Russland hat mehr als 100.000 Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenzen zusammengezogen. Dies ist weiterhin ein wichtiges Thema in der politischen Debatte in der Ukraine. Kyjiw ist bewusst, dass Moskau versucht, Druck auf die Ukraine und den Westen auszuüben. Den Ukrainern ist auch klar, dass allein über 2000 Kilometer Grenze zu Russland schon eine große politische und militärische Herausforderung für das Land darstellen und die dort konzentrierten feindlichen Truppen eine Bedrohung sind. In einem Artikel der ukrainischen Zeitung NW wird die Lage an der Grenze zur Ukraine sowie die Beweggründe des Kremls analysiert. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Eskalation in einer schwierigen Zeit. Die Spannungen nehmen in einer sehr schwierigen Zeit zu: Es herrscht eine ungünstige epidemiologische Coronavirus-Lage, die Energiepreise sind hoch, an der Grenze zwischen Polen und Belarus gibt es eine Migrationskrise und Gazprom weigert sich, über einen weiteren Gastransit durch die Ukraine nach 2024 zu verhandeln. All dies verstärkt bei der internationalen Gemeinschaft die Sorge über das Vorgehen Russlands.
Doch die Ukraine ist für die jetzige Eskalation besser gerüstet als im Frühjahr, wo die Lage ähnlich war. So hat Kyjiw kürzlich eine Charta über strategische Partnerschaften mit den Vereinigten Staaten unterzeichnet, und Washington hat am 29. November bekräftigt, dass es einen Beitritt der Ukraine zur NATO unterstützt. Es geht auch um westliche technische Hilfe für die Streitkräfte der Ukraine.
Wie sieht die Konzentration russischer Truppen genau aus? Der Schauplatz an der Grenze ist etwas größer als noch zu Jahresbeginn. Die Ausrüstung und das Personal der Russen befinden sich nicht nur in unmittelbarer Nähe des ukrainischen Territoriums, sondern auch in einer gewissen Entfernung, um sich im Falle eines aktiven Vorgehens zusammenschließen zu können.
Derzeit stehen 115.000 russische Soldaten in den Regionen Belgorod, Woronesch, Rostow und Smolensk der Russischen Föderation sowie auf der von Russland besetzten ukrainischen Halbinsel Krim. Die größte Gruppierung, etwa 35.500 Mann, ist in der Region Rostow stationiert. Dies ist eine Armeegruppe des südlichen Militärbezirks, die aktiv mit den besetzten Gebieten im Donbass zusammenarbeitet. In den sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” gibt es nach Angaben der ukrainischen Streitkräfte über 2000 russische Militärs, die direkt an den Kampfhandlungen beteiligt sind, aber auch Experten, die Gruppen von Rebellen ausbilden.
Entlang der ukrainischen Grenze steht die 8. Gardearmee der Russischen Föderation, eine Reserve zur Unterstützung der militärischen Verbände im besetzten Donbass, sowie die 110. Division und die 20. Armee, die aus Nischni Nowgorod gekommen ist und ihr Hauptquartier in Woronesch aufgeschlagen hat. Die 4. Kantemir-Division ist aus der Stadt Jelnja (Region Smolensk) eingetroffen. Zudem hat das russische Verteidigungsministerium die 7. Luftlandedivision aus dem Nordkaukasus auf die Krim verlegt. Auch Belarus verlegt die 6. mechanisierte Gardebrigade an die Grenze zur Ukraine.
Die militärische Ausrüstung der russischen Armee konzentriert sich auf drei Truppenübungsplätze: Pogonowo in der Region Woronesch, Jelnja in der Region Smolensk und Opuk auf der Krim. Nach Angaben der Hauptabteilung für Aufklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums handelt es sich dabei um ein Bataillon von T-80U-Panzern, 1600 Stück Artillerie, 330 Flugzeuge, 240 Hubschrauber und um 75 Schiffe und sechs U-Boote im Schwarzen Meer.
Diesmal hat die russische Armee auch Neues dabei. So sind die gepanzerten Fahrzeuge mit sogenannten Hühnerställen ausgestattet – Eisenstangen, die auf den Dächern von Panzern und Schützenpanzern montiert sind. Sie sollen vor tragbaren Panzerabwehr-Raketensystemen vom Typ Javelin schützen, die die Ukraine von den Vereinigten Staaten erhalten hat.
Ferner hat Russland schwere Flammenwerfer-Systeme “Solnzepjok” (Sonnenhitze) an die Grenze zur Ukraine gebracht. “Dies ist ein Raketenwerfer, der nicht mit Splitterprojektilen wie die Systeme Grad (Hagel) und Uragan (Hurrikan) feuert, sondern mit einem Projektil, das massenhaft Feuer auf dem Boden verursacht”, sagte Ruslan Lewijew, Gründer der unabhängigen russischen Recherchegruppe Conflict Intelligence Team (CIT), die bewaffnete Konflikte anhand offen zugänglicher Daten analysiert. Demnach hatte Russland ähnliche Systeme in Syrien aktiv eingesetzt, da sie für offene und groß angelegte Konfrontationen besser geeignet sind.
Kann die Ukraine der Bedrohung standhalten? Selbst diese Konzentration von Kräften reicht nicht aus, um tiefgreifende Operationen in der Ukraine durchzuführen. Das sagte Serhij Shurez, Militärexperte und Direktor des ukrainischen Informations- und Beratungsunternehmens Defense Express.
Ihm zufolge muss für eine vollwertige, siegreiche Offensive die personelle Überlegenheit mindestens das Drei- oder sogar Sechsfache betragen. Die Russen würden davon ausgehen, dass im Donbass die Anzahl der Angehörigen der ukrainischen Armee bei 30.000 bis 35.000 Mann liege. Doch die Russen hätten dort viel größere Kräfte, so der Experte. Hauptsache sei: Die ukrainische Armee bestehe aus 235.000 aktiven Soldaten und 400.000 Reservisten, also würden 100.000 Russen für einen Sieg nicht ausreichen.
Ihor Kabanenko, Admiral und ehemaliger stellvertretender Verteidigungsminister der Ukraine, stimmt dem zu. “Wir richten alle Augen auf den Osten und den Norden, aber dort verfügt Russland nicht über eine dreifache Überlegenheit für eine strategische Bodenoffensive”, betonte er und fügte hinzu, dass ohne eine solche Überlegenheit eine Offensive an Land zum Abenteuer werden würde.
Darüber hinaus könne die ukrainische Armee inzwischen auch eigene Vorteile vorweisen: ein einsatzbereites Luftverteidigungssystem, effiziente Harris-Funkkommunikationssysteme, Bayraktar-Drohnen, Panzerabwehrwaffen vom Typ Stuhna und Kosar des staatlichen ukrainischen Herstellers Lutsch sowie Javelin-Raketensysteme.
Was will Putin erreichen? Zehntausende Soldaten und Hunderte Waffen sind nur die bedrohliche Kulisse für die wahren Absichten Russlands. Das meinen Experten, mit denen die Zeitung NW gesprochen hat. Das eigentliche Zielpublikum des Kremls sitze in Washington und Brüssel, wo sich das NATO-Hauptquartier befinde.
“Russlands will den Westen angesichts einer drohenden Invasion zu Zugeständnissen in der Ukraine-Frage zwingen”, sagte Andrij Sahorodnjuk, ehemaliger ukrainischer Verteidigungsminister. Er erläuterte, Russland wolle die Ukraine ausschließlich unter Moskaus Kontrolle sehen. “Für Russland ist unsere euro-atlantische Integration eine rote Linie.” Ein weiterer Grund sei die Pipeline Nord Stream 2. “Es besteht ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen Nord Stream 2 und der Truppenkonzentration”, so Sahorodnjuk.
Den Westen in der Ukraine-Frage zu provozieren, sei eine typische hybride Methode des Kremls. Erstens wolle Russland so schnell wie möglich eine Zertifizierung der Gasleitung Nord Stream 2 erreichen, die in Umgehung der Ukraine durch die Ostsee direkt nach Deutschland führt. Zweitens fürchte Moskau weitere Sanktionen des US-Finanzministeriums gegen seine Staatsschulden. Drittens habe Russland eine Reihe geopolitischer Interessen in vielen Teilen der Welt, wo es dem Westen gegenübersteht: Mit Frankreich in Afrika, mit der Türkei im Nahen Osten und im Kaukasus, mit den Vereinigten Staaten in Südamerika und der Europäischen Union auf dem Balkan.
“Russland versucht, seine globale Rolle zu behaupten, indem es droht, den Status quo überall auf der Welt zu jeder Zeit zu untergraben. Die russische Führung braucht eine globale Rolle, um ihre Unfähigkeit zu kompensieren, Russland durch interne Veränderungen wiederzubeleben”, sagte Lilia Schewzowa, eine russische liberale Politikwissenschaftlerin. In diese Taktik passe die Idee, an der ukrainischen Grenze regelmäßig Provokationen durchzuführen, auf die die ganze Welt mit Berichten in den internationalen Medien und Äußerungen führender Diplomaten aufmerksam machen würde.
Mykola Sunhurowskyj vom ukrainischen Rasumkow-Forschungszentrum, sieht drei Ziele der aktuellen Operation des Kremls: Demonstration der Stärke, Prüfung der Stimmung im Westen und Test der Idee, den Einfluss Russlands in der Ukraine mit Gewalt auszudehnen.
Nach Ansicht von Oleksij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, will Putin seit dem Genfer Gipfel im Juni 2021 schneller ein weiteres Treffen mit US-Präsident Joe Biden erreichen. Der Zeitung NW zufolge rechnet das ukrainische Präsidialamt zumindest mit einem Telefongespräch zwischen dem amerikanischen und russischen Präsidenten, bei dem auch das “Problem Ukraine” besprochen werden könnte. Dies könnte möglicherweise zu einer Deeskalation an der Grenze zur Ukraine führen.