Diese Woche fand das lang erwartete Treffen zwischen den Präsidenten der Ukraine und der USA statt. Doch Kiew und Washington durchlaufen nicht die beste Phase ihrer Beziehungen. Die Unterstützung der USA für Deutschland bezüglich Nord Stream 2 und die Ablehnung, sich für einen Membership Action Plans (MAP) der NATO einzusetzen, irritieren die Ukraine. Zugleich ist Washington mit dem Stand der Reformen in der Ukraine nicht zufrieden, was für Kiew unangenehme Folgen haben könnte. Zudem fand das Treffen in einer für die USA schwierigen Zeit statt: vor dem Hintergrund der Evakuierung amerikanischer Truppen aus Afghanistan und des Hurrikans Ida, der an der Ostküste der USA tobte. Was wurde bei dem Treffen erreicht und wie werden die Ergebnisse in der Ukraine bewertet?
Für ihren Besuch in den USA hatte die ukrainische Delegation an zwei Tagen bis zu zwei Dutzend Veranstaltungen und Treffen geplant – von einem Besuch beim US-Energieministerium bis zur Präsentation eines Plans zur Transformation der Ukraine. Es gab auch Termine wie die Kranzniederlegung am Holodomor-Memorial oder der Besuch des bekannten Nationalfriedhofs Arlington. Das wichtigste Treffen war natürlich das zwischen den beiden Präsidenten.
Der ukrainischen Delegation gehörten Außenminister Dmytro Kuleba, Verteidigungsminister Andrij Taran, Energieminister Herman Haluschtschenko, der Vorsitzende von Naftogaz Ukrainy, Juri Witrenko, der Minister für digitale Transformation Mychajlo Fedorow, der Leiter des Präsidialamts Andrij Jermak, der stellvertretende Außenminister Andrij Sibiha, der Protokollchef Ihor Brusylo und andere an.
Das Treffen der Präsidenten dauert länger als erwartet. Die Gespräche zwischen Selenskyj und Biden wurden zunächst im Rahmen der Delegationen und dann unter vier Augen durchgeführt. Statt der geplanten 40 Minuten dauerten sie etwas mehr als zwei Stunden.
Außenminister Dmytro Kuleba sagte nach dem Treffen: “Statt der vorgesehenen Zeit dauerte das Gespräch zwischen den Präsidenten der Ukraine und der USA zwei Stunden. Die Präsidenten haben unsere Beziehungen auf ein neues Niveau gehoben.”
Oleksandr Krajew, Experte des Außenpolitischen Rates “Ukrainisches Prisma”, sagte dem Sender Hromadske in diesem Zusammenhang: “Die klassische Diplomatie sagt, dass, wenn ein geplantes Treffen unerwartet länger dauert, es entweder Anknüpfungspunkte gibt, die die Arbeit vorantreiben, oder Problempunkte gefunden wurden, die besprochen werden müssen. Beides ist für uns von Vorteil.”
Gemeinsame Erklärung. Die Gemeinsame Erklärung zur strategischen Partnerschaft zwischen der Ukraine und den USA ist ebenfalls etwas länger ausgefallen als erwartet. Sie besteht aus fünf Blöcken: Sicherheit und Verteidigung; Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenrechte; Energiesicherheit und Klima; Wirtschaftswachstum und Wohlstand; Pandemie-Bekämpfung und humanitäre Hilfe. Die Erklärung bekräftigt die bereits getroffenen Vereinbarungen (zum Beispiel das Rahmenabkommen im Bereich Verteidigung) und enthält neue (zum Beispiel 12,8 Millionen US-Dollar an Finanzhilfe für die Ukraine zur Bekämpfung der Pandemie).
“Unsere Beziehungen sind ein Eckpfeiler für Sicherheit, Demokratie und Menschenrechte in der Ukraine und in der gesamten Region. Wir unterstützen die tiefgreifenden und umfassenden Reformen, die erforderlich sind, um die europäischen und euroatlantischen Bestrebungen der Ukraine zu verwirklichen … Ihr Erfolg ist von zentraler Bedeutung für den globalen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie”, heißt es in der gemeinsamen Erklärung.
Serhij Sydorenko von der ukrainischen Zeitung “Jewropejska Prawda” (Europäische Wahrheit) betont, dass der Text im Vorfeld zwischen Kiew und Washington abgesprochen worden sei und sich nach dem Treffen der Präsidenten kaum verändert habe. Dies sei wichtig. Somit spiegele das Dokument nicht die tatsächlichen Ergebnisse der Selenskyj-Biden-Verhandlungen wider, sondern vielmehr die kollektive Meinung der amerikanischen Regierung über die Ukraine. Es zeige auch die wichtigsten Erwartungen an die Ukraine, die Kiew damit öffentlich bestätige.
Energiesicherheit und Nord Stream 2. Die Geschichte mit der russischen Gasleitung ist nach dem amerikanisch-deutschen Abkommen für Washington scheinbar schon gelaufen. Doch Kiew glaubt, dass es immer noch möglich ist, die Fertigstellung der Ostseepipeline zu verhindern oder zumindest die Risiken zu minimieren.
“Es kann durchaus auch Meinungsunterschiede zwischen strategischen Partnern geben, zwischen zwei Ländern, die in vielen Punkten zusammenarbeiten”, sagte diplomatisch der ehemalige US-Botschafter in der Ukraine, William Taylor. Ihm zufolge glaubt der US-Kongress ebenso wie die Ukraine nicht daran, dass Nord Stream 2 unumkehrbar sei. Der Kongress versuche, die Pipeline mit Sanktionen zu stoppen.
Es war symbolisch, dass sich Selenskyj während seines Besuchs in den USA mit der US-Energieministerin Jennifer Granholm traf. Sie hatte ihr Land beim Gipfel der Krim-Plattform in Kiew vertreten und sich dort am Vorabend des 30. Jahrestages der Unabhängigkeit der Ukraine mit dem deutschen Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Peter Altmaier, und dem ukrainischen Energieminister Herman Haluschtschenko getroffen, um über Nord Stream 2 zu sprechen.
Während ihres Treffens in den USA unterzeichneten Granholm und Haluschtschenko nun ein Kooperationsabkommen, das unter anderem eine Diversifizierung der Energiequellen beinhaltet, um die Energiesicherheit der Ukraine zu gewährleisten. Die Parteien verhandeln zudem über den Bau eines Reaktorblocks im ukrainischen Kernkraftwerk Chmelnyzkyj.
Unterdessen stellt die gemeinsame Erklärung klar, dass die Ukraine und die USA eigentlich nach wie vor gegen die Pipeline Nord Stream 2 sind. Sie wird als Bedrohung für die europäische Energiesicherheit betrachtet. “Die USA beabsichtigen, gesetzliche Maßnahmen zu verlängern und eine Energie-Diplomatie anzuwenden, unter anderem durch die kürzlich erfolgte Ernennung eines Beraters für Energiesicherheit, um die Transitrolle und die Versorgungssicherheit der Ukraine während dieser Übergangszeit im Energiebereich aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass der Kreml Energie als geopolitische Waffe einsetzt. Die Regierungen der Ukraine und der USA unterstützen die Bemühungen, die Kapazität zur Gasversorgung der Ukraine aus diversifizierten Quellen zu erhöhen”, so die Erklärung.
Verteidigung und Sicherheit. Während des Besuchs der ukrainischen Delegation in den USA unterzeichneten die Verteidigungsminister beider Länder, Lloyd Austin und Andrij Taran, eines der wichtigsten Abkommen zwischen beiden Ländern: Über die strategischen Grundlagen der Verteidigungs-Partnerschaft. Das Abkommen über fünf Jahre sieht eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen den Verteidigungsministerien beider Länder in den Bereichen Cybersicherheit, Sicherheit der Schwarzmeerregion und Geheimdienste sowie Reformen des Verteidigungssektors vor.
Darüber hinaus haben die USA ein neues Sicherheitspaket in Höhe von 60 Millionen US-Dollar angekündigt, das Anti-Panzer-Raketen vom Typ Javelin und andere tödliche und nichttödliche Verteidigungsausrüstung umfasst, die es der Ukraine ermöglichen wird, sich effektiver gegen die russische Aggressionen zu verteidigen, heißt es in der gemeinsamen Erklärung.
Die Ukraine und die USA vereinbarten auch einen Informationsaustausch im Bereich moderner Technologien und beim Zoll, die Einrichtung eines sicheren Kommunikationskanals und die Zusammenarbeit im Luft- und Raumfahrtbereich.
Plan zur Transformation der Ukraine. Während seines Besuchs stellte Präsident Selenskyj auch einen Plan zur Transformation der Ukraine vor, ein zehnjähriges Projekt im Wert von bis zu 30 Milliarden US-Dollar. Es soll helfen, das Land in ein Zentrum für Energie, Landwirtschaft und IT sowie in einen Sicherheits-Vorposten zu verwandeln. Der ukrainische Präsident präsentierte seinen Plan in Mount Vernon, dem Anwesen des ersten US-Präsidenten George Washington, das heute ein Museum ist.
Selenskyj sagte, der Plan zur Transformation der Ukraine umfasse mehr als 80 Projekte im Wert von insgesamt 277 Milliarden US-Dollar. Es gehe darum, internationale Hilfsprogramme, Kredite und Investitionen zu gewinnen. Der Präsident betonte, er hoffe, dass sich amerikanische Partner “aktiv an der Umsetzung dieses ehrgeizigen Plans beteiligt werden”.
Konkrete Schritte zur Umsetzung dieses Plans sollen im Herbst vorgestellt werden, vor einer Sitzung der Kommission für strategische Partnerschaft unter Leitung des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba und seines amerikanischen Amtskollegen Antony Blinken. Diese Kommission hat seit 2018 nicht getagt. Allein dies, sowie die Tatsache, dass der “Transformations-Plan” in der gemeinsamen Erklärung von Selenskyj und Biden erwähnt wird, zeigt, dass Washington dieser Initiative zugestimmt hat.
NATO. Gleichzeitig gibt es aber auch deutliche Schwachpunkte: Die gemeinsame Erklärung zwischen der Ukraine und den USA offenbart, was der Zeitung “Jewropejska Prawda” zufolge schon seit Monaten in diplomatischen Kreisen gemunkelt wird, dass die jetzige US-Administration derzeit nicht bereit ist, konkrete Schritt für eine Annäherung der Ukraine an die NATO zu ergreifen.
In der gemeinsamen Erklärung im Abschnitt mit dem Titel “Unterstützung der euroatlantischen Bestrebungen der Ukraine” sprechen die USA vom “Recht der Ukraine, einen außenpolitischen Kurs zu wählen … einschließlich der Bestrebungen der Ukraine, der NATO beizutreten”. Washington verspricht abstrakt “Hilfe für die Ukraine bei der Durchführung von Reformen”.
Gleichzeitig wird eine Unterstützung für einen Membership Action Plan (MAP) der NATO für die Ukraine nicht genauer erwähnt – auch keine Unterstützung auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft. Es fehlt auch die Standardformulierung “eines Tages wird die Ukraine der NATO beitreten”. Der Ukraine ist klar, dass einige Spitzenvertreter innerhalb der US-Regierung eine weitere Annäherung der Ukraine an die Allianz skeptisch sehen.
Dabei hatte Kiew geplant, gerade dieses Thema zu einem der wichtigsten in den Gesprächen zu machen. “Kiew wollte herausfinden, warum die US-Regierung so vorsichtig ist: Will man Putin nicht verärgern? Will man die Interessen der Ukraine erneut opfern, um Meinungsverschiedenheiten mit europäischen Partnern wie Deutschland zu vermeiden? Oder ist es etwas anderes?”, fragt sich Serhij Sydorenko von der “Jewropejska Prawda”. Er fügt hinzu, noch sei unbekannt, welche Antworten Selenskyj von Biden bekommen habe.
Auf einer Pressekonferenz in Washington bestätigte Selenskyj lediglich, seinem US-Kollegen diese Fragen gestellt und die USA zu einer aktiveren Rolle gedrängt zu haben. Gegenüber Journalisten sagte Selenskyj: “Wir haben viel darüber gesprochen. Wir haben dem Thema NATO viel Zeit gewidmet. Wir haben Argumente, über die wir noch nicht gesprochen haben … Ich glaube, der Präsident unterstützt die Ukraine, was eine NATO-Mitgliedschaft angeht, aber wie der Weg dorthin aussehen wird, ist mir schwer zu sagen.”
Bewertung der Ergebnisse des Treffens. “Das Treffen verlief in einer normalen, produktiven, nicht immer sonnigen Atmosphäre, aber wie in einem Gespräch zwischen Männern”, sagte Selenskyj über das Treffen mit Biden. In Bezug auf Nord Stream 2 sprach Selenskyj von einem “großen Sieg”, von Garantien für US-Sanktionen gegen die russische Pipeline, sollte Russland “der Ukraine Energieprobleme bereiten”.
Positive Einschätzungen gab es auch von Experten und Diplomaten. “Im Allgemeinen denke ich, dass das Treffen positiv war. Es skizzierte die Schlüsselbereiche, die in unserem nationalen Interesse liegen. Obwohl ich nicht glaube, dass es allzu freundlich verlief”, erklärte Wolodymyr Ohrysko, ukrainischer Außenminister zwischen 2007 und 2009, gegenüber der ukrainischen Zeitung “NW”. Ihm zufolge haben die USA laut der gemeinsamen Erklärung eine klare Haltung was die besetzten Gebiete im Donbass und die besetzte Halbinsel Krim angeht. Demnach werden die USA niemals die Annektion der Krim anerkennen. “Dies ist ein sehr ernstes politisches Signal, vor allem an die Russische Föderation, die immer noch hofft, dass vielleicht irgendwie Gras darüber wächst und dies in Vergessenheit gerät. Nein, man wird dies nicht vergessen. Und eine solche Formel ist wirklich eine sehr ernsthafte politische Unterstützung”, so Ohrysko.
Gleichzeitig sollte man die gemeinsame Erklärung nicht absolutieren, erklärte Aljona Hetmantschuk vom ukrainischen Zentrum “Neues Europa” gegenüber der “Jewropejska Prawda”: “Die US-Regierung hat noch nicht entschieden, wie stark sie sich an Donbass-Gesprächen beteiligen wird, wenn überhaupt. Selenskyj hat traditionell die ukrainische Vorstellung von einer US-Beteiligung vorgeschlagen … Einige Vertreter der Administration haben bereits gewisses Interesse an der Diskussion zu diesem Thema gezeigt, aber das Weiße Haus wird wahrscheinlich nicht bereit sein, dem Thema jetzt Priorität einzuräumen, da es weiß, dass es da keine schnellen Siege geben kann. Und eine weitere zweifelhafte außenpolitische Geschichte neben Afghanistan kann Biden nicht gebrauchen. Bidens traditionelle Angst, in einen neuen Konflikt hineingezogen zu werden, spielt auch gegen eine US-Beteiligung.