Wie stark wackelt der Stuhl von Innenminister Awakow?

Innenminister Arsen Awakow gilt in der ukrainischen Politik seit langem als “ewiger” Minister. Präsidenten und Regierungen haben gewechselt, aber Awakow ist seit Februar 2014 im Amt. Doch die Spannungen um ihn nehmen zu. Es gibt mehrere Skandale, bei denen es um Polizeigewalt und Untätigkeit geht. Kritisiert werden auch fehlende Fortschritte bei den Ermittlungen zum Mord an dem Journalisten Pawel Scheremet, für die Awakow verantwortlich ist. Was könnte den Minister erwarten? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Am 5. Juni hat es im ukrainischen Parlament eine Anhörung von Innenminister Arsen Awakow gegeben. Dabei ging es auch um aufsehenerregende Straftaten. Grundlage für die Anhörung war aber ein Beschlussentwurf zur Entlassung des Ministers, den rund 60 Abgeordnete der regierenden Partei “Diener des Volkes” und der Partei “Stimme” unterzeichnet hatten.

Gleichzeitig fanden vor dem Parlamentsgebäude vier Kundgebungen statt, auf denen eine Absetzung des Ministers gefordert wurde. Der Protest wurde von Vertretern der Partei “Stimme” sowie von Menschenrechtsaktivisten (Center for Civil Liberties) unterstützt.

Die jüngsten Skandale. In der Nacht des 24. Mai wurde in der Stadt Kaharlyk, 80 Kilometer südlich von Kiew, ein schreckliches Verbrechen verübt. Eine 26-jährige Frau erschien im örtlichen Krankenhaus und gab an, geschlagen und vergewaltigt worden zu sein. Das Staatliche Ermittlungsbüro kam zu einem schockierenden Ergebnis: Der 29-jährige Polizist Serhij Sulyma aus Kaharlyk hatte das Opfer als Zeugin in sein Büro vorgeladen, ihr dort eine Gasmaske aufgesetzt, sie mit Handschellen gefesselt, ihr mit seiner Dienstwaffe über den Kopf geschossen und sie mehrmals vergewaltigt. An der Tat beteiligt war den Ermittlern zufolge ein weiterer Polizist, der 35-jährige Mykola Kusiw, Leiter der Kriminalpolizei in Kaharlyk. Beide wurden festgenommen und am 26. Mai von einem Gericht für 60 Tage ohne Möglichkeit einer Kaution in Untersuchungshaft gebracht.

Darüber hinaus kam es am Morgen des 29. Mai in Browary bei Kiew zu einer Schießerei, an der mehrere Dutzend Menschen beteiligt waren. Grund dafür ist ein Konflikt zwischen Busunternehmern, die im Personenverkehr tätig sind, zum Teil auch illegal. Da sie die Schießerei nicht verhindern konnte, wird der Polizei nun Hilflosigkeit und Untätigkeit vorgeworfen.

Keine wirklichen Reformen. Polizeibeamte in den Regionen des Landes schockieren nicht zum ersten Mal mit ihrem Verhalten. Vor einem Jahr erschossen betrunkene Polizisten in Perejaslaw-Chmelnyzkyj (einer Stadt in der Region Kiew) versehentlich ein fünfjähriges Kind. 2016 schlug eine ganze Polizeieinheit in der Ortschaft Krywe Osero in der Region Mykolajiw einen 32-Jährigen Einwohner zu Tode. Vier Jahre zuvor war eine Protestwelle durch das Land gerollt, wegen einer Massenvergewaltigung in der Ortschaft Wradijiwka, ebenfalls in der Region Mykolajiw. Das Opfer hatte angegeben, an dem Verbrechen seien zwei hochrangige Polizisten beteiligt gewesen. Der Polizei in der Region Mykolajiw wird auch vorgeworfen, versucht zu haben, eine weitere Massenvergewaltigung einer Frau zu vertuschen.

Experten zufolge zeigen solche Fälle, dass die Polizei immer noch keine erfolgreiche Reform durchlaufen hat. Die Reform, die die gesamte Vertikale des Innenministeriums verändern sollte, wurde 2016 beendet. Die von den beiden Georgierinnen Ekaterina Sghuladse und Chatia Dekanoidse zunächst angeführte Reform konnte das “Strafverfolgungs-Monster” mit der Schaffung einer Straßenpolizei nur zum Teil verändern. Die Reform wurde aber nicht wirklich abgeschlossen. Es gibt nur 12.000 Streifenpolizisten, dafür aber etwa 30.000 Ermittler. Dieser Teil des Innenministeriums wurde nicht verändert.

Außerdem hat die Polizeireform die Kleinstädte kaum erreicht. Dort gibt es zum Beispiel keine Zusammenarbeit mit Psychologen, weder bei der Einstellung von Mitarbeitern der Polizei, noch während ihres Dienstes. Ferner missfiel den höheren Rängen eine regelmäßige Überprüfung. Die Test für Mitarbeiter wurden von der Abteilung für rechtliche Unterstützung des Innenministeriums sabotiert und zu einer Formalie degradiert. Daher konnten 92 Prozent der Polizeibeamten sie erfolgreich bestehen. Die anderen Beamten wurden per Gerichtsentscheid wieder eingesetzt.

Laut Meinungsumfragen des Kiewer Rasumkow-Forschungszentrums misstrauten im Februar 2020 Innenminister Arsen Awakow 74 Prozent der Befragten.

Warum unterstützt Präsident Selenskyj Innenminister Awakow? Als Wolodymyr Selenskyj vor einem Jahr Awakow, der auch unter Präsident Petro Poroschenko Innenminister war, in die neue Regierung von Premier Oleksij Hontscharuk übernahm, sagte er, dass er als Präsident dafür persönlich Verantwortung übernehme. Er versicherte den Parlamentsabgeordneten, Awakow sei vorübergehend im Amt, bis Ersatz gefunden werde.

Seitdem ist dazu vom Präsidenten nichts mehr zu hören. Als Hontscharuks gesamte Regierung zurücktrat, blieb Awakow im Amt. Auf einer Pressekonferenz am 20. Mai erklärte Selenskyj, er setze bei Awakow spezielle Bewertungskriterien an: Ergebnisse bei den Untersuchungen der Morde an der Aktivistin Kateryna Handsjuk und dem Journalisten Pawel Scheremet. Doch die Ermittlungen sind nach wie vor nicht abgeschlossen und werfen viele Fragen auf.

Beobachter gehen dennoch nicht davon aus, dass Selenskyj Awakow jetzt entlassen wird. “Als guter Psychologe kann Awakow dem Präsidenten erläutern, warum er für ihn unverzichtbar ist. Ich denke, in Selenskyjs Kopf herrscht, was Awakow angeht, eine komplexe Symbiose aus Angst und Verwirrung”, sagte Roman Romanjuk, Kolumnist der Zeitung “Ukrajinska Prawda”, gegenüber “Radio Liberty”.

Selenskyj fürchtet  vor allem Radikale, die angeblich vom Innenminister in Schach gehalten werden. Daher besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der “ewige Minister” die jüngsten Skandale auf seinem Stuhl sicher aussitzen wird. Zumal, dass Awakow innerhalb der Rechtsschutzorgane und in der Politik Unterstützung genießt. Und Selenskyj braucht Stabilität innerhalb der Polizei, mit deren Mechanismen sich weder er noch sein Umfeld auskennen.