Sechs Jahre nach den Schüssen auf dem Maidan: Was hat sich im letzten Jahr verändert?

Am 20. Februar 2020 hat die Ukraine an die tragischen Ereignisse vor sechs Jahren erinnert – an die drei blutigsten Tage der Proteste auf dem Maidan. Allein am 20. Februar 2014 wurden 48 Menschen erschossen und 80 verletzt. Insgesamt wurden bei den Kundgebungen innerhalb von drei Tagen 78 Demonstranten und 13 Sicherheitskräfte getötet. Seit einem Jahr ist zu beobachten, dass ich das Narrativ der Ereignisse rund um die Revolution der Würde verändert. Wie steht es um die Ermittlungen? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Nach dem Machtwechsel in der Ukraine im Jahr 2019 – der Wahl des neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und eines neuen Parlaments, in dem der Präsident eine eigene Mehrheit hat – ist immer mehr eine neue Rhetorik der Staatsmacht zu beobachten, aber auch ein langsameres Tempo bei den Ermittlungen sowie eine Revanche der Maidan-Gegner.

Neue Rhetorik der Staatsmacht.Die neue Staatsmacht nutzt seltener das Wort “Maidan” und vermeidet, wenn auch aus anderen Gründen, vom “Aggressor Russland” und “Krieg mit Russland” zu sprechen. Sie vermeidet, jene Ereignisse zu bewerten. Dies könnte bedeuten, dass die Veränderungen, zu denen es im Laufe der Revolution der Würde gekommen ist, möglicherweise weder für die Staatsmacht noch deren Wähler von Interesse sind.

Innerhalb der regierenden Partei “Diener des Volkes” gibt es sowohl ausgesprochene Anhänger der Revolution der Würde als auch klare Gegner. Selenskyjs Team versucht, so Soziologen, allen zu gefallen. Dabei zeigt der Präsident keine klare Haltung zum Maidan und zu vielen anderen Ereignissen. Diese “Neutralität” verleiht den Revanchisten Hoffnung.

Fehlende Bestrafung.Die Revanche baut darauf auf, dass keine Gegner des Maidan bestraft wurden, nicht einmal diejenigen, die auf Demonstranten geschossen haben.

Unmittelbar nach der Flucht von Präsident Viktor Janukowytsch im Februar 2014 nach Russland sind ihm enge Mitarbeiter gefolgt, andere sind in der Ukraine geblieben. Selbst diejenigen von ihnen, die über eine Abgeordnetenimmunität verfügten, wagten es nicht, sich klar gegen die damalige neue Regierung unter Präsident Petro Poroschenko in Stellung zu bringen. Sie leisteten keinen Widerstand gegen die Untersuchungen der “Maidan-Fälle”, die von einer speziellen Gruppe in der Generalstaatsanwaltschaft unter der Leitung von Serhij Horbatjuk durchgeführt wurden.

Doch unter Poroschenko wurden die Untersuchungen teilweise von der Generalstaatsanwaltschaft und dem Innenministerium behindert. “Die Ermittlungen und Gerichtsverfahren wurden von den ehemaligen Generalstaatsanwälten Jurij Luzenko und Viktor Schokin, sowie Innenminister Arsen Awakow sehr effektiv behindert”, sagte Vitalij Titytsch. Er ist Anwalt der Angehörigen der Menschen, die auf dem Maidan getötet wurden. Es habe sogar eine unausgesprochene Vereinbarung gegeben, zwischen ehemaligen Angehörigen der aufgelösten Sondereinheit “Berkut”, die für die Erschießungen auf dem Maidan verantwortlich gemacht wird, und dem damals neuen Innenminister Awakow, wonach diejenigen “Berkuts” eine Verfolgung und Bestrafung vermeiden könnten, wenn sie sich bereit erklärten, im Donbass für die Ukraine zu kämpfen.

Noch im Jahr 2014 floh der ehemalige “Berkut”-Kommandeur Dmytro Sadownyk aus dem Hausarrest nach Russland. Drei Jahre später flohen vier ehemalige “Berkuts” aus Charkiw ebenfalls nach Russland.

Nach Angaben beteiligter Experten kamen die Untersuchungen nur schwer voran. “Die Untersuchungen der Verbrechen gegen die Demonstranten sind nur möglich gewesen, weil Opfer, Zivilgesellschaft, Zeugen und Journalisten aktiv waren”, sagte die Anwältin Jewhenia Sakrewska.

Seit Präsident Selenskyj an der Macht ist, hat sich die Lage, was die Untersuchungen angeht, weiter verschlechtert. Ein Ende der Ermittlungen und Gerichtsprozesse in den Maidan-Fällen ist noch lange nicht in Sicht. Die Sondereinheit des Staatlichen Ermittlungs-Büros, die die Untersuchungen vor kurzem von der Generalstaatsanwaltschaft übernommen hat, bekam 42 Strafsachen, während die Maidan-Fälle insgesamt über 6500 Aktenordner umfassen. Die Angehörigen der Opfer sehen in der Auflösung der Ermittler-Gruppe um Serhij Horbatjuk eine politische Entscheidung, die zum Ziel hat, die Sache endgültig zu begraben.

Für Aufsehen sorgte auch der Austausch von fünf in Verdacht stehenden “Berkuts” im Dezember 2019. Ihre Fälle werden seit Mai 2016 vor einem Gericht in Kiew verhandelt. Den Männern wird Machtmissbrauch, illegaler Umgang mit Waffen, vorsätzlicher Mord und Körperverletzung von Maidan-Aktivisten vorgeworfen. Das Urteil sollte bereits in diesem Jahr gesprochen werden. Doch kurz vor Neujahr hat Kiew alle fünf Beschuldigte im Rahmen eines Gefangenenaustauschs im Donbass freigelassen. Anfang Februar kehrten allerdings zwei von ihnen nach Kiew zurück, die, ihnen zufolge, dort “für die Wahrheit” kämpfen wollen.

Medien: Verstärkte Anti-Maidan-Rhetorik.Eine Debatte, die das Vorgehen der Angehörigen der ehemaligen Sondereinheit “Berkut” rechtfertigt, haben die TV-Sender “Newsone” und “112” in Gang gesetzt, die während der Präsidentschaft von Petro Poroschenko in den Besitz des Umfelds um Viktor Medwedtschuk kamen, dessen Tochter Patenkind des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist. Bei den Sendern tauchten nach langer Zeit wieder ehemalige Abgeordnete der einstigen “Partei der Regionen” auf, die unter Präsident Janukowytsch an der Macht war.

Beispielsweise sendete am Abend des 18. Februar 2020 der Kanal”Newsone”, der dem Abgeordneten Taras Kosak von der “Oppositions-Plattform – Fürs Leben” und Mitarbeiter von Medwedtschuk gehört, eine Talkshow zu den Ereignissen auf dem Maidan vor sechs Jahren. Das Leitmotiv der Sendung war: “Die Jungs von den Sicherheitsorganen waren während des Maidan wahre Helden, da sie bis zuletzt ihrer Pflicht nachgekommen waren”. Mychajlo Dobkin, einst ein enger Anhänger von Janukowytsch, sagte in der Sendung sogar, zum 10. Jahrestag der Revolution werde man die “Berkuts im TV-Studio als Helden begrüßen”.

Versuch einer Revanche.Nach den Präsidentschaftswahlen 2019 kehrte der Jurist und ehemalige Janukowytsch-Mitarbeiter Andrij Portnow in die Ukraine zurück. Er begann sofort, das Staatliche Ermittlungs-Büro mit Klagen im Zusammenhang mit Straftaten zu überschütten, die angeblich von Petro Poroschenko begangen wurden. Neben Portnow erschienen auch andere Politiker, die einst Janukowytsch unterstützt hatten, plötzlich wieder in Talkshows.

Das “Anti-Maidan-Lager” fühlt sich zum Beispiel von Viktor Medwedtschuk ermutigt. Er, nun Abgeordneter des Parlaments, flog in den letzten Jahren immer wieder nach Moskau und besuchte dort den Kreml. Er erlaubt sich auch äußerst negative Äußerungen über Gegner des einstigen Janukowytsch-Regimes. Ihm zufolge hat die Ukraine ihre Souveränität und Unabhängigkeit verloren und ist unter externe Kontrolle geraten. Sie vegetiere nur dahin, sagte er im Vorfeld des sechsten Jahrestages der Ereignisse auf dem Maidan.

Erklärung des Staatlichen Ermittlungs-Büros.Einen Höhepunkt der politischen Wende unter der neuen Regierung stellt jedoch eine Erklärung der Leiterin des Staatlichen Ermittlungs-Büros, Iryna Wenediktowa, dar, die sie kurz vor dem sechsten Jahrestag der Maidan-Ereignisse abgab. Sie meint, für eine faire und ehrliche Untersuchung der Maidan-Fälle sei es notwendig, das Gesetz zur Verhinderung der Verfolgung von Teilnehmern der Massenproteste auf dem Maidan von 2014 aufzuheben. Das Gesetz hatte das Parlament am 21. Februar 2014 verabschiedet. Wenediktowa zufolge verstößt es gegen die Strafprozessordnung und verhindert eine objektive Untersuchung der Tötung von Angehörigen der damaligen Sicherheitskräfte.

Sie betonte: “78 Demonstranten und 13 Milizionäre wurden getötet. Wenn es um Gerechtigkeit geht, müssen wir auch an die 13 toten Sicherheitsbeamten denken, die einen Befehl ausgeführt haben. Wenn die Befehle kriminell waren, dann müssen wir diejenigen zur Verantwortung ziehen, die sie gegeben haben. Wenn wir faire und ehrliche Untersuchungen wollen, dann müssen wir dieses Gesetz abschaffen…Darüber hinaus haben wir einen Gesetzentwurf zur Verurteilung in Abwesenheit erarbeitet, da wir so nicht weiterkommen.”