Der Fall Medwedtschuk: Neue Maßnahmen der ukrainischen Behörden

Am 11. Mai hat die Generalstaatsanwältin der Ukraine, Iryna Wenediktowa, Verdacht gegen den Oligarchen Viktor Medwedtschuk und den Abgeordneten Taras Kosak erhoben. Medwedtschuk ist Vorsitzender des politischen Rates der Partei “Oppositions-Plattform – fürs Leben”. Ihm und Kosak werden Hochverrat und Plünderung nationaler Ressourcen auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim vorgeworfen. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) durchsuchte das Büro der Partei und zwei Privathäuser von Medwedtschuk. Am 13. Mai ordnete ein Gericht gegen Medwedtschuk für die Dauer der Ermittlungen Hausarrest an. Hängen diese Ereignisse mit den Sanktionen des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates gegen Medwedtschuk zusammen? Wie reagiert die Öffentlichkeit? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Wer ist Medwedtschuk? Medwedtschuk wird oft als “graue Eminenz” der ukrainischen Politik und als einer der Anführer prorussischen Kräfte im Land bezeichnet. In der Vergangenheit hatte er verschiedene leitende Positionen inne, unter anderem war er Leiter der Administration des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma. Medwedtschuk begann seine Karriere noch in der Sowjetzeit als Jurist. 1980 verteidigte er als eingesetzter Anwalt den ukrainischen Schriftsteller und Dissidenten Wasyl Stus. der einer der engagiertesten Vertreter einer ukrainischen kulturellen Autonomie in den 1960er Jahren war und dafür zu insgesamt 23 Jahren Haft in Straflagern verurteilt wurde. Stus beteuerte stets seine Unschuld, doch Medwedtschuk betrachtete seinen Mandanten als schuldig, weshalb Medwedtschuk wiederholt beschuldigt wurde, gegen die Berufsethik eines Anwalts verstoßen zu haben.

Im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit der Ukraine leitete Medwedtschuk die “Vereinigte Sozialdemokratische Partei der Ukraine” und später die gesellschaftliche Organisation “Ukrainische Wahl”. Seit 2019 ist er Vorsitzender des politischen und strategischen Rates der Partei “Oppositions-Plattform – fürs Leben”, die nach der regierenden Partei “Diener des Volkes” die zweitgrößte Fraktion im Parlament stellt. 

Medwedtschuk hat ein besonders enges Verhältnis zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Pate von Medwedtschuks Tochter ist. Oft wird Medwedtschuk als eine Art Vermittler zwischen Kiew und dem Kreml betrachtet. Seit der Präsidentschaft von Petro Poroschenko war Medwedtschuk wiederholt am Austausch von Gefangenen zwischen Kiew und den sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” beteiligt.

Sanktionen des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates. Der erste entscheidende Schritt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gegen Medwedtschuk waren personenbezogene Sanktionen. Im Februar 2021 verhängte der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine zunächst Sanktionen gegen Medwedtschuks Vertrauten Taras Kosak, was den Stopp der Ausstrahlung von drei prorussischen Fernsehkanälen in der Ukraine zur Folge hatte, die formal Kosak gehören. Später erließ Selenskyj auch ein Dekret über Sanktionen gegen Medwedtschuk und sein Transportunternehmen für Erdölprodukte, wegen des Verdachts der “Beteiligung an der Finanzierung von Terrorismus”.

Was wird Medwedtschuk heute vorgeworfen? Die aktuellen Verdächtigungen beziehen sich nicht auf frühere Sanktionen. Die Behörden vermuten, dass Medwedtschuk sich mit Russland zusammengetan hat, um Öl und Gas im Schwarzen Meer zu fördern. Zudem soll Medwedtschuk im Jahr 2020 über Kosak dem Kreml den Standort einer verdeckten Einheit der ukrainischen Streitkräfte verraten haben.

Am späten Abend des 11. Mai reagierte der Pressedienst von Medwedtschuk auf die Informationen über die Durchsuchungen und Verdächtigungen. Es wurde versichert, Medwedtschuk verstecke sich nicht vor den Ermittlungen und befinde sich in der Ukraine. Er traf am 12. Mai in der Generalstaatsanwaltschaft ein, und um 13 Uhr fand eine Anhörung vor Gericht statt. Am 13. Mai entschied das Bezirksgericht Petschersk in Kiew, Medwedtschuk bis zum 9. Juli rund um die Uhr unter Hausarrest zu stellen. Medwedtschuk musste seinen Reisepass abgeben und muss eine elektronische Fessel tragen. Damit gab das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht statt, die eine Inhaftierung mit der Möglichkeit einer Kaution von 300 Millionen Hrywnja beantragt hatte.

Die Verteidigung hatte gefordert, keine Vorbeugemaßnahmen gegen den Verdächtigen zu verhängen, was das Gericht ebenfalls ablehnte. Gleichzeitig erklärte Medwedtschuk, er werde zu Hause arbeiten und Interviews geben.

Wie reagieren politische Kräfte und die Öffentlichkeit? Die Reaktion auf Medwedtschuks Hausarrest ist verhaltend. Die überwiegende Mehrheit der Politiker, einschließlich der Opposition, sowie Experten finden eine solche Vorbeugemaßnahme im Falle von Hochverrat für unzureichend und zu milde.

Der Journalist Denys Kasanskyj, ein Vertreter der ukrainischen Delegation bei der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk, wundert sich, dass wegen Hochverrats die gleiche Vorbeugemaßnahme gewählt wurde, wie für das Abfeuern von Feuerwerkskörpern auf das Präsidialamt und das Zerschlagen von Glas in den Türen des Gebäudes während einer Protestaktion vor einiger Zeit.

Der Journalist Bohdan Butkewytsch hatte eine solche Entscheidung des Gerichts erwartet und sieht keinen Grund für Verzweiflung. Er glaubt, “Medwedtschuk ist die Rolle eines Oligarchen zugewiesen worden, der von Selenskyj demonstrativ besiegt wird”. Butkewytsch erwartet nicht, dass Medwedtschuk nach Russland flieht: “Weil er weiß, dass er nur noch etwas wert ist, solange er in der Ukraine ist. In Russland wäre er sogar weniger wert als Janukowytsch.” Der ehemalige ukrainische Präsident Viktor Janukowytsch war während der Revolution der Würde im Februar 2014 nach Russland geflohen. Butkewytsch findet, positiv an der Sache gegen Medwedtschuk sei, dass der Oligarch eine “Delegitimierung” erfahre. “Dies ebnet den Weg für die Delegitimierung der offen prorussischen Kreise in der Ukraine”, so der Journalist.

Was könnte als nächstes passieren? Die Meinungen von Experten zu zukünftigen Entwicklungen gehen auseinander. Einige glauben, dass der Fall vor Gericht scheitern wird. Andere glauben an die Entschlossenheit der Behörden und schließen eine Verurteilung von Medwedtschuk nicht aus.

In einem Interview für die DW sagte der Kiewer Politologe Viktor Neboschenko, er gehe davon aus, dass auf Druck Washingtons gegen Medwedtschuk Verdacht erhoben worden sei und die Durchsuchungen erfolgt seien, mit dem Ziel, gegen Korruption, die Herrschaft der Oligarchen und die “fünfte Kolonne” Russlands in der Ukraine vorzugehen. “Kiew ist in eine Situation geraten, die die intellektuellen Fähigkeiten der ukrainischen Führung übersteigt. Dies ist eine unmögliche Aufgabe für den derzeitigen Präsidenten”, so der Experte. Neboschenko glaubt, dass die Sache Medwedtschuk in Gerichten feststecken und keinen Abschluss finden wird. “Der Sicherheitsdienst der Ukraine hat bereits alles getan, was er konnte, so auch die Generalstaatsanwaltschaft. Aber die Gerichte in der Ukraine sind nicht bereit, sich gegen Medwedtschuk zu stellen”, meint der Experte.

Der Politikwissenschaftler Wolodymyr Fesenko hingegen glaubt, dass die nun fast dreimonatige Verfolgung von Medwedtschuk durch die derzeitigen Behörden zeige, dass sich die Ereignisse für die in diesen Fall involvierten Personen recht dynamisch entwickeln. “Es gibt zwei Faktoren. Einerseits besteht seitens des Präsidenten politischer Wille und persönliches Interesse, da Medwedtschuk sein persönlicher politischer Feind geworden ist. Andererseits spüren diesen politischen Willen des Präsidenten auch die Behörden, die wiederum eine  ziemlich breite gesellschaftspolitische Resonanz auf die vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat gegen Medwedtschuk verhängten Sanktionen verspüren”, so Fesenko, der mit weiterem Druck von Selenskyj und der Öffentlichkeit rechnet, damit es in diesem Fall auch Gerichtsurteile gibt.

“Dies bedeutet, dass Medwedtschuk in den kommenden Jahren keine politische Zukunft haben wird. Er wird sich verteidigen müssen. Weil er als Schlüsselfigur des prorussischen Lagers aus der Politik ausgeschlossen wird, muss mit seiner Schwächung gerechnet werden. Medwedtschuks jetzige Partner werden gezwungen sein, sich von ihm zu distanzieren und sogar andere politische Kräfte zu schaffen”, fügte Fesenko hinzu.