Droht den NATO-Staaten eine bewaffnete Aggression Russlands? Warum sollte Europa eine Führungsrolle in Sicherheitsfragen des Kontinents anstreben und warum wäre die Ukraine in der NATO für das Bündnis von Vorteil?
Anlässlich des zweiten Jahrestages der umfassenden Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation haben wir mit Valeriy Chaly, dem Mitbegründer und Vorstandsvorsitzenden des Ukraine Crisis Media Center gesprochen. Er war Botschafter der Ukraine in den Vereinigten Staaten (2015-2019), außenpolitischer Berater des Präsidenten der Ukraine (2014-2015) und stellvertretender Außenminister der Ukraine (2009-2010).
Gegenstand des Gesprächs ist die Analyse der Entwicklung der geopolitischen Lage unter den Bedingungen des Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine, die Notwendigkeit der Konsolidierung der Partner der Ukraine bei der Bekämpfung der russischen Aggression, die Abhängigkeit der Entwicklung neuer bewaffneter Konflikte in der Welt von den Folgen und dem Zeitpunkt des Kriegsendes in Europa sowie Fragen der Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO.
Dieser Beitrag enthält die Hauptthesen von Valeriy Chaly aus dem Gespräch.
Die NATO muss für eine direkte Konfrontation mit Russland gerüstet sein
Der umfassenden Invasion der Russischen Föderation in die Ukraine ging in Wirklichkeit ein Ultimatum voraus, das Russland am 15. Dezember 2021 schriftlich stellte. Es richtet sich nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO und die USA. Auf dieses Ultimatum gibt es noch immer keine adäquate Antwort der Verbündeten. Russische offizielle Vertreter haben wiederholt betont, dass sie sich in einem Konflikt mit dem Westen und den NATO-Staaten sehen.
Es ist grundsätzlich falsch zu erwarten, dass die Ukraine die russischen Streitkräfte – sowohl die Armee, die Marine als auch die Luftstreitkräfte (einschließlich der strategischen) – im Alleingang wird vernichten können und andere europäische Länder so auf Kosten des heroischen Kampfes des ukrainischen Volkes selbst verschont bleiben.
Das ist eine Illusion. Die NATO-Staaten werden einer direkten Konfrontation mit Russland nicht aus dem Weg gehen können. Tatsächlich gab es schon entsprechende Zwischenfälle wie Attacken russischer Raketen auf das Territorium von Ländern der Allianz und Attacken mit Shahed-Angriffsdrohnen iranischer Herkunft. Auch in der Luft geriet man schon unter Einsatz russischer Flugzeuge aneinander, sowohl über Land als auch über dem Schwarzen Meer. Dieses Vorgehen Russlands hat noch zu keinen aktiven Maßnahmen der NATO geführt.
Wann wird das passieren? Es besteht kein Zweifel daran, dass die russische Führung und Putin persönlich ein One-Way-Ticket gezogen haben. Sie werden, sollte sich der Krieg zu einem Stellungskrieg entwickeln, angesichts einer gewissen Schwächung und mangelnder Bereitschaft der Partnerländer, die Ukraine zu stärken, zumindest eine Möglichkeit zu Provokationen gegen ein NATO-Land finden.
Eine weitere Bestätigung dafür ist ein aktuelles Interview des russischen Führers für ein amerikanisches Medium. Da sagte er etwas Neues, was er vorher noch nicht gesagt hatte. Im Wesentlichen äußerte er historische Ansprüche auf das Territorium von NATO-Staaten, insbesondere Polens. Er sagte, Polen habe Hitler zum Zweiten Weltkrieg provoziert. Obwohl dies völlig im Widerspruch zu den Urteilen des Nürnberger Prozesses und den historischen Fakten steht. Aber die Erwähnung der an Polen gefallenen Gebiete ist nicht nur ein weiterer historischer Aspekt. Dies ist ein sehr klarer Hinweis darauf, dass die Russen Pläne haben, NATO-Länder anzugreifen.
Wir werden noch sehen, um welches Land es sich handelt, ob es wirklich in Richtung Polen durch den Suwalki-Korridor gehen soll oder ob es sich, wie bereits in russischen Einsatzplänen erwähnt wurde, um eine Provokation an der Grenze zu Estland handeln soll. Aber dass dies wohl unvermeidlich ist und dass die Länder der NATO oder EU keine drei bis fünf Jahre für eine Vorbereitung haben, davon bin ich überzeugt. Deshalb muss die Ukraine jetzt gestärkt werden, um ein solches Szenario möglicherweise noch abzuwenden.
Die NATO-Staaten haben keine drei bis fünf Jahre Zeit, sich vorzubereiten
Russland wird den Moment nutzen, solange die NATO-Staaten und Europa noch nicht zur Konfrontation gerüstet sind, obwohl Europa bereits aufgewacht ist. Pläne für den Truppeneinsatz betreffen die nächsten drei bis fünf Jahre, beispielsweise den Einsatz einer mechanisierten Brigade der Bundeswehr in Litauen bis 2027. Putin und die russische Führung werden die Möglichkeit haben, diesen Moment auszunutzen.
Es wäre ein großer Fehler, davon auszugehen, dass die Ausweitung der russischen Aggression verschoben werden kann, solange in der Ukraine ein groß angelegter Krieg herrscht. Im Gegenteil. Wenn die Verteidigung ohne eine ausreichende Anzahl zusätzlicher Waffen für die Ukraine, ohne Langstreckenraketen und Flugzeuge weitergeht, ohne dass der Krieg in einen Bewegungskrieg verwandelt und es sich dann um einen Stellungskrieg ähnlich dem Ersten Weltkrieg handeln wird, dann wird Russland schon in naher Zukunft die Möglichkeit haben, diesen Moment auszunutzen.
Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem möglichen Angriff Russlands bereits zu Beginn des nächsten Jahres sprechen, in dem Zeitraum, in dem es in den Vereinigten Staaten eine Übergangszeit geben wird, vom Wahltag bis zur Amtseinführung des US-Präsidenten.
Es braucht eine neue Führung Europas in Sicherheitsfragen
In letzter Zeit gibt es mehr Hoffnungen auf eine europäische Führungsrolle. Großbritannien hat bewiesen, dass es die Ziele und Pläne des Angreifers am besten versteht, und unternahm unmittelbar nach der groß angelegten Invasion gemeinsam mit den USA die aktivsten Schritte zur Waffenversorgung der Ukraine. In Deutschland haben sich, wie wir sehen, kolossale Veränderungen bezüglich der Einstellung zur Sicherheit und zur russischen Aggression vollzogen. Das zeigt, dass die psychischen Folgen des Zweiten Weltkriegs inzwischen überwunden sind. Daher werden wir eine neue Qualität Deutschlands und eine neue Qualität Frankreichs erleben. Und andere europäische Länder sollten ihnen folgen.
Es entbehrt jeglicher Logik, dass die Europäische Union ihre Ziele aufgegeben hatte, in der künftigen Welt gleichberechtigt mit China und den USA zu konkurrieren. Die EU verfügt über alle wirtschaftlichen Fähigkeiten und wird in Zukunft auch über militärische und technische verfügen, um im Wettbewerb auf Augenhöhe zu bestehen. Wenn die EU durch die Ukraine weiter gestärkt würde, würde sie zusammen mit der Ukraine und der Republik Moldau einen Markt mit etwa 500 Millionen Verbrauchern bilden. In Europa gibt es zwei Atomstaaten, die Mitglieder der NATO sind. Vorausgesetzt einer richtigen inneren Entwicklung wird das eine Kraft sein, die die zu erwartende bipolare Konfrontation zwischen den USA und China brechen kann.
Die NATO wird von der Ukraine als Vollmitglied des Bündnisses profitieren
Bis 2014 glaubte ein großer Teil der Menschen in Europa, dass die Ukraine eine Pufferzone sein sollte. Nun verkündete Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban: Belassen wir die Ukraine als eine Pufferzone. Diese These klingt heute zynisch, denn die Pufferzone bedeutet, dass ukrainische Kinder und Frauen sterben müssen, während andere europäische Länder geschützt sind.
Die Ukraine war bereits eine solche Pufferzone, weil die Ukraine kein Mitglied der NATO war und nicht ist – und das hat den Krieg nicht aufgehalten. Die Ukraine als Puffer- und Grauzone trug nicht zur Wahrung der Sicherheit in Europa bei. Im Gegenteil, es war für Russland ein zusätzliches Argument, wie es glaubte, in diese Grauzone vorzudringen, wo es außer der Selbstverteidigung der Ukraine auf keinen kollektiven Widerstand stoßen würde.
Will die Ukraine in Zukunft eine solche Rolle als Pufferzone spielen? Die Antwort liegt auf der Hand. Die Ukraine wird Wege finden, aus dieser Falle herauszukommen, denn diese Falle hat uns bereits in den Krieg geführt. Wir haben in der Ukraine selbst eine sehr ernste interne Diskussion geführt. Wir sind in den 1990er Jahren Kompromisse mit Russland eingegangen. Wir haben die Errichtung einer russischen Basis auf unserem Territorium zugelassen, eigentlich entgegen unseren Sicherheitsinteressen. Nur um eine Kompromissbereitschaft zu demonstrieren. Stattdessen bekamen wir nicht nur den Krieg Russlands gegen die Ukraine, sondern sogar mit der Absicht, uns als Land und Volk völlig auszulöschen. Daher muss die Ukraine in der NATO sein – im gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsraum und nicht außerhalb.
Für die Beendigung des Krieges wäre es sehr wichtig, den richtigen Zeitpunkt für den NATO-Beitritt der Ukraine zu bestimmen. Wenn das Bündnis es wagen würde, jetzt eine politische Entscheidung zu treffen, wäre das ein sehr starkes Signal an den Kreml, dass historische Prozesse unumkehrbar sind. Vielleicht, ohne den Artikel 5 des Washingtoner Vertrags bereits heute auf die Ukraine auszudehnen, aber sagen wir, mit der Einladung der Ukraine, sich den politischen Strukturen des Bündnisses und dann nach dem Krieg auch den militärischen anzuschließen. Eine Formel kann man finden. Diese Entscheidung muss für die gesamte Ukraine, das gesamte Territorium, im Rahmen der international anerkannten Grenzen gelten.
Die Ukraine mit ihrer inneren Motivation, nicht nur die eigene Souveränität, sondern auch Europa zu verteidigen, ist ein großer Gewinn. Wird etwa jedes EU-Land mehr als eine Million Menschen aufstellen können, die bereit sind, ihr Leben für die Sicherheit Europas zu opfern? Das könnte, sagen wir, leicht in Frankreich oder Deutschland gehen. Vielleicht würden Polen oder andere Nachbarstaaten der Ukraine noch eine bessere Antwort finden. Denn sie spüren diese Gefahr stärker – so wie alle Länder, die sich zusammen mit der Ukraine an dieser vordersten Verteidigungslinie der Ostflanke der NATO befinden. Aber das sind kleinere Länder und sie sind nicht in der Lage, diese Verteidigung zu leisten.
Die Situation wird sich verändern. Finnland ist der NATO beigetreten, Schweden wird natürlich auch beitreten. Das ist eine starke Reaktion auf Putin, der mit katastrophalen Folgen gedroht hatte. Es wäre logisch, eine historische Entscheidung zu treffen, damit die Ukraine sich im System der kollektiven Verteidigung und nicht außerhalb befindet.
Wenn jemand Zweifel hat, sollte er sich an die weisen Worte von Henry Kissinger erinnern, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen werden sollte. Aber er hatte eigene Argumente. Aus seiner Sicht könnte eine starke Ukraine außerhalb der NATO möglicherweise nicht kontrolliert werden, und innerhalb des Bündnisses würde sich die Ukraine stärker an den gemeinsamen Zielen orientieren.
Abschließend noch ein Punkt, über den in der Öffentlichkeit nicht viel gesprochen wird. Leider ist es Fakt, dass überall dort, wo die Invasionsarmee und die Besatzungstruppen eindringen, ein Teil der Bevölkerung immer an gemeinsamen Aktionen der Eindringlinge teilnimmt. Darauf zählt man weiterhin in Russland. Als die Russen in die Ukraine kamen und dachten, sie würden mit Blumen begrüßt, wollten sie eigentlich, dass die Ukrainer sich ihnen anschließen und dann innerhalb einer millionenschweren Armee nach Europa ziehen. Allein die Tatsache, dass die Ukrainer eine andere Position eingenommen haben, macht diese Pläne vorerst unmöglich.
Den Krieg in Europa in die Länge zu ziehen, ist schlimmer, als das Problem jetzt zu lösen
Die Welt steht erst am Anfang einer Phase der Turbulenzen und der Entwicklung großer lokaler oder sogar regionaler militärischer Konflikte. Der Krieg gelangte auf unnatürliche Weise nach Europa, gerade wegen der kriminellen Taten und Fehler Putins und der herrschenden Elite Russlands. Es ist sehr schwierig vorherzusagen, wie und wo sich bewaffnete Konflikte entwickeln werden. Es besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass im Indopazifik, im Nahen Osten oder in Afrika neue Kriege ausbrechen. Je früher der Krieg in Europa endet und der Angreifer zur Verantwortung gezogen wird, desto mehr Möglichkeiten werden bestehen, Einfluss auf die Vermeidung regionaler Konflikte in anderen Teilen der Welt zu nehmen.
Entschlossene, vereinte Sofortmaßnahmen haben eine weitaus bessere Wirkung als die zeitliche Hinauszögerung von Reaktionen auf Bedrohungen. Aber solange es insbesondere in den entscheidenden Ländern der Welt keine politische Führung gibt, die den modernen Herausforderungen gerecht wird, werden wir uns vielleicht noch mehr als ein Dutzend Jahre in dieser Zeit der Kriege befinden. Wenn es eine konsolidierte, schnelle und kraftvolle Reaktion geben wird, kann diese Periode geopolitischer Turbulenzen erheblich verkürzt werden.
Frieden ist nicht garantiert. Ungestrafte Aggressionen führen zu neuen Versuchen. Nur kollektive Anstrengungen und eine starke Reaktion werden Ergebnisse bringen. Die Ukrainer stehen an der Spitze dieses Kampfes und zahlen den höchsten Preis für die Wiederherstellung des Friedens – mit dem Leben ihrer besten Soldaten, Männer und Frauen. Die demokratischen, friedliebenden Kräfte in der Welt müssen sich so weit wie möglich konsolidieren, ihre Durchschlagskraft im Kampf gegen Aggressoren unter Beweis stellen und sogar ihren kriminellen Absichten zuvorkommen! Man muss entschlossen und kraftvoll handeln! Man muss hier und jetzt handeln!