COVID-19: Die Ukraine am Rande des Kollaps

Die Ukraine gehört bei der Zahl der Todesfälle durch COVID-19 zu den drei weltweit am stärksten betroffenen Ländern. Sie belegt derzeit in Europa den ersten Platz bei der Zahl der Krankenhauseinweisungen, sowohl in relativen als auch in absoluten Zahlen. Die neue Coronavirus-Welle in der Ukraine hat in einigen Regionen bereits zu einer Katastrophe in den Krankenhäusern geführt. Was sind die wichtigsten Zahlen? Was passiert in den Hospitälern? Wie reagiert die Regierung?

Negativrekord bei Sterblichkeit und Infektionsfällen. Die Zahlen des Gesundheitsministeriums vom 21. Oktober schockieren gleich mit zwei Negativrekorden: Zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie sind in der Ukraine an einem Tag 546 Patienten an COVID-19 gestorben, und die Zahl der neu bestätigten Fälle überstieg 22.400. Der Höhepunkt der Welle im Frühjahr wurde am 3. April 2021 erreicht. Damals wurden an dem Tag 20.300 neue Patienten gemeldet.

Der aktuelle Ausbruch von COVID-19 in der Ukraine sieht im globalen Kontext bedrohlich aus. Laut dem Statistikportal “Worldometers” rangierte die Ukraine vom 19. bis 20. Oktober weltweit auf Platz 4 und 3 bei der Zahl der Todesfälle pro Tag, hinter den USA, Russland und Rumänien. Die Zahl der Todesfälle in der Ukraine war höher als in Indien, dem einstigen Hotspot des Delta-Stammes.

Am 20. Oktober lag die Ukraine bei der Zahl der akuten Fälle (272.543 allein nach offiziellen Angaben) weltweit auf Platz 7 und in Europa auf Platz 3 – nach Großbritannien und Russland, wo derzeit 1,4 Millionen bzw. 802.000 Menschen erkrankt sind. Allerdings werden in Großbritannien viel mehr Tests durchgeführt.

Überlastete Labore und Krankenhäuser. Der Experte Jewhen Istrebin, der auf seiner Facebook-Seite die offiziellen Erkrankungs-Statistiken in der Ukraine verfolgt und analysiert, macht auf folgende Indikatoren aufmerksam, die mit jeden Tag ansteigen:

  • Rekord bei absoluter Anzahl positiver PCR-Tests: Am 20. Oktober waren es 30.417.
  • Rekord bei COVID-19-Nachweisen bei der Gesamtzahl durchgeführter Tests: Am 20. Oktober waren 42,3 % der Ergebnisse positiv.
  • Rekord bei positiven Tests innerhalb einer Woche: 37,6% der Tests im Zeitraum vom 13. bis 20. Oktober waren positiv.
  • Rekord bei der Auslastung der Labore: Am 20. Oktober konnten 19.000 PCR-Tests nicht bearbeitet werden, 4000 mehr als am Vortag.
  • Rekord bei der Belegung von Kinderkrankenhäusern: Am 20. Oktober befanden sich 851 Kinder mit bestätigtem COVID-19 oder Verdacht auf diese Krankheit in ukrainischen Krankenhäusern, die meisten davon in den Regionen Charkiw, Odessa und Dnipropetrowsk.
  • Rekord bei Krankenhausaufenthalten im europäischen Vergleich: Am 20. Oktober lag die Ukraine bei der Anzahl der Krankenhauspatienten sowohl in absoluten Zahlen (40.531 Patienten) als auch in relativen Zahlen (1.045 pro 1 Million Einwohner) an erster Stelle in Europa.

Triage bereits im Gange. Gleichzeitig zeigen die Statistiken, wie Jewhen Istrebin feststellt, eine weitere traurige Realität. In den letzten Tagen hat sich die Zunahme der Krankenhauseinweisungen verlangsamt, da in vielen Regionen (insbesondere in Charkiw und Odessa) die Krankenhäuser voll sind und es keinen Platz für neue Patienten gibt.

Ihm zufolge standen während des Höhepunkts der Corona-Welle im Frühjahr 80.000 Betten bereit, jetzt sind es hingegen nur 67.000, von denen bereits 41.000 belegt sind. “Aktuell ist es nicht möglich, bei 60.000 Betten so viele Patienten ins Krankenhaus zu bringen wie im Frühjahr, weil die Inzidenzen in den verschiedenen Regionen des Landes unterschiedlich sind und in der Statistik auch Entbindungskliniken und Kinderkliniken enthalten sind. Die neuen Krankenhäuser sind bei weitem noch nicht alle in der Lage, Patienten aufzunehmen, sodass die Einweisungen vor dem Hintergrund verfügbarer freier Betten eingeschränkt wird. Faktisch ist eine Triage in vielen Regionen bereits in vollem Gange”, so Istrebin.

Und der Wert positiver Tests, der über 42 % liegt, weist dem Analysten zufolge auf eine unzureichende Abdeckung mit Tests hin, was eine noch viel höhere Inzidenz als die offiziellen Statistiken vermuten lässt.

Impfungen nehmen glücklicherweise zu. Vor dem Hintergrund dieses bedrohlichen Anstiegs der Patientenzahlen und der Verhängung neuer Quarantäne-Beschränkungen in vielen Regionen sind die Impfraten in der Ukraine in den letzten Tagen deutlich gestiegen. Am 19. und 20. Oktober wurden zwei Rekorde in Folge aufgestellt: Am Mittwoch wurden 251.254 Dosen verabreicht. 165.649 Personen wurden zum ersten Mal geimpft und 85.605 erhielten die zweite Dosis.

Die Gesamtzahl der vollständig geimpften Menschen in der Ukraine hat somit die Zahl von 6,7 Millionen überschritten. Über 8,3 Millionen Ukrainer haben seit Beginn der Impfkampagne mindestens eine Dosis erhalten. Im Vergleich mit europäischen und entwickelten Länder bleibt die Ukraine jedoch bei den Impfungen hinter ihnen zurück.

Laut dem Portal “Our world in data” sind im Durchschnitt 36,39 % der Weltbevölkerung vollständig geimpft, und insgesamt 47,8 % der Weltbevölkerung haben mindestens eine Dosis erhalten. In europäischen Ländern sind diese Zahlen höher: 54 % sind vollständig geimpft, fast 58 % haben mindestens eine Dosis erhalten. In der Ukraine erreichen diese Zahlen nur 15,3 % bzw. 18,9 %.

Unterdessen bestätigen die Statistiken der Krankenhauseinweisungen in der Ukraine eindeutig die Wirksamkeit von Impfungen gegen COVID-19. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die ins Krankenhaus kommen, hat keine einzige Dosis eines Impfstoffs erhalten.

Quarantäne-Beschränkungen werden verschärft. Am 21. Oktober änderte die Regierung die Regeln zur Beförderung von Passagieren während der Quarantäne. Das Einsteigen in Fernzüge ist jetzt nur noch möglich, wenn die Fahrgäste ein COVID-Zertifikat (Einzeldosis oder Vollimpfung), ein negatives PCR-Ergebnis oder einen COVID-19-Schnelltest (nicht älter als 72 Stunden) vorweisen können.

Am 15. Oktober wurde die Region Cherson als erste seit dem Lockdown im Frühjahr aufgrund der Ausbreitung von COVID-19 als “rote Zone” eingestuft. Und am 18. Oktober ereilte das gleiche Schicksal die Regionen Saporischschja, Odessa, Donezk und Dnipropetrowsk. Ab dem 23. Oktober wird auch die Region Sumy zu den “roten” gehören. Dies könnte schon bald auch für die Regionen Schytomyr, Luhansk, Lwiw, Mykolajiw, Riwne, Chmelnyzkyj und Tschernihiw gelten.