und besprach dies dort. Russland macht deutlich: Wenn ihr nicht wollt, dann haben wir eben folgende Einfluss-Hebel: Exportverbote und die Ausstellung von Pässen”, so Rybatschok.