In den letzten Wochen ist deutlich geworden, dass die russische Pipeline Nord Stream 2 mit größerer Wahrscheinlichkeit fertiggestellt und in Betrieb genommen wird als noch im letzten Jahr gedacht, als die USA Sanktionen verhängten. Die wirtschaftlichen Interessen sowohl Russlands als auch Deutschlands sind klar, während die Ukraine weiterhin darauf besteht, dass die Inbetriebnahme der Pipeline eine Gefahr für die Ukraine und die gesamte Region darstellt, da sie Russland freie Hand gegenüber der Ukraine gibt, durch die derzeit der Transit von Erdgas aus Russland verläuft. Warum ist es wichtig, den Bau zu stoppen, und welche Faktoren können dies beeinflussen?
Die über 1200 Kilometer lange Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland ist derzeit zu 95 Prozent fertig. Vor einem Jahr wurde der Bau dank US-Sanktionen gestoppt, aber die russische Seite nahm mit Zustimmung der deutschen Seite die Bauarbeiten allein wieder auf.
Für die Ukraine ist die Frage Nord Stream 2 von strategischer Bedeutung. Der russische Gastransit bringt der Ukraine jährlich drei Milliarden US-Dollar ein. Aber es geht nicht nur ums Geld: Für die Ukraine ist Energiesicherheit wichtig, ein Sicherheitsschild, das gerade das ukrainische Gastransportsystem darstellt. Schließlich wird Russland kein Land angreifen, das es mit einem Absatzmarkt seines Erdgases verbindet.
“Kontraproduktiv”: Keine US-Sanktionen gegen Betreiber von Nord Stream 2. Diese Woche bekräftigte US-Präsident Joe Biden die frühere Entscheidung seiner Regierung, keine Sanktionen gegen den Betreiber von Nord Stream 2 zu verhängen. Laut CNN gab Biden am 25. Mai im Weißen Haus eine entsprechende Erklärung ab. “Ich war von Anfang an gegen Nord Stream 2”, sagte der Präsident. Doch er fügte hinzu, das Projekt sei fast abgeschlossen gewesen, noch bevor er ins Weiße Haus eingezogen sei. Es wäre “kontraproduktiv” für die Beziehungen der USA zu Europa, jetzt weiterhin Sanktionen zu verhängen.
Damit machte die Biden-Administration deutlich, dass sie der Einheit mit den europäischen Verbündeten, insbesondere Deutschland, das an der Fertigstellung der Pipeline interessiert ist, Priorität einräumt. Doch dies verstärkt nun die Spannungen zwischen dem Weißen Haus und dem Kongress erheblich.
Außenministerium der Ukraine: Gasleitung durch die Ukraine hält russische Aggression auf. Der Ukraine ist unterdessen klar: Sollte Nord Stream 2 fertiggestellt werden, wäre dies nicht nur eine Herausforderung für die Wirtschaft der Ukraine, sondern auch für die Sicherheit des Landes, da die bestehenden Gasleitungen, die durch die Ukraine führen, ein Faktor sind, der die russische Aggression eindämmt.
Dies machte jüngst der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in einem Interview für den ukrainischen Radiosender “NW” deutlich. “Das Projekt Nord Stream 2 ist, wenn es fertiggestellt wird, nicht nur eine wirtschaftliche Herausforderung für die Ukraine, sondern auch eine hundertprozentige Herausforderung für die Sicherheits der Ukraine. Wenn die Notwendigkeit entfällt, die ganze Infrastruktur der Gasleitungen in der Ukraine aufrechtzuerhalten und zu schützen, dann wird dies zu einem zusätzlichen Anreiz für Präsident Putin sein, aggressiv vorzugehen”, sagte Kuleba. Ihm zufolge wird dieser Faktor in Europa unterschätzt.
Wahlen in Deutschland: Möglicher Faktor zur Veränderung der Situation. Ein Faktor, der die Haltung Deutschlands bezüglich der Pipeline beeinflussen könnte, sind die Wahlen zum Bundestag im Herbst dieses Jahres. Die Grünen, die sich aus einer Reihe von Gründen gegen Nord Stream 2 aussprechen, darunter aus Umweltschutzgründen, könnten nach den Wahlen Teil einer Regierungskoalition sein. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba und der Co-Vorsitzende der deutschen Partei Bündnis90/Die Grünen, Robert Habeck, der diese Woche zu einem Besuch in der Ukraine weilte, sprachen miteinander über die negativen Auswirkungen des geopolitischen Projekts Nord Stream 2 auf die Sicherheit und Stabilität in Europa.
“Was uns am meisten beunruhigt, ist, dass Nord Stream 2 zahlreiche Sicherheitsherausforderungen mit sich bringt. Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland das Projekt nach Abschluss der Bauarbeiten als Instrument zur Durchsetzung seiner geopolitischen Interessen nutzen wird, auch im Rahmen der Bemühungen im Normandie-Format und in der Trilateralen Kontaktgruppe. Es geht nicht nur um die Bedrohung der Sicherheit der Ukraine, sondern von ganz Europa”, betonte Kuleba am 25. Mai. Er betonte, dass die internationalen Partner der Ukraine ihre Bemühungen verstärken sollten, eine Fertigstellung von Nord Stream 2 zu verhindern.
Habeck zeigte sich im Namen von Bündnis90/Die Grünen mit der Ukraine in dieser Frage solidarisch. Der deutsche Politiker erklärte, dass sich seine Partei der Risiken des Projekts für Deutschland und Europa bewusst sei und seine Umsetzung ablehne.
Die Gesprächspartner diskutierten separat die Sicherheitslage im Donbass in der Zone des russisch-ukrainischen bewaffneten Konflikts. Kuleba stellte fest, dass Russlands Truppenabzug von der Grenze zur Ukraine die Spannungen teilweise reduziert, aber nicht zu einer Deeskalation geführt hat. “Der anhaltende Beschuss ukrainischer Stellungen aus den vorübergehend besetzten Gebieten in den Gebieten Donezk und Luhansk zeigt, dass die Gefahr weiterer aggressiver Aktionen Russlands nicht gebannt ist”, sagte er.
Am 24. Mai hatte sich Habeck mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj getroffen. Die Seiten sprachen über den Verlauf des Wahlkampfs in Deutschland.
Nach Fertigstellung der Pipeline weniger Hebel der EU gegenüber Russland. Laut Jonathan Hackenbroich und Kadri Liik vom European Council on Foreign Relations wird die Bereitschaft Berlins, Nord Stream 2 fertigzustellen, den Einfluss Deutschlands und der EU auf Russland verringern. Dies geht aus einem Artikel des internationalen Think-Tanks hervor, der in ukrainischer Übersetzung bei der ukrainischen Webzeitung “Jewropejska Prawda” (Europäische Wahrheit) erschienen ist.
Solange der Kreml davon ausgeht, dass wirtschaftliche Interessen die entscheidende Rolle in den Beziehungen spielen, wird er keine Notwendigkeit sehen, seine Position bezüglich des Donbass zu ändern, trotz aller Bemühungen Deutschlands und Frankreichs im Normandie-Format. Sollte der Kreml jedoch nicht mehr damit rechnen können, dass “die Wirtschaft alles lösen wird”, dann könnte sich seine Haltung ändern.