“Ein Sieg der Gerechtigkeit”: Gericht in Italien spricht ukrainischen Nationalgardisten Witalij Markiw frei

Mit Spannung wurde diese Woche eine Entscheidung des Berufungsgerichts in Mailand im Fall des ukrainischen Nationalgardisten Witalij Markiw erwartet. Markiw hat die ukrainische und italienische Staatsbürgerschaft. Im Juli 2019 verurteilte ihn ein Geschworenengericht in der italienischen Stadt Pavia zu 24 Jahren Gefängnis. Er wurde für den Tod des italienischen Journalisten Andrea Rocchelli und dessen russischen Übersetzers, des Menschenrechtsaktivisten Andrej Mironow, im Donbass verantwortlich gemacht. Doch nun stellte das Berufungsgericht in Mailand am 3. November 2020 fest, dass Markiw unschuldig ist. Er wurde sofort aus der Haft entlassen und kehrte schon am nächsten Tag in die Ukraine zurück. Welche Bedeutung hat der Fall für die Ukraine?

Witalij Marikw (geb. 1989) zog 2003 mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Italien, wo er eine technische Hochschule absolvierte und die italienische Staatsbürgerschaft erhielt. Er arbeitete als DJ. Im Dezember 2013, während des Euromaidan, kehrte er in die Ukraine zurück und nahm aktiv an den Protesten teil. Er schloss sich als Freiwilliger dem Kultschyzkyj-Bataillon der Nationalgarde an. Im Frühjahr und Sommer 2014 kämpfte er in der Nähe von Slowjansk. Es war die Teilnahme an den Kämpfen, die die italienische Justiz veranlasste, Markiw zu verhaften. Er wurde beschuldigt, den italienischen Journalisten Andrea Rocchelli getötet zu haben.

Was wurde Markiw vorgeworfen und warum? Markiw wurde am 30. Juni 2017 in Bologna festgenommen. Seitdem befand er sich in Untersuchungshaft. Die Anklage beruhte auf Aussagen zweier Zeugen: des französischen Fotografen William Roguelon, der jenen Beschuss überlebte, und der freiberuflichen Journalistin Ilaria Morani, deren Artikel in der italienischen Zeitung “Corriere della Sera” zur Verhaftung von Witalij Markiw führte. Es gab jedoch viele Gründe, an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln: Roguelon änderte seine Aussagen mehrmals, und Morani konnte vor Gericht nicht beweisen, dass ein Gespräch mit Markiw, das ein angebliches “Geständnis” enthielt, wie sie es in ihrem Artikel darlegte, überhaupt stattgefunden hatte.

In der Anklageschrift hieß es, Witalij Markiw habe als “Kommandeur” der Nationalgarde am 24. Mai 2014 an 30 Mörserangriffen im Donbass am Fuße des Berges Karatschun teilgenommen, wo sich die Journalisten aufhielten. Laut Staatsanwaltschaft soll Markiw Angaben zu deren Aufenthaltsort an das ukrainische Militär weitergegeben haben, das dann angeblich Mörser auf sie abgefeuert habe. Dabei seien Andrea Rocchelli und Andrej Mironow getötet worden.

Die Opfer wurden vor Gericht von der Familie des Journalisten Rocchelli, dem Gewerkschaftsverband der italienischen Presse (FNSI), dem Regionalverband der Journalisten der Lombardei (ALG) und der von Rocchelli gegründeten Organisation “Cesura Lab” vertreten.

Markiw selbst bestritt nicht, dass er am 25. Mai 2014, dem Tag des Todes der Journalisten, als Teil seines Bataillons der Nationalgarde auf dem Berg Karatschun war. Dutzende von Fotos, die dort aufgenommen wurden, wurden in Markiws Tablet gefunden, das während seiner Verhaftung beschlagnahmt wurde. Der italienischen Staatsanwaltschaft zufolge sollen einige davon Markiws ständige Kampfposition wiedergegeben haben. Der Ort, so die Ermittler, an dem die Journalisten unter Beschuss geraten seien, sei von dort aus zu sehen. Zunächst berichtete die Presse, Markiw sei beschuldigt worden, er und seine Einheit der Nationalgarde hätten dort mit Mörsern geschossen. Später, als die Nationalgarde den Nachweis erbrachte, dass zu jenem Zeitpunkt keine Mörser im Einsatz gewesen waren, wurde der Verlauf der Ereignisse präzisiert.

Das Gerichtsurteil besagte, dass Markiw, der seinen Sektor am Fuße des Berges Karatschun beobachten sollte, die unbewaffneten Reporter gesehen und das Feuer mit einem Maschinengewehr eröffnete habe. Dann habe er das Mörserfeuer einer Einheit der ukrainischen Streitkräfte korrigiert.

Die Rolle der russischen Propaganda beim Urteil gegen Markiw. Die ukrainische Journalistin Olha Tokarjuk, die seit vielen Jahren den Fall Markiw beobachtet und an einem Film über ihn beteiligt war, glaubt, dass die russische Propaganda beim Urteil im Fall Markiw eine Rolle gespielt hat.

Viele Passagen des Untersuchungsmaterials sind offenbar direkt von der russischen Propaganda übernommen worden: Markiw wurde als “Rebelle illegaler Verbände” bezeichnet, die ukrainische Armee als chaotisch und inkompetent dargestellt und die Ukraine beschuldigt, bei der Aufklärung von Rocchellis Tod nicht kooperieren zu wollen. Diese Vorwürfe sind teilweise gerechtfertigt, denn der Ukraine gelang es 2014 und 2015 nicht, die Umstände schnell und gründlich zu untersuchen. Erst nach der Festnahme von Markiw schlug Kiew gemeinsame Ermittlungen vor, was dann von Italien aber ignoriert wurde. Die italienischen Staatsanwälte präsentierten ferner Artikel von russischen Propaganda- und Separatisten-Websites als Beweismittel vor Gericht.

Darüber hinaus war die Berichterstattung über den Fall in den italienischen Medien einseitig. In vielen Fällen präsentierten die Medien nur die Position der Staatsanwaltschaft. Dies führte in der italienischen Öffentlichkeit dazu, Ukrainer als gefährliche Rechtsradikale und Markiw als gnadenlosen Mörder zu betrachten.

Der Nährboden für diese Manipulationen war von der russischen Propaganda vorbereitet worden. Seit 2014 wurden ihre Thesen über einen “Bürgerkrieg” im Donbass, die “von Nazis angeführte” Ukraine und den “Staatsstreich” auf der Maidan von den italienischen Medien breit übernommen. Dieses verzerrte Bild der Realität hatte offenbar Einfluss auf die Entscheidung der Geschworenen.

Was waren die Argumente der Verteidigung? Markiws Verteidigung bestand darauf, dass die Vorwürfe absurd sind und es keine wirklichen Beweise gibt. Doch das unerwartet harte Urteil im Herbst 2019 veranlasste den ukrainischen Innenminister Arsen Awakow, sich dem Fall anzunehmen. Gerade er ist für die Nationalgarde zuständig, in der Markiw diente. Markiws Verteidigung und die Führung des ukrainischen Innenministeriums belegten, dass die Nationalgarde im Mai 2014 nur leichte Waffen besaß und Markiw keine Mörser “befehlen” konnte.

Ukrainische Ermittler führten zudem Dutzende Verhöre und Untersuchungen durch. Im August dieses Jahres erklärte Awakow schließlich, die ukrainischen Behörden hätten genug Beweise dafür, dass Markiw unschuldig ist. Dank den Vernehmungen von Soldaten der Nationalgarde, die zusammen mit Markiw dienten, konnte nach Angaben der Polizei die genaue Position bestimmt werden, an der der Angeklagte damals im Einsatz war. Und das war 1760 Meter von dem Ort entfernt, an dem die Journalisten starben. Demnach war es unmöglich, gezielte Schüsse mit einem Kalaschnikow-Gewehr abzugeben, über das Markiw verfügte. Außerdem war der Aufenthaltsort der Journalisten, eine Schlucht, von dort nicht einsehbar.

Laut der ukrainischen Polizei wurde ein junger Mann ausfindig gemacht, der wahrscheinlich mit den Journalisten und einem örtlichen Taxifahrer in jene Schlucht gesprungen sei. Der Taxifahrer berichtete, die ersten Schüsse am 24. Mai 2014 seien nicht vom Berg Karatschun aus abgefeuert worden, sondern von der Fabrik “Sews” aus, die sich unter der Kontrolle der prorussischen Separatisten befand. Auch führten die Ermittler eine Untersuchung der Tonaufnahmen eines Videos durch, das Rocchelli wenige Minuten vor seinem Tod in der Schlucht aufgenommen hatte. Dabei wurde festgestellt, dass auf die Journalisten nicht aus einer Entfernung von anderthalb Kilometern geschossen wurde, wo die ukrainischen Kräfte waren, sondern aus einer Entfernung von 200 bis 300 Metern, also aus der Entfernung jener Fabrik.

Freispruch, Freilassung und Rückkehr in die Ukraine. Die Berufung wurde in Mailand verhandelt und das dortige Gericht sprach den Nationalgardisten am 3. November 2020 vollständig frei. Am 4. November kehrte Markiw in die Ukraine zurück. Nach seiner Freilassung sagte er, dieser Tag sei für ihn der wichtigste Sieg gegen die Gemeinheiten der Propaganda, mit der nicht nur die Integrität, Würde und Ehre der Ukraine, sondern auch des ganzen ukrainischen Volkes besudelt werden solle.

“Ich kann es kaum glauben. Ich war auf das Schlimmste gefasst, aber habe auf das Beste gehofft. Ich hatte nur einen Wunsch und die Hoffnung, dass das italienische Gericht das Recht wirklich verteidigen wird”, sagte Witalij Markiw nach seiner Freilassung gegenüber “Radio Liberty”. Er dankte allen, die ihn während der Haft unterstützt haben, und betonte, den Italienern nicht böse zu sein, da nicht alle mit dem Urteil gegen ihn einverstanden gewesen seien.

Auch habe seine Haltung gegenüber Journalisten nicht gelitten, obwohl sein Fall gerade von Medien hochgespielt worden war. “Ich nenne grundsätzlich nicht den Namen der Person, die jenen Artikel über mich geschrieben hat. Aber es gibt Beispiele für ukrainische und ausländische Journalisten, die die Wahrheit geschrieben haben”, so der Nationalgardist.

Markiw fügte hinzu, er wolle seine Militärkarriere fortsetzen und sehe seine Zukunft in der Ukraine. “Ich habe mir vorgenommen, mich für die Helden einzusetzen, die für die Unabhängigkeit des Landes ihr Leben gelassen haben, und für diejenigen, die jetzt für sie kämpfen”, sagte er.

Zusammen mit seinen Anwälten will er nun eine Entschädigung von denen erreichen, die für drei Jahre Haft verantwortlich sind und “nicht nur die Nationalgarde, sondern die gesamte Ukraine besudeln wollten”.